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Ausgabe:

September/2020

Spalte:

765

Kategorie:

Aufsätze

Autor/Hrsg.:

Michael Meyer-Blanck

Titel/Untertitel:

»Alles ist Gnade.«

Theologische Spuren im Menschenbild Theodor Fontanes1

Es soll Menschen geben, die täglich, zur Begleitung ihres Tageslaufes, ein Stückchen aus Theodor Fontanes Romanen oder aus seinen Briefen lesen – in Analogie zur täglichen Bibellektüre. Fontane eignet sich in der Tat als ein Vademecum, das – religiös gesprochen – Trost, Zuversicht und Mut zur Bewältigung des Alltags liefern kann. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Fontane zwar leidende, irrende und sündige, ja sogar vielfach tragisch scheiternde Menschen zeichnet, aber diese nicht trostlos, sondern in einer Perspektive der Hoffnung oder wenigstens im Modus des liebevollen Verständnisses schildert.

Nach Fontane liegt die Zukunft der von ihm scharf kritisierten, weil gnadenlosen Gesellschaft am Ende des 19. Jh.s im wahren Menschsein. Dies ist nicht durch den Egoismus, sondern durch die Liebe charakterisiert. Der junge Woldemar von Stechlin zitiert aus dem Gedächtnis seinen Erzieher Pastor Lorenzen:

»Unsre ganze Gesellschaft (und nun gar erst das, was sich im besonderen so nennt) ist aufgebaut auf dem Ich. Das ist ihr Fluch, und daran muss sie zugrunde gehen. Die Zehn Gebote, das war der Alte Bund; der neue Bund aber hat ein andres, ein einziges Gebot, und das klingt aus in: Und du hättest der Liebe nicht ...« (5,169)

Der Mensch ist nicht ganz geglückt – und das Leben ist trotzdem lebenswert. Diese bewusst sehr elementar formulierte Einsicht bildet den Hintergrund der Gestalten Fontanes und sie ist wohl – neben der meisterhaften Ironie im Plauderton – ein wichtiger Grund dafür, warum man die Romane Fontanes immer wieder gern zur Hand nimmt. Fontanes Figuren sind echte Menschen – und keine philosophischen, psychologischen oder soziologischen Prinzipienträger.

Der Mensch ist vom Schicksal gebeutelt, von leeren Konventionen eingeengt und von der eigenen Schuld geplagt – aber er ist der Liebe wert, der Liebe durch die anderen Figuren und vor allem der Liebe des geneigten Lesers und der geneigten Leserin. Man könnte geradezu an das Bibelwort 1Petr 4,8 denken: »Vor allen Dingen habt untereinander beständige Liebe; denn die Liebe deckt auch der Sünden Menge«.

Theologisch interpretierend kann man in Fontanes Werk eine Anthropologie der Rechtfertigung erkennen. Der Mensch kann nicht leben von seinen Taten, sondern nur von der Gnade, die ihm angesichts und trotz seiner Taten zuteilwird. In einer Theaterkritik zu Ibsens »Die Wildente« im Herbst 1888 widerspricht Fontane dem Ibsenschen Pessimismus unter expliziter Berufung auf die Bibel, die hier »nicht bloß trostreicher, sondern auch nachweisbar wahrer« entschieden habe. Fontane weiter:

»Wo wären wir, wenn es anders läge! Behandle die Menschen nach ihrem Verdienst, und selbst der Beste kommt an den Galgen. Wir erstickten, wenn nicht der Wind wäre, und solch Geist der Auffrischung zieht durch die Menschheit und hält sie bei Existenz. […] Die Gnade fällt der Vernichtung in den Arm, und wo Krankheit geboren werden sollte, blüht Gesundheit auf.« (1,348 f.)

Anders als es bisher in der theologischen Forschung zu Fontane gesehen wurde, scheint mir darum der zentrale Gedanke des evangelischen Christentums, die Rechtfertigungslehre, den Hintergrund des Fontaneschen Schaffens zu bilden. Diese These will ich im Folgenden begründen, indem ich zuerst einige Bemerkungen zur Rechtfertigungslehre und zu Fontane mache, bevor ich die Romane »Frau Jenny Treibel«, »Effi Briest« und »Der Stechlin« in den Blick nehme.


I Die Rechtfertigungslehre und Fontanes Christentum


1.

Die evangelische Rechtfertigungslehre besagt, dass der Mensch nicht nur seine verschiedenen Fehler hat, sondern dass er grundsätzlich nicht in Ordnung ist. Das Christentum ist eine Erlösungsreligion. Der Mensch kann sich zwar verbessern, bilden und er kann erzogen werden – und die Umstände für die Gestaltung der menschlichen Freiheit müssen entsprechend gestaltet werden. Einengende, doppelte Moral gefährdet die Freiheit und die Ehrlichkeit. Darum ist eine Gesellschaft zu fördern, in der Eigenverantwortlichkeit und gegenseitige Rücksichtnahme gedeihen können. Und dennoch bleibt der Mensch immer wieder hinter diesen Möglichkeiten zurück. Er kann sich aus dem eigenen Egoismus nicht selbst befreien. Leben bleibt Leben im Widerspruch. Man kann sich nicht selbst zum vollkommenen Menschen machen, weil man immer schon geliebt ist. Das Menschsein ist nicht abhängig von seinen Taten. Auch der beste aller Menschen ist nicht ganz geglückt. Der Mensch ist 1. fehlerhaft, 2. als fehlerhafter Mensch lebendig und er ist 3. als fehlerhafter Mensch liebenswert. Fontane schildert den Menschen in diesem Widerspruch.2

Mit Fontane könnte man sagen: Es ist normal, angeschlagen zu sein. Die Mehrheit der Protagonisten in Fontanes Romanen endet tragisch – Schach von Wuthenow oder Waldemar in dem Roman »Stine« sterben durch Suizid, Effi Briest noch nicht 40-jährig an unendlicher Traurigkeit. Fontane führt uns Menschen vor Augen, die schwer geschädigt sind durch die gesellschaftlichen Umstände und durch ihre eigenen Entscheidungen. Das Einzige, was bleibt, sind Gnade, Barmherzigkeit und Liebe. So ist der Mensch – nicht ganz geglückt. Die gesellschaftlichen Umstände sind daran beteiligt, aber sie sind nicht dafür verantwortlich. Die Fontaneschen Menschen sind angeklagt und bedürftig, vor Gott und den Menschen gnädig angesehen zu werden. Die Moral bleibt Theorie, das natürliche Leben ist voller Sünde. An den Schriftsteller Colmar Grünhagen schreibt Fontane im Oktober 1895:

»Ich war nie ein Lebemann, aber ich freue mich, wenn andere leben, Männlein wie Fräulein. Der natürliche Mensch will leben, will weder fromm noch keusch noch sittlich sein, lauter Kunstprodukte von einem gewissen, aber zweifelhaft bleibenden Wert, weil es an Echtheit und Natürlichkeit fehlt […], und dies ist wohl der Grund, warum meine Frauengestalten alle einen Knax weghaben. Gerade dadurch sind sie mir lieb, ich verliebe mich in sie, nicht um ihrer Tugenden, sondern um ihrer Menschlichkeiten, d. h. um ihrer Schwächen und Sünden willen.« (4,316)

2.

Gerade deswegen ist Fontanes Kirchlichkeit im höchsten Maße kritisch. Viele seiner eher liberalen Pastoren – wie Niemeyer in »Effi Briest« und der sozialdemokratisch inspirierte Pastor Lorenzen im »Stechlin« – sind geradezu das Gegenprogramm zu der Kirche, die sich Fontane real darstellt. In einem Brief an Georg Friedlaender schreibt er über die Kirche im Kaiserreich: »Alles Blech, alles ödeste Phrase, keine Spur von Natur, von Herz« – die Pfarrer seien weitgehend »Stümper noch mehr an Herz als an Geist« und ihr Interesse seien lediglich der Klingelbeutel und »das Wohlwollen hoher Vorgesetzter«3.

Urbild dieses Pfaffentums ist der Superintendent Koseleger im »Stechlin«, der schlecht zuhören kann, weil das Landleben unter seinen Möglichkeiten bleibt; er träumt von einer Karriere in der Hauptstadt und von einem würdigen Klingelschild mit der Aufschrift »Dr. Koseleger, Generalsuperintendent.« (5,189)

Und 1894 spricht Fontane von »schweifwedelnden Pfaffen, (die immer an der Spitze sind)« und von »Teufelskandidaten, die uns diese Mischung von Unverstand und brutalem Egoismus als ›Ordnungen Gottes‹ aufreden wollen.«4 Fontane will die Pfaffen am liebsten zum Teufel schicken und fügt entsprechend hinzu: »Sie müssen alle geschmort werden. Alles antiquiert!«5 In den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« hatte er sich dagegen deutlich positiver geäußert. Die dem Landpfarrer oft vorgeworfene »Unduldsamkeit« habe er selbst nie angetroffen – sondern vielmehr einen »Zug allgemeinen Wohlwollens, entsprossen aus der richtigen Würdigung einer auf Versöhnung und Liebe gestellten Berufs- und Lebensaufgabe«6.

3.

Fontanes persönliche Einstellung zum christlichen Glauben ist aus methodischen Gründen weniger von Interesse – schließlich fragen wir nach dem, was sich in seinem Werk ausspricht. Die darin vertretenen Auffassungen sind pluriform und man kann lediglich vermuten, dass Pfarrer Niemeyer in »Effi Briest« und Pfarrer Lorenzen im »Stechlin« Christenmenschen in seinem Sinne verkörpern sollen, die mit ihrer Liberalität und ihrer Kritik an gesellschaftlichen Denkweisen für den Umbruch der Zeiten stehen. Zudem habe ich mit den Briefstellen bereits biographisch argumentiert. Auf jeden Fall greift es zu kurz, Fontane unter einer einfachen Säkularisierungslogik lesen zu wollen.7

Am 5. Oktober 1870 war Fontane als Kriegsberichterstatter in Frankreich für einen Spion gehalten und verhaftet worden. Man hatte ihm als Gefangenem nach kurzem Verhör gesagt, am nächsten Morgen werde sich sein Schicksal entscheiden – »décidera votre sort«. Nachts hat er schwere Träume und fährt plötzlich auf dem Schlaf hoch – die Worte »décidera votre sort« gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Dann berichtet er weiter:

»Eine halbe Stunde lag ich so, vielleicht länger, ich weiß es nicht. Dann hatt’ ich mich mit der Gewissheit meines Schicksals auch wieder gefunden. Eine Fassung kam über mich, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte. Ich war fertig mit Allem und bat Gott, mich bei Kraft zu erhalten und mich nicht klein und verächtlich sterben zu lassen. Genug davon. War es Erschöpfung, oder war es die Ruhe vollster Ergebung – ich schlief wieder ein.«8

In der Gefangenschaft hilft er dann einem Mitgefangenen durch Reisegeld und kommentiert das so: »In solchen Zeiten empfindet man doppelt: gib, auf dass Dir gegeben werde«9. Auch auf das Tröstende an einem Gesangbuchvers von Paul Gerhardt kommt er in dieser Schrift zu sprechen.10 Und geradezu rechtfertigungstheologisch hatte er zu Weihnachten 1865 gedichtet: »Wenn das Wirtschaftsbuch nicht stimmt / Und das Debet das Credit überklimmt, / geben die alten Luther-Lieder / Trost und Contenance wieder.«11

4.

Man wird sagen können, dass Fontane von der kirchlichen Tradition – keinesfalls nur von der reformierten, aus der er stammte – geprägt wurde und dass er im Kaiserreich zunehmend kirchenkritisch, aber nicht glaubensfern wurde. Im Gegenteil: Mit seinen Pfarrergestalten hielt er der preußischen evangelischen Kirche, die in Äußerlichkeiten, kleinlichem Karrierismus und staatlicher Unterordnung gefangen war, den Spiegel vor. Der Mensch lebt nicht von seinen Verdiens-ten – diese würden ihn an den Galgen bringen. Er lebt allein von der Gnade. Dieses rechtfertigungstheologische Prinzip wird mit der implizierten Sympathieverteilung, die dem Leser zugespielt wird, in den Romanen geltend gemacht. Ich möchte das an drei seiner späten Romane zeigen.

II Der gerechtfertigte Mensch in »Frau Jenny Treibel«, »Effi Briest« und »Der Stechlin«


1.

»Frau Jenny Treibel« (erschienen 1892) ist der witzigste Roman Fontanes, eine bitterböse Komödie, die die bourgeoise Hohlheit der reichen Familie Treibel lächerlich macht: Frau Jenny Treibel hätte vor etlichen Jahren fast den Gymnasialprofessor Willibald Schmidt ge­heiratet – sie schwelgt darum immer noch in romantischen Gefühlen und äußert sich beredt zu ihrem Drang nach höheren geistigen Werten. Allein, inzwischen ist sie die reiche Kommerzienrätin Treibel und hat de facto nur ein Interesse: die Karriere ihrer Söhne und die Mehrung des Familienvermögens. Bei einem Diner singt sie das Lied, das dem Roman den Untertitel gegeben hat: »Wo sich das Herz zum Herzen find’t«. Allein die Liebe zählt – doch beim Lesen weiß man sofort: Für Frau Kommerzienrat Treibel, geborene Bürstenbinder, zählt allein das Geld.12 Es handelt sich somit um eine Karikatur, um das negative Gegenbild zum hohen Lied der Liebe von Pastor Lorenzen im »Stechlin« (s. o.). Jenny Treibel steht für das Verlogene des aufstrebenden Berliner Besitzbürgertums.

Gegenüber steht die Familie Schmidt – hohe, etwas verschrobene Ideale und Interessen, aber der eigenen Grenzen bewusst. Und hier in dem alten Professor Willibald Schmidt ist auch ein Stück von Fontanes präferierten Charaktereigenschaften zu erkennen – wenn sich nicht Fontane selbst in dem alten Schmidt porträtiert hat. Dieser ist wirklich an den geistigen Dingen interessiert – zurzeit ausschließlich an den gerade von Schliemann ausgegrabenen Goldmasken. Alles andere daneben ist sekundär. Willibald Schmidt ist trotz allem ein Egoist. Der Erzähler charakterisiert ihn so: »[…], denn er war ein liebenswürdiger Egoist, wie die meisten seines Zeichens, und kümmerte sich nicht sonderlich um die Stimmung seiner Umgebung, solange nichts passierte, was dazu angetan war, ihm die Laune direkt zu stören.« (3,346)

Doch das Liebenswürdige – und man sollte diesen Ausdruck Fontanes an dieser Stelle wohl im wörtlichen und empathischen Sinne verstehen – das Liebenswürdige liegt darin, dass Willibald Schmidt selbst davon weiß. Seinem Neffen Marcell erläutert er den Geist der Familie so:

»Aber das Schmidtsche setzt sich aus solchen Ingredienzien zusammen, dass die Vollendung, von der ich spreche, nie bedrücklich wird. Und warum nicht? Weil die Selbstironie, in der wir, glaube ich, groß sind, immer wieder ein Fragezeichen hinter der Vollendung macht.« (3,244)

An andrer Stelle geht es um das Schmidtsche Professorenkränzchen, zu dem u. a. die Kollegen Kuh und Rindfleisch gehören; dies trägt den Namen »Die sieben Waisen Griechenlands« – weil sich in dem Wort »Waise« so trefflich »a« und »e« verwechseln lassen. Die Begründung des Erzählers: Dieses »a« »verändere nicht nur mit einem Schlage die ganze Situation, sondern erziele sogar den denkbar höchsten Standpunkt, den der Selbstironie.« (3,226)

Mehrfach ist bemerkt worden, dass sich hier wahrscheinlich Fontane selbst kommentiert.13 Auf jeden Fall ist damit eine tiefe Lebensweisheit formuliert: Erst die reflexive Unterscheidung vom eigenen Selbst macht dieses sozial verträglich und persönlich er­träglich. Im Modus der Komödie präsentiert Fontane die theologische Einsicht, dass der Gerechtfertigte zur lebensfreundlichen Selbstdistanz befreit wird. Es darf gelacht werden. Der verliebte Neffe Marcell bekennt so seiner Corinna: »[…] ich habe da, wo mein Herz spricht, nicht das Bedürfnis, zu einem Engel zu sprechen, im Gegenteil, mich bedrücken Vollkommenheiten.« (3,353)

Das theologische Bekenntnis dagegen kommt etwas versteckt daher. Wie oft bei Fontane sind es die einfachen Menschen, die die höchsten Weisheiten aussprechen (vgl. Mt 11,24; Ps 8,3 f.). Hier ist es Schmidts Hausangestellte Schmolke, die zugleich die Ersatzmutter und Lebensberaterin Corinnas ist. Schmolke erzählt immer gern von ihrem verstorbenen Mann, dem Wachtmeister Schmolke, und predigt so das Evangelium:

»Aber wie der alte Pastor Thomas zu Schmolke un mir in unsrer Traurede gesagt hat: ›Liebet euch untereinander, denn der Mensch soll sein Leben nich auf den Hass, sondern auf die Liebe stellen‹ (dessen Schmolke un ich auch immer eingedenk gewesen sind) – so, meine liebe Corinna, sag ich es auch zu dir, man soll sein Leben nich auf den Hass stellen.« (3,345)

Rosalie Schmolkes Predigterinnerung verbindet übrigens in genialer Weise die sechste Antithese Jesu aus der Bergpredigt (Mt 6,43 f.) mit dem Liebesgebot aus den Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh 13,34 f.). Man merkt daran, dass Fontane ein eifriger Predigthörer gewesen ist – wovon er u. a. in einer Theaterkritik berichtete, in der er das dort, in der mehr oder weniger leeren Kirche, Gebotene mit dem Theater verglich. Dabei kam das Theater als »er­heblich unter einer Nachmittagspredigt« stehend weg.14

2.

Die reifste Form der Selbstironie und Lebensweisheit findet sich in der Figur des alten Dubslav von Stechlin in Fontanes letztem, erst posthum erschienenen Roman »Der Stechlin«. Passend zu Willibald Schmidt wird Dubslav von Stechlin so charakterisiert: »Paradoxen waren seine Passion. ›Ich bin nicht klug genug, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn’s andre tun; es ist doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.‹« (5,10)

Insbesondere das Kleine und Schwache findet das Interesse Dubslavs. In der Einleitung zu diesem Roman wird er mit einer kurzen, aber höchst aufschlussreichen Bemerkung charakterisiert: Vor dem Landschloss Stechlin standen »zwei Aloes, von denen die eine noch gut im Stande, die andere dagegen krank war. Aber gerade diese kranke war der Liebling des Schlossherrn, weil sie jeden Sommer in einer ihr freilich nicht zukommenden Blüte stand.« (5,9)

Mit der kranken Aloe wächst einfach eine andere Pflanze, deren Samenkorn der Wind dort vor langer Zeit hingeweht hatte und deren weiße und rote Dolden jetzt unter den »schon angegelbten« Aloeblättern aufschießen. Ich bremse mich, diese Stelle zu allegorisieren, aber sie steht in der Tat für die Liebe zum Fremden und Schwachen und für deren wunderhafte Schönheit. Gerade an dieser Stelle kann man wiederum die Tiefenwirkung der protestantischen Rechtfertigungslehre erkennen. Der Mensch ist nicht, was er ist, und nicht das, was er darstellt, sondern das, was ihm von außen zukommt.

Entsprechend ist es wiederum die Religion der Liebe, die im »Stechlin« maßgeblich ist. Ein Bruder im Geiste zu Dubslav von Stechlin ist der alte Graf Barby, der Vater der beiden Gräfinnen Armgard und Melusine. Graf Barby kritisiert das bornierte Christentum so:

»Es gibt so viele Menschen, die haben einen natürlichen Hass auf alles, was liebenswürdig ist, weil sie selber unliebenswürdig sind. Alle beschränkten und aufgesteiften Individuen, alle, die eine bornierte Vorstellung vom Chris-tentum haben – das richtige sieht ganz anders aus –, alle Pharisäer und Gernegroß, alle Selbstgerechten und Eiteln fühlen sich durch Personen wie Melusine gekränkt und verletzt, […].« (5,309)

Entsprechend formuliert seine Tochter Melusine im Gespräch mit Pastor Lorenzen das zentrale, aber leider immer wieder missachtete Prinzip eines selbstkritischen Christseins: »Demut erschrickt vor dem zweierlei Maß. Wer demütig ist, der ist duldsam, weil er weiß, wie sehr er selbst der Duldsamkeit bedarf; wer demütig ist, der sieht die Scheidewände fallen und erblickt den Menschen im Menschen.« (5,290)

Und schließlich ist es Pastor Lorenzen selbst, dessen undogmatisches liberales Christentum jene Demut verkörpert, die gegen alles Selbstgerechte und »Aufgesteifte« steht – so der bei Fontane häufiger verwendete kritische Begriff. Der junge Graf Woldemar von Stechlin liebt den alten Pastor, seinen ehemaligen Erzieher, aus tiefstem Herzen: »Ja, mein Lehrer und Erzieher. Zugleich mein Freund und Berater. Der, den ich über alles liebe.« (5,164) Als Melusine nachfragt, ob das nicht übertrieben sei, bestätigt er: »[…] ich liebe ihn sehr, weil ich ihm alles verdanke, was ich bin, und weil er reinen Herzens ist.« Hier formuliert Woldemar nach der 6. Seligpreisung aus der Bergpredigt: »Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen.« (Mt 5,8)

»›Reinen Herzens‹, sagte Melusine. ›Das ist viel. Und Sie sind sich dessen sicher?‹ – ›Ganz sicher‹«, antwortet Woldemar (5,164 f.). Die Liebe ist das Höchste. Als es auf dem Ausflug zum Eierhäuschen zu einem Gespräch über die Freiheit kommt, sagt Woldemar apodiktisch: »Freiheit! Was ist Freiheit gegen Liebe!« (5,170)

3.

Liebe – das ist schließlich auch Fontanes entscheidendes Wort in »Effi Briest«. Nach allem Leiden, kurz vor ihrem Tod, versöhnt sich Effi – wenn auch nur innerlich – mit ihrem geschiedenen Ehemann Instetten. Sie resigniert und gibt ihm in allem Recht – er habe unter den herrschenden Umständen eben nicht anders handeln können. Sie findet zu einer Art von resignativer Achtung für Instetten zurück. Und dennoch ist in diesem Gefühl ein letztes Aufbäumen, die traurige Klage über das Fehlen der Liebe: »Ja. Und es liegt mir daran, dass er erfährt, wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klargeworden, dass er in allem Recht gehandelt. […] Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.« (4,308 f.)

Hier drängt sich die dreimalige Wendung »und hätte der Liebe nicht« aus dem 1. Korintherbrief des Paulus geradezu auf (1Kor 13,1–3). Zur verzeihenden Liebe war Instetten nicht fähig. Das Einzige, wozu er sich bereitfand, war es, der kranken Effi den Hund Rollo zu überlassen. Roswitha, die katholische und in ihrer Jugend selbst mo­ralisch traumatisierte Hausangestellte Effis, hatte dazu einen Brief an Instetten geschrieben. Im Brief gibt Roswitha die Worte Effis wieder: »›Ich fürchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja, das ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, dass sich die Tiere nicht so drum kümmern.‹ Das sind die Worte der gnädigen Frau.« (4,301)

Instettens Ministerialkollege Wüllersdorf, der seinerzeit vor dem Duell den gesellschaftlichen »Ehrenkultus« als »Götzendienst« bezeichnet hatte (4,249), fällt zu Roswithas Brief nur noch ein Kommentar ein: »Die ist uns über.« (4,201) Das heißt: Nur der Hund kann vergeben – und die Hausangestellte kann darum bitten und das Ganze durchschauen. Instetten und Wüllersdorf wissen von ihrer eigenen Unfähigkeit, tun aber nichts dagegen – man denke an das paulinische »und hätte der Liebe nicht«.

Erst damit tritt das zutiefst Menschliche von Pastor Niemeyer in Hohen-Cremmen hervor. Als Effi dort wieder bei ihren Eltern ist, sitzt sie wie als Kind auf der Schaukel und ihr ist, als flöge sie in den Himmel. Niemeyer ist dabei und meint, sie sei immer noch wie früher. Da kommt Effi unvermittelt auf den Himmel Gottes zu sprechen. Niemeyer antwortet ohne Umschweife und ohne theologische Quisquilien oder Relativierungen. Diese ist die vielleicht stärkste seelsorgerliche Passage in allen deutschen Romanen: »›[…] mir war, als flög ich in den Himmel. Ob ich wohl hineinkomme? Sagen Sie mir’s, Freund, Sie müssen es wissen. Bitte, bitte …‹ – Niemeyer nahm ihren Kopf in seine zwei alten Hände und gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: ›Ja, Effi, du wirst.‹« (4,295)

Sehen wir schließlich noch einmal ganz an den Anfang des Ro­mans. Dort räumen die jungen Mädchen auf und versenken aus Jux ihre Stachelbeerschalen (die »Schlusen«) in einer steinbeschwerten Tüte im See. Dabei phantasieren sie die Versenkung von unglücklichen Frauen, die sich der Untreue schuldig gemacht haben – aber auch die Versenkung der Schuld selbst. Sie suchen dazu einen Trauergesang mit einem Reim auf »u« – das ist »immer Trauervokal«. Effi stimmt übermütig eine Litanei an: »Flut, Flut, / Mach alles wieder gut …«. Wenige Minuten später trifft sie Instetten und er hält um ihre Hand an.

Dieses Präludium enthält bereits die ganze Dramatik der Handlung. Wie die beiden Aloes vor dem Schloss Stechlin stellt Fontane seinem rundum traurigen Roman »Effi Briest« ein Hoffnungszeichen voran: »Mach alles wieder gut …«. Oder, wie es die Komtesse Armgard von Barby im »Stechlin« formuliert: »Man erringt sich nichts. Alles ist Gnade« (5,263).

Schluss


War Fontane ein Christ? Es gehört zum Kern der protestantischen Überzeugung, diese Frage nicht nur für unbeantwortbar zu halten, sondern auch für verfehlt. Ob einer ein gläubiger Mensch ist oder war, das entzieht sich der Selbst- und Fremdbeobachtung. Dieses Urteil hängt mit der Rechtfertigungslehre zusammen. Unser Christsein besteht nicht in unseren Taten – weder in unseren frommen Gedanken noch in unseren frommen Werken. Wir wollen die Frage nach Fontanes Glauben also auf sich beruhen lassen.

Aber am Schluss sollen Worte aus der Beerdigungspredigt von Pastor Lorenzen über Dubslav stehen. Dort geht es, theologisch nicht ganz korrekt, um die guten Werke des Verstorbenen – wie das in einer Beerdigungspredigt dann oft so der Fall ist. Wir dürfen aus dieser Predigt aber gewiss das Ideal Fontanes heraushören, das Ideal dessen, was einen guten, einen weisen und christlichen Menschen ausmacht. Wir hören den alten liberalen und sozialreformerischen Pastor Lorenzen über Dubslav von Stechlin und über die Seligpreisungen aus der Bergpredigt (Mt 5,3–10):

»Er hielt es mit den guten Werken und war recht eigentlich das, was wir überhaupt einen Christen nennen sollten. Denn er hatte die Liebe. Nichts Menschliches war ihm fremd, weil er sich selbst als Mensch empfand und sich eigner menschlicher Schwäche jederzeit bewusst war. Alles, was einst unser Herr und Heiland gepredigt und gerühmt und an das er seine Segensverheißung geknüpft hat – all das war sein: Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und die Lauterkeit des Herzens. Er war das Beste, was wir sein können, ein Mann und ein Kind.« (5,405 f.).

Abstract


The people in Theodor Fontane’s work are suffering, erring, sinful, constrained by conventions, and troubled by fate – in other words: his human beings are authentic human beings. And yet Fontane describes his characters from an at least sympathetic, sometimes even hopeful perspective. Christianly expressed one can formulate that the predominant thought of Christianity, the doctrine of justification, constitutes the background of Fontane’s characters. This article examines on the basis of the novels »Frau Jenny Treibel«, »Effi Briest«, and »Der Stechlin« Fontane’s ideal, with whom he contrasted the Prussian church in his day and according to which the mankind is loved out of divine grace despite all of its numerous and incorrigible flaws and the people themselves are ought to encounter their fellow human beings, bearing in mind their own humanity, kindheartedly and compassionately.

Fussnoten:

1) Öffentlicher Vortrag in der Universität Bonn am 4. Dezember 2019 (Dies Academicus).

Quellen: Fontanes Werke in fünf Bänden (Bibliothek deutscher Klassiker), Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1979 (im Text ohne weitere Angabe zitiert mit Band- und Seitenzahl); Theodor Fontane, Kriegsgefangen: Erlebtes 1870, Berlin 2016.

Empfohlene Sekundärliteratur: Eckart Beutel, Fontane und die Religion. Neuzeitliches Christentum im Beziehungsfeld von Tradition und Individuation, Gütersloh 2003 (PThK 13); Johannes Ester, Der selbstverständliche Geistliche. Un­tersuchungen zu Gestaltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes, Leiden 1975; Henry Holze, Theodor Fontanes Pfarrergestalten. Zum 175. Geburtstag am 30.12., in: DtPfBl 94 (1994), 574–576; Wilhelm Hüffmeier, »Alles ist Gnade«. Beobachtungen zu Kirche und Theologie bei Theodor Fontane, in: ZThK 95 (1998), 250–276; Ijoma Mangold, Mal Revolutionär, mal Reaktionär. Vor 200 Jahren wurde der große Schriftsteller Theodor Fontane geboren, in: DIE ZEIT Nr. 41 vom 2. Oktober 2019, 55–56; Michael Nüchtern, »Das neue Christentum ist gerade das alte«. Religion als Romanstoff bei Fontane, in: ZThK 95 (1998), 517–535; Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane, Reinbek 292018 [1968]; Hans Dieter Zim­mermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, München 2019.
2) Ijoma Mangold, Mal Revolutionär, mal Reaktionär. Vor 200 Jahren wurde der große Schriftsteller Theodor Fontane geboren, in: DIE ZEIT Nr. 41 vom 2. Oktober 2019, 55–56: »Fontanes Gedankenwelt hat uns so viel zu sagen, weil sie von jenen Ambivalenzen durchzogen ist, mit denen auch wir uns noch quälen. Er kann uns lehren, dass es zu einem bürgerlichen Leben gehört, mit Widersprüchen zu leben. Dass es keine allein selig machenden Wahrheiten gibt. Dass ein Leben reicher ist als ein doktrinärer Standpunkt. Dass man dem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein und doch am Alten hängen kann.«
3) Zitiert nach Wilhelm Hüffmeier, »Alles ist Gnade«. Beobachtungen zu Kirche und Theologie bei Theodor Fontane, in: ZThK 95 (1998), 256.
4) Zitiert nach Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane, Reinbek 292018 [1968], 148.
5) Ebd.
6) Johannes Ester, Der selbstverständliche Geistliche. Untersuchungen zu Gestaltung und Funktion des Geistlichen im Erzählwerk Theodor Fontanes, Leiden 1975, 3.
7) So treffend Michael Nüchtern, »Das neue Christentum ist gerade das alte«. Religion als Romanstoff bei Fontane, in: ZThK 95 (1998), 518.
8) Theodor Fontane, Kriegsgefangen: Erlebtes 1870, Berlin 2016, 21.
9) Ebd., 35, in Anspielung auf Lk 6,38.
10) Vgl. ebd., 36.
11) Zitiert nach Wilhelm Hüffmeier, »Alles ist Gnade«. Beobachtungen zu Kirche und Theologie bei Theodor Fontane, in: ZThK 95 (1998), 250–276.
12) Vgl. Hans Dieter Zimmermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, München 2019, 340.
13) Vgl. Kommentar in 3,383 sowie Hans Dieter Zimmermann, Theodor Fontane. Der Romancier Preußens, München 2019, 341.
14) Vgl. Wilhelm Hüffmeier, »Alles ist Gnade«. Beobachtungen zu Kirche und Theologie bei Theodor Fontane, in: ZThK 95 (1998), 267 f.