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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

721–723

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Lebensalter. Eine theologische Theorie.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 238 S. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-06011-5.

Rezensent:

Rainer Kampling

Vorbemerkung: Die Lektüre dieses Buches fiel in die Zeit der Maßnahmen zur Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus. Dass diese besonderen Umstände nicht auch auf die Rezeption von Lebensalter. Eine theologische Theorie einwirkten, soll und kann nicht behauptet werden. Einiges erschien wie aus einer anderen Zeit, wenn etwa vom Verschwinden der Infektionskrankheiten die Rede ist, oder die Frage, welche Rolle zur Definition der Lebensalter die Zahl der Lebensjahre spielt. In nicht einmal einer Woche wurde aus einer in jeder Hinsicht wichtigen Bevölkerungsgruppe eine Risikogruppe, die einige einschließen wollten, und hinter manchen Beiträgen verbarg sich nur mühsam der Gedanke an Euthanasie. Allerdings wurden drei zentrale Thesen des Buches gleichsam in praxi belegt: Lebensalter ist ein Konstrukt, das durch sozio-kulturelle Kontexte definiert wird. Der Theologie kommt es zu, sich daran mit der ihr geschichtlich zugewachsenen Kompetenz zu beteiligen. Es sind die Schutz- und/oder Pflegebedürftigen und die, die dem Konsumismus nicht nützlich sind, die auch in dieser Krise zu den Verlierern gehören.
Christian Grethlein legt hier ein Buch vor, das sich mit Fragen beschäftigt, die ihn nach seinem Bekunden im Vorwort seit Langem umtreiben und mit Erfahrungen zu tun haben, die sein Leben prägten. Dieses persönliche Engagement zeigt sich nicht zuletzt in den theologischen Partien. Das Buch stellt gewiss einen Beitrag zur theologischen Anthropologie dar, aber G. gelingt es, diese mit einem schöpfungstheologischen Ansatz zu verbinden, durch den die Verwiesenheit und Verantwortung des Menschen in und für die Schöpfung bei allen Überlegungen und Analysen erinnert werden. Das Buch ist nach der Einführung in drei Hauptteile (Kontextuelle und theologische Grundlagen, Lebensalter, Abweichungen im Lebenslauf) geteilt, die jeweils wieder untergliedert sind. Unschwer erkennt man bereits am Inhaltsverzeichnis den didaktischen Charakter des Buches.
Die Einführung (11–28) enthält zwar auch eine Vorstellung des Aufbaus des Buches, ist aber eigentlich schon eine Präsentation der zentralen Themen. Bereits hier werden statistisches Material und themenbezogene Zitate aus der Literatur angeführt, wobei man gewiss anmerken kann, dass die Reihung von Bruno Latour, Romano Guardini und Andreas Reckwitz schon erstaunlich zu nennen ist. Jedenfalls lässt G. keinen Zweifel daran, dass er sich als Kritiker der bundesrepublikanischen Gesellschaft versteht, der er eine »suizidale Grundstruktur« (13) wegen ihrer Ausgrenzung von Kindern und Alten bescheinigt, was er später um den ökologischen Aspekt (201) erweitert. Weiterhin werden hier die verschiedenen Interpretationen der Lebensabschnitte in wissenschaftlichen Disziplinen vorgestellt, wobei anzumerken ist, dass die medizinische Defini-tion von Alter (15) im weiteren Verlauf des Buches eine bemerkenswert geringe Rolle spielt. Damit bereitet die Einführung auf einen G rundzug des ganzen Buches vor: Angesichts der Pluralität und kontextgebundenen Definitionen ist Abschied zu nehmen von einer generalisierenden Sprechweise und der Behauptung von un­abänderlichen Aussagen. Vielmehr eignet dem Diskurs über Le­bensalter, insofern er als aktueller Beitrag gelten will, Vorläufigkeit.
Wie bestimmend diese Erkenntnis ist, zeigt G. im ersten Hauptteil, denn hier ist das Leitwort Veränderung. Weder Zeit, Gemeinschaft noch Kommunikation sind Konstanten, sondern je, zum Teil sehr gravierenden, Neuinterpretationen unterworfen, die sich in nicht geringem Maße aus den ökonomischen Bedingungen ergeben. G. lässt in seiner Darstellung, etwa der digitalen Kommunikation, Befürworter und Kritiker zu Wort kommen, was den Blick auf die gesellschaftliche Problematik schärft und die These des permanenten Veränderungsprozesses unterstreicht. Nach G. sind es Kinder und Alte, die sich allerdings darin weitgehend als resistent erweisen. Im theologischen Teil werden insbesondere die biblischen Zeugnisse behandelt und deren Variationen. Eine Veränderung des Verhaltens gegenüber Kindern wird als durch Jesus gegeben gesehen (61 f.); der Beleg hierfür ist die Segnung der Kinder (Mk 10,13–16). Die hier vorgenommene Interpretation ist schwierig (s. u.), aber ob man angesichts der Makarismen der Bergpredigt wirklich behaupten kann: »Auf jeden Fall rückt Jesus Kinder hier – als einzige Personengruppe im ganzen Neuen Testament – in eine besondere Nähe zur Gottesherrschaft.« (64), sei angefragt. Im Hinblick auf die kirchliche Gemeinschaft verweist G. mit Recht auf die Taufpraxis als eine Infragestellung der Lebensalter und führt den Begriff der Resonanz ein, die Kinder und auch Alte besitzen. Sie leben Resonanz im »Einklang mit der Schöpfung als Gabe Gottes« (73). Nach meiner Meinung sind hier ein Begriff und eine Vorstellung gegeben, die im theologischen Gespräch bedacht werden sollten. Unschwer ließe sich der Begriff mit zentralen Begriffen, etwa biblischer Tradition, in Beziehung setzen.
Der zweite Hauptteil ist der umfangreichste des ganzen Buches; hier werden nach Untersuchungen zu den Strukturierungen des Lebens die verschiedenen Lebensabschnitte – Kindheiten, Jugend, Erwachsen-Sein, Alt-Sein – jeweils aus historischer, medizinischer, institutioneller, sozialpädagogischer und theologischer Perspektive analysiert, diskutiert und in einer weiterführenden Reflexion behandelt. Unschwer ist zu ermessen, welche Fülle an Informationen, Meinungen und Wissen vermittelt wird. Hier wird der transdisziplinäre Anspruch der Wissenschaft tatsächlich eingelöst; zu­gleich ist sichergestellt, dass der Aspekt der Pluralität und Veränderung stets gegenwärtig ist. Eines ist nach der Lektüre dieser mehr als 130 Seiten erwiesen: Die Komplexität, die mit dem Begriff Le­bensalter gegeben ist, verbietet jedes leichtfertige Definieren und Urteilen, nicht zuletzt aus der Theologie heraus, die aber sehr wohl gestützt auf Erinnerung, Erfahrung und Einsichten mitreden kann, wenn es um das Bedrohtsein von Mensch und Schöpfung geht, mithin eine solidarische und kritische Position einnimmt. Im theologischen Abschnitt über die Kindheit stellt G. fest: »Doch äußert sich Jesus […] in Aufsehen erregender Weise zu ihnen (sc. Kinder), zuerst bei der sog. Kindersegnung (Mk 10,13–16).« (119) Darauf folgt dann ein Zitat aus dem TRE-Artikel Kind von Rainer Lachmann als Beleg.
Hier, wie schon an anderer Stelle (67), behauptet G., es habe im Judentum des Zweiten Tempels die Vorstellung gegeben, die Be­rührung von Kindern vor deren Übernahme der Thoraverpflichtungen mache unrein; daher sei das Verhalten Jesu eben so bemerkenswert. Als Beleg wird auf Herbert Ulonskas Die Kinder und das Reich Gottes verwiesen. Weder G. selbst noch Lachmann und Ulonska bringen irgendeinen Quellenbeleg für dieses »Reinheitsverständnis« (119). Das kann allerdings nicht verwundern, da es keinen Quellenbeleg dafür gibt. Es handelt sich um pure Spekulation und Erfindung, um Jesu Tun in irgendeiner Weise aufzuwerten. Nun könnte man einfach konstatieren, dass die Mechanismen des Antijudaismus eben immer noch funktionieren und sie sich in diesem Fall durch ihre eigene Skurrilität – sie hat mit der Realität einer Familie, ob in der Antike oder Gegenwart, nichts zu tun – erledigt hat. Aber die Fiktion entbirgt doch mehr: Es ist offensichtlich theologisch nicht hinreichend eine Besonderheit, dass Jesus Zuwendung zeigt, dass er freundlich ist. Das verstört vor allem in einem Buch, dem es um dieses einfache und doch hohe und ständig bedrohte Gut im Miteinander zu tun ist. Übrigens übersieht G., dass die Kinder hier wie das »Kind in der Mitte« im Objektstatus verbleiben. Ihnen eignet Verweischarakter, sie sind Demonstrationsobjekte in der Erzählung. Das patriarchalische Fa­milienbild wird keineswegs durchbrochen.
Der zweite Hauptteil ist, wie gesagt, so informations- wie lehrreich. Man wird G. nicht in allem zustimmen wollen – so ist durchaus zu fragen, ob die von ihm als Mittel der Separation qualifizierten Einrichtungen für Kinder und Alte nicht doch auch als Schutzräume zu verstehen sind, nicht zuletzt angesichts familiärer Ge­walt gegen beide Gruppen –, aber nach der Lektüre wird man mehr Verständnis und möglicherweise mehr Empathie für die haben, die vor die Aufgaben der Lebensalter gestellt sind. Dass es der Theologie zukommt, hier Gegenentwürfe zu Leistung und Konsumismus bereitzuhalten, und den Kirchen, Angebote und Freiräume für eine andere Wirklichkeit zu schaffen, sind Forderungen G.s, denen man zustimmen kann. Freilich ist zu fragen, ob Theologie und Kirchen wirklich dazu bereit sind; immerhin wirken die Kirchen als Arbeitgeber durchaus am Funktionieren der Leistungsgesellschaft mit.
Der dritte Hauptteil setzt sich unter der Überschrift »Irritationen« (213–228) mit den Erfahrungen auseinander, die gleichsam das Erwartete durchbrechen: unerwarteter Tod und »Behinderungserfahrung«. Diese Seiten sind nicht nur ein Plädoyer für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch der Aufweis, welche Chancen der Gesellschaft entgehen, wenn sie jene nur auszugrenzen weiß. Das Buch endet mit einem Ausblick, der nochmals eindringlich auf christliches Fragen und Hoffen verweist.
Allerdings kann dessen doppeldeutiger Titel »Leben jenseits des Todes« zumindest für die theologischen Partien des Buches als Leitthema gelten. Es geht um den Entwurf eines menschenwürdigen Lebens in Fülle in einer von G. als lebensfeindlich gesehenen Gesellschaft, die auch den Menschen nach seinem Warenwert beurteilt. Wie bei jedem Buch, das sich zu so vielen Lebensbereichen äußert und Stellung bezieht, gibt es Nachfragen, Kritik und andere Wahrnehmungen der gleichen Sache. Aber auch das spricht für das Buch. Es ist ein Diskussionsbeitrag, der zur Diskussion einlädt und zugleich zur gesellschaftlichen Aufklärung beiträgt. Und dass die Theologie tatsächlich auch ein Wort außerhalb ihrer selbst zu sagen hat, dieser Nachweis ist G. gelungen.