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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

699–701

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Vieweg, Klaus

Titel/Untertitel:

Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie.

Verlag:

München: C. H. Beck 2019 (2. Aufl. 2020). 824 S. m. 59. Abb. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-406-74235-4.

Rezensent:

Pirmin Stekeler-Weithofer

Klaus Vieweg legt eine umfassende Biographie des größten Denkers des 19. Jh.s vor, den man als den Beethoven der neueren Philosophie bezeichnen könnte, um so die beiden 1770 geborenen Geis-tesgrößen miteinander zu verbinden.
In einem Vergleich mit Bertrand Russells 22. Kapitel seiner populären Philosophie des Abendlandes (Zürich 1950) scheint die Bedeutung des Buches am schönsten auf. Russell zeigt mit dem Finger auf Hegels Philosophie der Weltgeschichte, wo er sagt: »Wie andere Geschichtstheorien bedingte auch diese, um plausibel wirken zu können, eine gewisse Verdrehung der Tatsachen und ein beträchtliches Maß von Unwissenheit« (Russell, 745). V. zeigt, dass weit mehr Finger auf das Unwissen des Autors der Polemik zurückzeigen. Russell weiß bei Weitem nicht genug über die Geschichte und Leistung des Mannes, über den er schreibt, oder über den Hauptgedanken in Hegels Vorlesungen zu einer Philosophie der Weltgeschichte. Er kennt nicht die Belesenheit und Bildung, das Wissen und die Breite der Interessen Hegels, welche sogar den angeblich letzten Universalgelehrten G. W. Leibniz in den Schatten stellen. Russell kennt Hegels Vernetzung im europäischen Geistesleben nicht, weiß kaum etwas von dessen Hochschätzung der britischen und französischen Literatur, Philosophie und Wissenschaft, von Shakespeare bis Lawrence Sterne, von Thomas Hobbes bis Adam Smith und David Hume, von Montesquieu und Rousseau bis Diderot und Lagrange. Russell kennt Hegels Modernisierung des bayrischen und damit deutschen Schulwesens (mit seinem Freund Friedrich Immanuel Niethammer) nicht, auch nicht die Neuartigkeit der Lehrformen zunächst nach dem Vorbild Fichtes, oder dass er neben Friedrich Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt nicht nur den Typus der modernen Universität weltweit geprägt hat, sondern auch die Gliederung der akademischen Disziplinen der Natur- und Geisteswissenschaften. Bei V. erfahren wir all das. Russell entgeht außerdem das Prekäre des politischen Kampfes für den Erhalt bzw. die Entwicklung der liberalen Errun genschaften in der post-napoleonischen Zeit, also der Verfassungs-, Menschen- und Bürgerrechte, im Gegensatz sowohl zur konservativen Restauration nach Metternich als auch zu einem zum Teil schon offen antisemitischen Nationalismus besonders in den deutschen Burschenschaften (Arndt, Jahn), wie ihn V. etwa an Hegels Kritik an Fries herausarbeitet. Russell ahnt erst recht nicht, dass sein geradezu vernichtender Satz auf ihn selbst zutrifft: »Je fehlerhafter die Logik, um so interessanter die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen« (Russell, 754), auch wenn V. nicht ganz in der Lage ist, dies zu zeigen, sondern nur Entsprechendes über Hegels lo-gische Einsichten versichert, die sich in der Tat gegen eine bloß formale Logik des mathematischen Verstandes richten. Zwar hat Russell ganz recht, dass Hegel »von allen großen Philosophen am schwersten zu verstehen« ist (Russell, 740), aber nicht etwa deswegen, weil ihm von seinem »Interesse für das Mystische« der »Glaube an die Unwirklichkeit alles Einzelseins« (ebd.) geblieben wäre, sondern weil das Verständnis der begrifflichen Konstitution von einzelnen Gegenständen in diskreten Mengen logisch in der Tat sehr schwierig ist. Ein volles Verständnis der Gleichheitsaussagen des »Fürsichseins« ist ja weit schwieriger, als Russell einzusehen je in der Lage war, und das sogar schon in der reinen Mathematik. Es gilt erst recht, wie immerhin Kant schon sieht, für den Fall innerweltlicher Dinge und Geschehnisse. V. betreibt also eine Entmythisierung verbreiteter Urteile über Hegel, zu denen wir auch Russells Verwechslung des »germanischen« mit dem »deutschen« Reich (Russell, 746.748) hinzunehmen können: Hegel spricht hier schlicht von ganz Mittel- und Westeuropa. Dabei sind sich Russell und He­gel in ihrer häufig ätzenden Ironie gegen Leute, die ihrer Meinung nach nicht genug nachdenken, und durchaus auch in ihrem politischen Mut, wie V. zeigt, auf geradezu frappante Weise ähnlich.
Während Russell wie viele andere meint, es sei absurd, dass »Hegel behauptet, das Wirkliche sei vernünftig und das Vernünftige wirklich« (Russell, 741), fordert V., erst einmal über den Sinn der Passage aus der Vorrede der Rechtsphilosophie nachzudenken. Gegen V.s Meinung, die Passage habe das Buch vor der reaktionären preußischen Zensur schützen sollen, stehen aber schon die Vorrede und der § 5 der zweiten Auflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hier macht Hegel explizit darauf aufmerksam, dass man, um die in der Tat provokative Formulierung zu verstehen, die logische Grammatik der Wörter »eigentlich« und »wirklich« verstehen muss, nämlich in ihrem ›wesenslogischen‹ Kontrast zu »oberflächlich«. V. kann am Ende dennoch klarmachen, dass Hegels sogenannter Idealismus gerade nicht der britisch-empiristische eines George Berkeley (»esse est percipi«) ist, sondern weit eher die Einseitigkeiten eines solchen solipsistischen Subjektivismus und zugleich eines Objektivismus aus der Sicht eines bloß von uns vorgestellten Gottes oder eines perfekten Physikers ähnlichen Typs aufhebt.
V.s große Biographie Hegels ist insgesamt zu vergleichen mit Rüdiger Safranskis Biographien von Philosophen. Diese Bücher machen Lust, die Autoren zu lesen. Dabei ist um Verständnis dafür zu werben, wenn die Zusammenfassungen der Hauptwerke, be­sonders der wirklich schwierigen Phänomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik, selbst noch vieler weiterer Erläuterungen bedürften. Wie steht z. B. Hegels Titel »Idee« im Kontrast zu »Be­griff« oder »Wirklichkeit« im Gegensatz zu »Dasein« und »Er­schei-nung«? Es handelt sich freilich keineswegs schon um eine Einführung in Hegels Denken, sondern, was die Werke angeht, um Inhaltsangaben in gut ausgewählten Zitaten und Paraphrasen. Mehr ist allerdings auch nicht zu erwarten. Besonders überzeugend ist, dass Hegel als der Philosoph der Freiheit vorgestellt wird, und dann auch, dass seine Leistungen für die Kunstgeschichte, gerade auch für die Etablierung des akademischen Fachs, hervorgehoben werden. Höchst informativ sind außerdem die Darstellungen der personalen Kontakte Hegels – etwa zu Goethe (und Sohn August), Jean Paul, Felix Mendelssohn-Bartholdy und zu anderen Künstlern, Literaten, auch jüdischen Familien in Berlin, zu Victor Cousin und vielen anderen, aber auch der Reisen nach Dresden, Wien, Leuven, Brüssel, Paris samt der Besuche von Kirchen, Museen und Opern.
Wer das philosophische Denken liebt und auch über historisch erklärbare Fehldeutungen und Polemiken hinaus verstehen will, sollte das Buch also dringend lesen, auch wer sich für das Genre der Darstellung von Leben und Werk einer Person überhaupt interessiert. Denn gerade im Fall eines Philosophen und Wissenschaftlers wie Hegel, dessen erwachsenes Leben in die aufregende Zeit von 1789 bis 1831 fällt, ist eine solche Biographie höchst spannend – so dass Russells Urteil aufs Schönste widerlegt ist: »Sein Leben weist nur wenige bedeutende Ereignisse auf« (Russell, 740). Inhaltlich wird man freilich das meiste schon wissen, wenn man Hegels Briefe (beim Verlag Meiner, Hamburg, hrsg. von J. Hoffmeister und F. Nicolin) kennt.
Wenn kleinere Kritikpunkte erlaubt sind, nenne ich die zu häufigen Wiederholungen von Informationen, die manchmal zu schnellen oder politisch einseitigen Bewertungen von Personen, die anders als Goethe und Hegel wie Fichte oder Heinrich Kleist gegen Bonaparte Partei ergreifen oder wie Novalis und Clemens Brentano in ihrem Verständnis des religiösen Gefühls von Hegels äußerst kühler Säkularisierung der lutheranischen Lehre abweichen. Ein Leser lässt sich hier wohl häufig eher überzeugen, wenn die gesamte Sachlage so geschildert wird, dass sich die Bewertungen der Personen und ihrer Urteile aus ihr ergeben.