Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

719–721

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bieler, Andrea

Titel/Untertitel:

Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. 249 S. m. 4 Abb. = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 90. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-525-62440-1.

Rezensent:

Traugott Roser

Andrea Bieler legt mit »Verletzliches Leben« einen grundlegenden poimenischen Beitrag zum internationalen und interdisziplinären Vulnerabilitäts- und Resilienzdiskurs vor. Verletzlichkeit gehört für B. zur conditio humana: Verletzbarkeit und Verletzlichkeit sind zeitlebens als leibliches Phänomen wahrzunehmen. Zugleich stellen sie einen erzählbaren Grundzug menschlicher Lebenserfahrung dar, der dennoch ambivalent und in stetig dynamischer Entwicklung ist. Verletzlichkeit meint sowohl die Bedrohung des psychischen, sozialen und somatischen Lebens, ist aber auch die Bedingung der Möglichkeit von Beziehungs- und Liebesfähigkeit. »Vulnerabilität« und »Verletzlichkeit« werden dabei nicht eindeutig voneinander unterschieden. »Verletzlichkeit« verweist eher auf eine passive Erfahrung, »Vulnerabilität« als der weitere Begriff umfasst Verletzbarkeit und die Möglichkeit, aktiv andere zu verletzen, sowie die Durchlässigkeit für Vulnerabilitätserfahrungen der Umwelt.
In fünf Kapiteln entfaltet B. ihr Verständnis von Vulnerabilität im Rahmen einer Theorie der Seelsorge, bei der drei Ebenen ineinandergreifen: ein spannungsvolles Leib-Sein-zur-Welt, Materialisierungen der Verletzlichkeit im öffentlichen Raum sowie in politisch-ethischen Diskursen und die Dimension kultureller und religiöser Symbolisierungsprozesse (27). Diesen Ebenen nähert sich B. zu Beginn entlang »phänomenologischer Erkundungen« zu Vulnerabilität als menschlicher Grunderfahrung, zunächst leibphänomenologisch als Leib-Sein-zur-Welt. Der Leib ermöglicht den erschließenden Weltbezug des Menschen als Vulnerabilität in dreifacher Weise, sowohl aktiv als auch passiv: als grundsätzliche Offenheit des menschlichen Leibes für Einwirkungen der Welt in Zeit und Raum (leibliche Affizierbarkeit). Nicht selten ist dies von starken Ambiguitäts- und Ambivalenzerfahrungen wie beim Erleiden und Ausüben von Gewalt oder bei fragilen Gefühlen von Glück und Liebe gekennzeichnet. Als Leib kann der Mensch aktiv in der Welt handeln, gleichermaßen ist er aber der Welt ausgesetzt. Das eröffnet – im Anschluss an H. Luther und G. Deleuze – die Chance, dem fragmentarischen Leben einen Möglichkeitssinn abzuringen und dem Virtuellen Wirklichkeit zuzugestehen (Potenzialität).
Bereits im ersten Kapitel nimmt B. immer wieder Bezug zur Seelsorgepraxis: Sie kann das Transformationspotenzial von Vulnerabilitätserfahrungen entdecken, freisetzen und dem Gegenüber kreative Lebensmöglichkeiten eröffnen. Die seelsorgliche Durchlässigkeit für Vulnerabilitätserfahrungen und -empfindungen des Gegenübers stärkt die Fähigkeit des Menschen, empathisch zu handeln, schmerz- und liebesfähig zu werden als Sein-zur-Welt. Vulnerabilität ist verbindendes, gemeinschafts- und liebesstiftendes Element.
Vulnerabilität schlägt sich auch in politischen und kulturellen Diskursen nieder, wobei B. sich vor allem auf Gender-, Armuts- und Gesundheitsperspektiven bezieht. Binäre Vorstellungsmuster (z. B. krank – gesund, normal – abweichend von der Norm) wirken exkludierend und betrachten Vulnerabilität als defizitär. Die Po­tenzialität von Vulnerabilität rechnet dagegen mit Resilienz in Krisen und bei Marginalisierungserfahrungen. Dabei ist jeder Mensch grundbedürftig, was besonders in Care-Situationen offensichtlich ist. Seelsorge kann für eine Deutung des verletzlichen Lebens Coram Deo eintreten, indem Seelsorgegespräche durch den Austausch vulnerabler Erfahrungen zu Orten der Gottesbegegnung werden. B. denkt im »poimenischen Interesse an eine Ästhetik der Fragilität« (61) und bezieht sich auf Repräsentationen von Verwundbarkeit und Unverwundbarkeit im kulturellen Raum der Mythologien und Populärkultur.
Christliche Vorstellungen sprechen von einem verletzlichen Gott. Im dritten Kapitel beschreibt B., wie im Seelsorgekontakt Gottesbilder als Gebilde der kreativen Imagination thematisiert werden können. Der bilderkritische Zug der jüdisch-christlichen Tradition lädt zu einer kritischen Reflexion von Bilderwelten und metaphorischer Gottesrede ein unter der Frage, wie Vulnerabilitätserfahrung und Gottesbild aufeinander bezogen sind. Der affizierbare, zugewandte Christus des Neuen Testaments sowie eine verletzliche Geistkraft stehen apathischen Gottesvorstellungen entgegen. Vulnerabilität ist theologisch gedacht also kein Defizit, sondern kreatives Vermögen liebender Hingabe Gottes. Sie ist der Punkt, an dem es zu einer Horizontverschmelzung von trinitarischer Gottesgeschichte und individueller Lebensgeschichte kommen kann. So bezieht sich B. auch auf »das Pathische« als einen (inkarnations- und kreuzes-)theologischen und anthropologischen Grundbegriff, der Affekttheorie und theologische Ethik umfasst.
Für eine begründete Theologie der Seelsorge ist das Mitgefühl (das Em-Pathische) bedeutend, die Empfänglichkeit für das Leid des Anderen. Seelsorge findet im Zwischenraum zwischen Logos und Ethos statt: während das Krankenhaus der Ort der »Logifizierung des Pathischen« ist, agiert Seelsorge als Anwältin der Erfahrung des »Pathischen im Hinblick auf das Kranksein« (138) für ein Ethos in der medizinischen Versorgung. Diese Funktion macht B. an zahlreichen Phänomenen und Affekten deutlich, die jeder Leserin und jedem Leser mit eigener Erfahrung als Patient/Patientin vertraut sein dürften. Im letzten Kapitel verbindet B. das Em-Pathische der Seelsorge schließlich mit der Funktion des »Erzählens« in der Seelsorge, denn »in seelsorglichen Gesprächen wird vom verletzlichen Leben erzählt« (183). Die Bedeutung des Narrativs in der Seelsorge ist zwar schon verschiedentlich bearbeitet worden (u. a. durch Brigitte Boothe, Anne Steinmeier und Wolfgang Drechsel), B. bezieht Krankheitsnarrative jedoch auf fundamentale Vulnerabilität. Bruchstücke eines oft als zerfallen erlebten Lebens können in der Erzählung in der Seelsorgebeziehung verbal und gedanklich zusammengefügt werden. Der Mensch erlebt sich durch Krankh eit, Schmerz oder Scham als fragmentarisch und unkontrolliert und versucht, dem Erlebten einen Sinn abzuringen. Seelsorge kann, auch im rituellen Tun, in Bezug auf Verletzlichkeit re­sponsiv wirken, »die erzählte Welt des Krankseins und die darin enthaltenen Themen, die auf die Erfahrung der Verletzlichkeit antworten, bilden den Horizont einer Theologie der Seelsorge« (215), die im Resonanzraum auch kritische Differenzen sichtbar werden lässt.
B. versteht Vulnerabilität als die Bedrohung des psychischen, sozialen und somatischen Lebens, aber auch als die Möglichkeit, beziehungs- und liebesfähig zu sein. Sie entwickelt eine leibphänomenologisch qualifizierte Vulnerabilitätstheorie zugunsten einer Theologie der Seelsorge. Sie verortet Seelsorge im Raum des Pathischen und verknüpft sie mit einem affizierbaren Gott, der sich den Menschen in seiner eigenen Vulnerabilität zuwendet und als heilsam-verwandelnde Kraft Lebensmöglichkeiten eröffnet. Dies entfaltet im seelsorglichen Kontext, in dem Vulnerabilitätserfahrungen oft an der Schnittstelle von Leben und Tod, Angst und Unsicherheit zum Tragen kommen, enormes Potenzial. Hier kann und muss in der Poimenik fruchtbar angeknüpft werden, um Menschen in ihren individuellen Erfahrungen theologisch fundiert beizustehen, zu begleiten, zu trösten, da zu sein.
B. lässt nicht nur ihre Praxiserfahrung erkennen, sondern zeichnet das Thema engagiert in unterschiedliche Diskurse ein. Durch ihre umfassenden Kenntnisse deutschsprachiger und englischer Literatur – weit über Praktische Theologie hinaus – gibt sie Anregungen zum Weiterdenken. Ein beeindruckendes und durchgängig spannend ge­schriebenes Buch nicht nur für Seelsorgerinnen und Seelsorger.