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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

705–707

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Drobe, Christina

Titel/Untertitel:

Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung. Eine theologische Reflexion philosophischer, literarischer und sozialwissenschaftlicher Zugänge zur Identitätsfrage.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. VIII, 595 S. = Theologische Bibliothek Töpelmann, 175. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-046009-4.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Bei der umfangreichen Monographie der inzwischen habilitierten württembergischen Theologin Christina Drobe handelt es sich um die Druckfassung ihrer Tübinger systematisch-theologischen Dissertation, die ausweislich der Einleitung (vgl. 1–6, hier 5) unter der Ägide von Christoph Schwöbel entstanden ist (das Promotionsverfahren wurde im Mai 2015 abgeschlossen).
Die Vfn. möchte »auf Grundlage exemplarischer Erörterungen philosophischer, literarischer und sozialwissenschaftlicher Zugänge zur Identitätsfrage aus christlicher Perspektive einen die Identitätsfrage theologisch reflektierenden Beitrag zum aktuellen Identitätsdiskurs leisten.« (3) Dabei werden die sozialwissenschaftlichen Zugänge gleich im Rahmen der Einleitung kurz angespielt (vgl. 1–3), bevor dann erst ganz am Ende, in einem vergleichsweise kurzen Teil 6 (551–579), die sozialwissenschaftliche Perspektive erneut aufgenommen wird.
In den ersten beiden Teilen werden zunächst (7–89) philosophische Zugänge zur Identitätsfrage dargestellt, wobei in je einem Abschnitt Dieter Henrich, Jean Paul Sartre und Helmuth Plessner zur Sprache kommen. Es folgt (90–179) die Darstellung philosophischer Reflexionen der Identitätsfrage. Hier kommen über die gerade genannten Autoren hinaus zahlreiche weitere Denker zu Wort. Der philosophische Doppelanmarsch hat ausweislich des in der Einleitung angegebenen Fahrplans der Arbeit das Ziel, »eine zu­sammenfassende Definition der in der personalen Seinsweise begründet liegenden spezifisch menschlichen Identitätsproblematik« zu formulieren (4). Eine solche Definition wird am Ende von Teil 2 auch geliefert. Sie besteht aus einer Reihe von Elementen, die anzeigen, an welchen der bis dahin aufgerufenen Positionen sich die Vfn. vornehmlich orientiert. So wird zunächst »die personale Identität eines Menschen« bestimmt als »Vollzug der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit seines die Innen-Außen-Differenz transzendierenden Selbst- und Weltbezuges« (179). Der Hinweis auf die Transzendierung der Innen-Außen-Differenz ist ein Bezug auf Spaemanns Buch »Personen« (vgl. zuerst 138, Anm. 199), dessen Untertitel die Vfn. beharrlich falsch nachweist (vgl. 114.587). Weiterhin: Die genannte Innen-Außen-Differenz werde erlebt »in konstitutiver Gleichgewichtslosigkeit in einem Gegen-Stände identifizierenden Selbst- und Weltbezug als reflexiv vermittelndes Selbst, das alles ihm als wirklich Gegebene zu verstehen sucht« (179). Das Stichwort »Gleichgewichtslosigkeit« ist der Anthropologie Plessners entnommen (vgl. zuerst 77, Anm. 381). Schließlich: Der ge­nannte Verstehensversuch vollziehe sich so, dass das Selbst »die Erfahrungen von Freiheit und Faktizität […], Selbst- und Fremdbestimmtheit im Rahmen einer narrativen Einheit des Lebens deutet, welche angesichts der für die personale Seinsweise wesentlichen Dialektik von Selbstheit und Andersheit für dieses unabschließbar bleibt« (179). Der Hinweis auf die narrative Einheit des Lebens knüpft an Ricœur an (vgl. 165, Anm. 300; 170, Anm. 338); der Unabschließbarkeitsbegriff wird im Anschluss an Plessners Theorem der exzentrischen Positionalität eingeführt (vgl. 112).
Die von dieser Bestimmung des Identitätsbegriffs ausgehende Frage, wie ein Mensch die »als unabschließbar zu begreifende narrative Einheit seines Lebens reflexiv zu vermitteln vermag« (179), gibt das Thema der nächsten beiden Teile an. Dabei kommen zu­nächst (180–269) literarische und dann (270–376) theologische Zu­gänge zur Identitätsfrage zur Sprache. In Teil 3 werden Max Frischs Roman »Homo faber« (1957), Sartres Drama »Geschlossene Gesellschaft« (»Huis clos«, 1944) und Bertolt Brechts 1943 uraufgeführtes Theaterstück »Der gute Mensch von Sezuan« behandelt. Das Ergebnis lautet: Die in den Texten maßgeblichen Akteure erkennen die (für die menschliche Identität als konstitutiv nachgewiesene) Unabschließbarkeit der narrativen Einheit des Lebens nicht an (vgl. 210.238.245). Wie aber, so fragt die Vfn. nun, müssen Selbst- und Weltverständnisse gestaltet sein, die »die Unabschließbarkeit der narrativen Einheit des Lebens […] anerkennen« (269)? Die Antwort besteht in der Behandlung dreier theologischer Zugänge zur Identitätsfrage. Konkret geht es um Karl Barth, Paul Tillich und Eberhard Jüngel. Auch hier ist das Ergebnis klar: Im Horizont des christlichen Glaubens erscheint die Unabschließbarkeit der narrativen Einheit des menschlichen Lebens »nicht als ein durch Selbstbestimmung zu behebender Mangel« (289), sondern sie wird verstanden als eine der »Bestimmung zur imago dei« entsprechende »wesentliche Offenheit für Gott« (365).
Teil 5 (377–550), dessen Untertitel identisch ist mit dem Haupttitel des Buches (»Menschsein als Selbst- und Fremdbestimmung«), bietet eine an die Teile 1–4 anschließende systematisch-theologische Behandlung der Identitätsfrage. Dabei bezieht sich die Vfn. zunächst auf ihre Referate der philosophischen Identitätsreflexionen, die das »Menschsein zwischen Selbst- und Fremdbestimmtheit« verortet hatten (vgl. besonders 176–179): Nicht mehr das ein Konkurrenzverhältnis signalisierende »Zwischen« ist nun leitend; sondern es geht – dies signalisiert das »als« – um eine humane Selbstbestimmung, die von der Anerkennung der vorausgegangenen göttlichen Bestimmung getragen ist.
Die drei Abschnitte von Teil 5 folgen einem trinitarisch-heilsgeschichtlichen Anordnungsprinzip (»Identität durch Schöpfung«, »Identität durch Versöhnung«, »Identität in Vollendung«). Dabei werden jeweils zunächst die zuvor behandelten theologischen, dann die referierten philosophischen und schließlich die besprochenen literarischen Zugänge zur Identitätsfrage kritisch aufgenommen. Insgesamt wird viel bereits Verhandeltes erneut entfaltet. Von Bedeutung ist allerdings, dass die bislang lediglich einigen philosophischen Positionen sowie den Protagonisten der literarischen Texte attestierte Nicht-Anerkennung der passiven Konstitution des geschöpflichen Da- und Soseins nun auch als eine mögliche Variante des christlichen Identitätsverständnisses ausgewiesen wird (vgl. 449.498.545).
Im abschließenden Teil 6, in dem auch das von Christoph Schwöbel stammende Stichwort des »dialogischen Imperativs« aufgenommen ist, wird das erarbeitete christliche Identitätsverständnis profiliert als möglicher Impulsgeber für ein Toleranzverständnis, das ein friedliches Zusammenleben auch »in einer pluralistischen und globalisierten Gesellschaft« (579) ermöglichen kann.
Das Buch zu lesen ist alles andere als ein Vergnügen. Gelegentlich zieht sich ein Absatz über allzu viele Seiten hin (vgl. etwa 461–467). Viele Formulierungen sind übermäßig kompliziert, etliche Sätze unverhältnismäßig lang und manchmal noch dazu extrem verschachtelt; man muss sie, will man sie wirklich verstehen, so lesen, wie man Texte von Cicero aus dem Lateinischen übersetzt. Doch auch dann kommt man nicht immer zum Ziel, was hier exemplarisch illustriert sei: »Er [gemeint ist der Protagonist aus Max Frischs ›Homo faber‹] realisiert nicht, dass sein technisch-materielles Selbst- und Weltbild eine von ihm in seinem personalen die Innen-Außen-Differenz transzendierenden Seinsweise vorgenommenen Verständnis seines sich fragmentarisch ausnehmenden Selbst- und Weltbezuges darstellt, durch die er die im Rahmen von Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt erfahrene Dialektik von Selbstheit und Andersheit reflexiv zu einem die Innen-Außen-Differenz aufhebenden Selbst- und Weltverständnis zu vermitteln sucht.« (203) – Die Geduld des Lesers wird auch durch die zahlreichen Redundanzen strapaziert; wieder und wieder werden dieselben Sachverhalte in Gestalt neu angeordneter Textbausteine vorgeführt. Kurzum: Eine für die Druckversion vorgenommene inhaltliche Straffung hätte der Arbeit ebenso gutgetan wie eine gründliche sprachlich-stilistische Überarbeitung.