Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

623–624

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lied, Liv Ingeborg, and Marilena Maniaci [Eds.]

Titel/Untertitel:

Bible as Notepad. Tracing Annotations and Annotation Practices in Late Antique and Medieval Biblical Manuscripts.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XII, 156 S. m. 3 Abb. = Manuscripta Biblica, 3. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-060226-5.

Rezensent:

Franz Xaver Risch

Dem seit den 1970er Jahren lebhaft gewordenen Interesse (5 f.) an sekundären Einträgen und textuellen Informationen neben dem eigentlichen Text in Bibelhandschriften wurde im Dezember 2014 an der MF Norwegian School of Theology in Oslo eine internationale Tagung gewidmet. Auf sie geht ein großer Teil der Beiträge zurück, die in diesem Buch gesammelt sind, dem bereits dritten Band der von Martin Wallraff und Patrick Andrist betreuten Reihe Manuscripta Biblica.
Gegenstand sind die Handschriften von ganzen oder partiellen Bibeln aus 1700 Jahren (2). Sie stellen eine vielfältige Informationsquelle dar zur sozialen und kulturellen Geschichte des Lesens und Schreibens, aber auch des Produzierens und Überlieferns der Rollen und Codices (4 f.). Die Organisatoren haben klug darauf geachtet, dass neben griechischen und lateinischen Dokumenten auch he­bräische, syrische, koptische, georgische und äthiopische be­rücksichtigt werden.
Die Herausgeberin Liv Ingeborg Lied führt in die Forschungssituation ein, benennt dabei erste Gesichtspunkte zu einer Definition des in Frage stehenden Materials und gibt den Platz der Paratext-Forschung neben Kodikologie und Philologie an. Wir haben es also mit einer neuen Unterdisziplin der historischen Forschung zu tun.

Daniel K. Falk untersucht sehr detailliert Markierungen (Zeichen und Buchstaben) in Schriftrollen vom Toten Meer mit biblischen Texten, insbesondere der Großen Isaias-Rolle und den Psalmen, in Texten der Sekte zu Gemeinderegel und Bibelauslegung, und in Gebetstexten. Die Interpretation der Markierung, häufig strukturierende Paragraphen und Stellenmarkierungen, auch andere Aneignungsspuren, womöglich sogar Vortragszeichen, ist mit viel Unsicherheit belastet, zumal sie nicht in allen Rollen dieselbe Funktion haben (35), bezeugt jedoch eine lebhafte Nutzung der Texte, da mehrheitlich von Leserspuren ausgegangen werden kann. Textuelle Hinzufügungen sind seltener. Opisthographen als Beispiele für ein notepad anzusehen (37), ist eine eher großzügige Einstellung zum Thema.
Kipp Davis stellt einen faszinierenden Einzelfall vor. Gestützt auf Ergebnisse von E. Tov rekonstruiert er die Einfügung von Jer 7,30–8,3 in die Bruchstücke des Jeremias-Buches (4QJera), stellt aber nicht die übliche textgeschichtliche Frage, sondern versucht, Art und Weise der Einfügung aus ihrer pragmatischen Bedeutung für die Gemeinde und dem entsprechenden Status der Rolle zu erklären.
Paola Buzi bespricht einige der insgesamt seltenen Hinzufügungen in koptischen und koptisch-griechischen Codices des 4.–11. Jh.s, die u. a. als Dokumente der sprachlichen Identitätsfindung des Koptischen (Bodmer Papyri) oder seines Identitätsverlustes im Mittelalter erörtert werden können.
Jeff W. Childers stellt Manuskripte des Johannesevangeliums vor, die der Wahrsagerei dienten, indem einzelnen Stellen kurze Hermeneiai als Orakel beigegeben wurden, und führt anschaulich in einen seit dem 4. Jh. beliebten
Missbrauch der Bibel ein, wenn auch die genaue Handhabung noch nicht er­schlossen ist.
Die Herausgeberin Marilena Maniaci geht Einträgen in mittelalterlichen lateinischen Riesenbibeln nach, die auf Herstellung, jahrhundertelangen Gebrauch und Überlieferung hinweisen, aber auch historische wichtige Informationen ohne eine Beziehung zum Bibeltext und des Umgangs mit ihm bieten können. Auf Zeichnungen geht die Autorin leider nur kurz ein. Dennoch zeigt sich gerade an diesem Beitrag, dass Paratexte als Primärquellen der Geschichtsschreibung bedeutend sind.
Zu den Paratexten gehören auch gelehrte Anmerkungen und Vorarbeiten. Nurit Pasternak beschreibt die hebräische Bibliothek und ihre wissenschaftliche Nutzung von Giannozzo Manetti, dem einzigen Florentiner Hebraisten in der ersten Hälfte des 15. Jh.s (102).
Persönlicher wirken Notizen unterschiedlicher Art, die Adam Carter Bremer-McCollum in georgischen Bibeln im Katharinenkloster meist aus dem 10. Jh. aufgespürt hat. Sie geben unter anderem Aufschluss, und das zum Teil sehr konkret, über Leben und Psychologie der Mönche.
Loren T. Stuckenbruck und Ted M. Erho beschreiben kalendarische Markierungen in einer altäthiopischen Henoch-Handschrift (EMML 8400), die, aus jüngerer Zeit stammend, weniger auf tatsächlichen liturgischen Gebrauch deuten, als sie die Verehrung Henochs beleben wollen.

Der Band schließt, die einleitenden Ausführungen von Lied gleichsam vertiefend, mit sensiblen theoretischen Überlegungen von Patrick Andrist. Ausgehend von Arbeiten des Literaturtheoretikers Gérard Genette stellt er die Etablierung des Terminus »Paratext« in der aktuellen Forschung dar. Um ein möglichst scharfes Profil des Terminus zu gewinnen, unterscheidet er einen siebenfachen Sinn des Terminus »Text« und erörtert anhand der griechischen Handschriften des Neuen Testamentes den Unterschied von Paratexten, die der Buchproduktion angehören, und solchen, die nach der Produktion durch Leser oder Besitzer hinzugekommen sind. Es ist zu erwarten, dass dergleichen theoretische Anstrengungen, die ja nicht nur Phänomene klassifizieren, sondern den Blick schärfen, das Aufspüren und Interpretieren neuer Informationen anregen.
Natürlich sind in erster Linie solche Paratexte von Interesse, die nicht Verbesserungen des Bezugstextes darstellen oder die nicht allein als solche aufgefasst werden (z. B. Davis). Die Pionierarbeit der Buchforschung erzielt dabei so vielfältige Informationen, dass ein überblickendes Handbuch in naher Zukunft nicht ausbleiben darf. Ein besonderer Reiz geht von der Materialität des Einzelfalls aus. Konkreter kann Geschichte nicht entdeckt werden. Der engagierte Band, dedicated to the voices in the margins, macht Randfiguren zu wiederbelebten Zeugen.