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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

773–774

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Borchers, Dagmar

Titel/Untertitel:

Freiheit trotz Zugehörigkeit. Über den Ausstieg aus kulturellen und religiösen Gruppen.

Verlag:

Paderborn: Mentis Verlag 2019. 391 S. m. Abb. u. Tab. Kart. EUR 59,00. ISBN 978-3-95743-151-6.

Rezensent:

Anne Koch

Der Band von Dagmar Borchers ist eine philosophische Habilitationsschrift, die 2008 der Universität Bayreuth eingereicht wurde unter dem präzisierenden Titel »Die Ausstiegsoption in der Multikulturalismusdebatte des Politischen Liberalismus« und die nun leicht überarbeitet erscheint. B. ist inzwischen Inhaberin des Lehrstuhls für Angewandte Philosophie, Universität Bremen, wo sie einen Master »Komplexes Entscheiden« verantwortet.
Eingeladen, aus religionswissenschaftlicher Perspektive den Band zu rezensieren, eröffnet sich die anspruchsvolle Schnittstelle von angewandter Philosophie, analytischer Philosophie des Entscheidungsverhaltens und Politischer Theorie mit der Kulturwissenschaft und die Aufgabe, die Resultate ins Gespräch zu bringen mit religionssoziologischen und religionspsychologischen Mo-dellbildungen zum Austritt aus religiösen, ideologischen, weltanschaulichen Gruppen.
Die Einführung macht deutlich, wie viel fragwürdig ist, sobald es um das »Recht auf Ausstieg« und die Rede von »kulturellen« geht. Die Multikulturalismusdebatte als Rahmen zieht bei Weitem nicht die Konsequenzen und nötigen Klärungen u. a. für das Spektrum an Gruppen und ihre spezifischen und tatsächlichen Optionen des Ausstiegs für Einzelne und Kollektive; die Frage, ob illiberale Gruppen durch die Ausstiegsoption geschwächt werden und ob nicht Druck oder Kontrolle auf Minderheiten in der Minderheit zunimmt (z. B. auf Frauen oder Homosexuelle) und welche Rolle dem liberalen Staat zukommen kann und soll, etwa um die Ausstiegskosten Einzelner aufzufangen.
Der erste Teil der Arbeit zur Ausstiegsoption im multikulturellen Staat und ihre Begründung in liberalen Theorien führt drei Theorievarianten aus: die klassisch liberale – vornehmlich anhand der Gewährsleute Will Kymlicka und John Rawls, die libertäre – wie u. a. von Chandran Kukathas – und die pluralistische wie bei William Galston.
Während philosophisch eingehendere Diskussionen zu angewandter Philosophie, Sozialphilosophie und politischer Theorie entsprechenden Rezensenten und Rezensentinnen überlassen werden, ist Teil II kulturwissenschaftlich besonders relevant, insofern hier der Kulturbegriff diskutiert wird, um zu klären, inwiefern ein Ausstieg aus einer kulturellen Gruppe überhaupt möglich sein könnte und was genau es bedeuten kann für eine individuelle Identität bzw. seine oder ihre Kultur, ab einem be­stimmten Ausstiegsmoment nicht mehr dazuzugehören. Im An­schluss an Jeremy Waldrons Kritik der J. G. Herderschen Kulturauffassung von Kultur als homogener, geschlossener Gruppe, wie sie in liberalen Theorien trotz Multikulturalismusdebatte häufig anzutreffen ist, und im Anschluss an Wolfgang Welschs Transkulturalismuskonzept wird ein Verständnis von Kultur eingebracht, dass diese als vernetzte Überzeugungen, Praktiken, Techniken sieht, und zwar in einem soziologischen Mehr-Ebenen-Modell von der Mikro- bis zur Makroebene – hier Schichtmodell genannt. Gegen die Konstellation eines Entweder-Oder von komplettem Ausstieg aus einer Kultur oder gar keiner Ausstiegsmöglichkeit aus basalen Bedürfnissen und Identität wird eine gestufte Zugehörigkeit (209) und analog ein Cluster von Ausstiegsvarianten (220) entwickelt. Aus der Perspektive bürgerlicher Grundrechte, die beim Ausstieg in Anspruch genommen werden (z. B. Religions-, Gewissensfreiheit), könne auch von einem »Widerspruch« gegen ein nicht mehr als verbindlich erachtetes Spezialethos einer Gruppe gesprochen werden anstatt von Ausstieg (229). Im Sinne der neuen Institutionenökonomik werden die Ausstiegsvarianten anhand eines Transaktionskostenmodells durchgespielt. Teil III zieht praktische Konsequenzen für Staat und Staatsbürgerschaft sowie theoretische für die liberale Debatte. Politische wie strukturelle Maßnahmen werden angeführt, die sich vor allem auf Minderheiten- und Bildungspolitik beziehen, wo es um eine Stärkung von Einzelnen geht im Sinne einer Einstiegsoption in zivilgesellschaftliche und pluralistische Räume, wo Unterstützung, eine gelebte Heterogenität und Freiheit erfahrbar werden, letztere z. B. auch dadurch, dass eine zweite Gerichtsbarkeit anrufbar ist.
In der Habilitationsschrift wurden religiöse Gruppen noch nicht im Titel hervorgehoben, doch nehmen sie einen festen Platz ein in Beispielen wie Zwangsheirat, Austritt aus religiösen Sondergruppen und z. B. als Referenz für eine sich global angleichende Wertekultur wie der Weltethos-Deklaration des Weltparlaments der Religionen 1993. Über Kosten des Ausstiegs aus religiösen Gruppen nachzudenken nimmt auch in der rational choice Religionssoziologie und Religionsökonomie einen wichtigen Platz ein (s. Rodney Stark, Roger Finke, Lawrence Iannaconne). Ausgehend von Paul Tillichs Unterscheidung in church und sect werden Kosten in so-genannten Sekten, also kleineren exklusiven Gruppen, als hoch angesehen (Stigmatisierung, Opfer, Ausschluss), da sie mit sozialen Einschränkungen in Bezug auf die Gesamtgesellschaft verbunden sind. Der Ausstieg ist vor diesem Hintergrund auch sehr viel teurer, da Sozialkapital in hohem Maße verloren geht und eventuell auch kein arbeitsmarktkompatibles Humankapital angeeignet wurde. Religionspsychologisch wird u. a. auf individueller Entscheidungsebene das Kult-Bedürfnis-Passungsmodell angeführt, um Mitgliedschaft wie Ausstieg zu erklären (z. B. Dt. Enquête-Kommission Sogenannte Sekten und Psychogruppen 1998, Sebastian Murken, Susan Namini).
Double religious belonging wäre ein weiteres interessantes Thema zur Vertiefung, das in Bezug auf Kultur auch erwähnt ist. Kulturwissenschaftliche Modernetheorien, in denen kulturtheoretische Erörterungen vorrangig in den letzten Jahren vorgenommen wurden, fehlen eher. Zumindest in einem Welsch-Zitat wird eine Dynamik wie die Hybridisierung angesprochen. Auch diskurs- und systemtheoretische Kategorien für Subjektivitätsformen und die Durchdringung von gesellschaftlichen partiellen Funktionssystemen sind nicht eigens referenziert. Der Kulturbegriff wird eng an die einschlägige Debatte und für die klar gefasste Fragestellung entwickelt. Das ist legitim, und zugleich könnten hier die Disziplinen sehr voneinander profitieren.
Die Schrift ist zu würdigen für ihre Forderung nach kultur- und anwendungstheoretischer Präzisierung im Reden über Kultur und Optionen im Entscheidungsverhalten, die eng an persönliche und Gruppenidentitäten gebunden sind, und führt selbst solche Präzisierungen äußerst umsichtig durch – sowohl konzeptionell wie auch im Bedenken der handlungspraktischen Folgerungen aus den Modellannahmen. Das in liberaler Theorie geforderte Recht auf Ausstieg wird somit gestärkt und es werden Wege aufgewiesen, wie Schutzfunktionen des Staates aussehen können, etwa auch gegenüber Kindern und Jugendlichen im Besonderen. Dass hier wie dort kaum »Resultate« angeführt werden im Sinne klarer Handlungsanweisungen, mag unbefriedigend erscheinen, liegt jedoch an der Beachtung der hohen situativen Abhängigkeit der Gruppentypen, Ausstiegsvarianten und -kosten sowie nationalen Rechts- und Verfassungsarten.