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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

680–682

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Ihben-Bahl, Sabine Joy

Titel/Untertitel:

Angst und die eine Wirklichkeit. Paul Tillichs transdisziplinäre Angsttheorie im Dialog mit gegenwärtigen Emotionskonzepten.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XII, 389 S. = Dogmatik in der Moderne, 28. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-156836-7.

Rezensent:

Werner Schüßler

Der Untertitel dieser Schrift, die im Sommersemester 2018 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen wurde, lässt aufhorchen, soll doch hier der Versuch unternommen werden, Tillichs Angsttheorie fruchtbar zu machen für Emotionsdiskurse, wie sie sich aktuell in den verschiedensten Einzelwissenschaften finden. Der Haupttitel klingt dagegen etwas seltsam und erschließt sich dem Leser auch nach Lektüre der Schrift nicht völlig, selbst dann nicht, wenn man hier den unbestimmten Artikel in Anführungszeichen setzen würde. (Zuweilen heißt es auch, » dass Angst die Wirklichkeit des Menschen und somit die Wirklichkeit Gottes« erfasse [332]; oder: »Angst repräsentiert also ›Welt‹, nimmt Wirklichkeit wahr.« [335]) In einem einleitenden Kapitel skizziert Ihben-Bahl »Gegenstand, Ziel und Aufbau der Arbeit« (1–9). Zu Recht macht sie hier darauf aufmerksam, dass Emotionen in der Theologie bisher recht stiefmütterlich behandelt wurden. Dabei werde doch in anderen Wissenschaften darauf hingewiesen, dass diese »auf ihre genuine Weise Wirklichkeit repräsentieren«, sie somit immer auch einen rationalen Aspekt besitzen (3), wobei dem Phänomen der Angst »ein besonderer Stellenwert« zukomme (4), zeige sie doch an, »wer wir sind inmitten unserer Welt« (5), und schließlich sei sie auch bedeutsam für unsere Gottesbeziehung (6).
Nach I.-B. empfiehlt sich hier geradezu ein Rekurs auf Tillichs Angsttheorie, da diese disziplinenübergreifend angelegt und »in das System einer anthropologischen Ontologie als Methode seiner Theologie« integriert sei (8). Der Begriff einer »anthropologischen Ontologie« erscheint mir allerdings etwas seltsam und Tillichs Anliegen auch nicht gerecht zu werden (eventuell könnte man hier von einer Existenz-Ontologie sprechen), meint er doch, dass selbst die von ihm herausgearbeiteten Polaritäten (Individualisation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal) in einem weiteren Sinne das Sein als Sein charakterisieren – und nicht nur den Menschen.
Ein erster Teil ist folgerichtig dem Angstbegriff Tillichs gewidmet (11–261). Dabei geht es in einem ersten Kapitel um eine entsprechende Analyse von Tillichs Schrift »The Courage to Be« (11–73). Wenn I.-B. meint, dass diese der »Kulminationspunkt« seines Spätwerks sei, dann trifft das so nicht zu. Es handelt sich hierbei zwar um die bekannteste, aber nicht um die bedeutendste Schrift Tillichs, da diese nach Selbstaussagen bewusst recht einseitig ange-legt ist. In einem zweiten Kapitel wird sodann die Ontologie Tillichs dargelegt (74–133), wie sie sich recht komprimiert im ersten Band seiner »Systematischen Theologie« findet. Von der Sache her wäre es sinnvoller gewesen, die Darlegungen zur Ontologie an den Anfang zu stellen, da diese in »The Courage to Be« zum Teil vorausgesetzt wird. In seiner »Ontologie der Angst« bestimmt Tillich diese bekanntlich »als das existentielle Gewahrwerden des Nichtseins« (Ges. Werke, XI, 35); oder anders formuliert: »Angst ist Endlichkeit erfahren als unsere Endlichkeit.« (Ebd.) Ob man aber davon sprechen kann, dass »Mut« und »Angst« »Instrumente« sind, die es dem Menschen ermöglichen, Sein, Nicht-Sein und das Sein-Selbst zu erfassen (68), wage ich zu bezweifeln.
Auch manche anderen Begriffe und Formulierungen erscheinen mir fragwürdig; hierzu einige Beispiele: Wo spricht Tillich von »einer Zweiheit im Gottesbegriff« (78, Anm. 12)? Was meint »Ontologie als Theologie« (79)? Wenn Tillich vom Sein-Selbst (being-itself) spricht, muss man sich immer fragen: Ist jetzt das Sein als Sein gemeint oder Gott? I.-B. scheint diesen Begriff aber nur auf Gott zu beziehen (84). Was heißt: Theologie nutzt »Ontologie als Methode« (84 u. ö.)? I.-B. bezieht sich hier auf einen Satz aus der Schrift »Liebe, Macht, Gerechtigkeit«: »Ontologie ist die Methode, mit deren Hilfe sich die Grundbedeutung aller Prinzipien […] bestimmen« lässt (Ges. Werke, XI, 143). Im englischen Text steht aber: »Ontology is the way […].« (Hauptwerke III, 586) Das meint etwas anderes. I.-B. betont im weiteren Verlauf aber immer wieder den Methodencharakter der Ontologie. So bleiben Sätze wie der folgende auch unverständlich: »Die Erfahrung macht die Methode Ontologie zur Erfassung der Wirklichkeit erst möglich.« (89) Auch das nächste Beispiel lässt den Leser ratlos zurück: »Für Tillich führt die Interdependenz von Ontologie und Erkenntnis zu wahren Aussagen in der Theologie, zu wahren Antworten, die die Offenbarung gibt.« (95) In diesem Zusammenhang spricht I.-B. auch von Tillichs »ganzheitlichem« Wahrheitsbegriff (95). Tillich selbst spricht in dem Kontext, auf den hier Bezug genommen wird, aber nur von »ganzheitlichen […] Lebensprozessen« (Systematic Theology I, 103).
Warum I.-B. sich nicht auf Tillichs Berliner Ontologie-Vorlesung von 1951 bezogen hat, die posthum 2009 in Bd. XVI der Ergänzungs- und Nachlassbände erschienen ist, wo er seine Ontologie ausführlich darlegt, bleibt schleierhaft, wäre doch so sicherlich einiges klarer geworden. Auch wäre ein Blick in den 13. Band des »International Yearbook for Tillich Research« von 2018 hilfreich gewesen, der der Schrift »The Courage to Be« gewidmet ist. Aber man vermisst beide Bezüge in der Schrift und auch in der Bibliographie.
Das dritte Kapitel des ersten Teils widmet sich »Einflüssen und Gesprächspartnerschaften« (134–261). Hier finden sich recht gute Referate zu Heidegger, Kierkegaard, Rollo May, dem Tillich-Schüler und -Freund, sowie dem Kollegen Kurt Goldstein in Bezug auf die Angstthematik. Der zweite Teil behandelt »Angst im Horizont gegenwärtiger Emotionsdebatten« (263–338). Nach einem Exkurs zur »neurowissenschaftlichen Herausforderung« geht es u. a. um »Tendenzen aktueller Emotionskonzepte«, Stichwort: Emotion als Wahrnehmung von Realität (289). Anhand von Angelika Ebrecht-Laermann und Egon Fabian werden sodann referierend zwei Beis piele für die »Aufwertung der Angst« vorgestellt (300–330). Der dritte, recht knappe Teil (»Theologische Konsequenzen«, 339–349) rekurriert u. a. auf Luther und Jüngel, wobei aber dieser Teil sowie auch der folgende, der auf wenigen Seiten die »Sinnfeldontologie Markus Gabriels« referiert (351–366), einen wirklichen Bezug zum Thema und besonders zu Tillich vermissen lassen. Die Arbeit endet in einer »Schlussbemerkung« mit dem Satz: »Paul Tillich hat ge­zeigt, dass und wie sich die Idee eines Ganzen denken lassen kann bzw. muss, nämlich durch die Angst, die als transzendenzbezogene Größe des transzendenzsensiblen Menschen die eine, auch transzendente Wirklichkeit wahrnehmen lässt.« (367) Damit wären wir wieder beim Haupttitel der Arbeit, der sich mir aber auch mit Hilfe dieses Satzes nicht näher erschließt.
Der Grundthese von I.-B., dass Tillichs Ansatz den einzelwissenschaftlichen Angstdiskursen eine ontologische Grundlage bieten kann und somit anschlussfähig an moderne Debatten ist, kann man zustimmen. Doch leidet die Arbeit daran, dass die einzelnen Teile – bei allen Versuchen von I.-B., Beziehungen herzustellen – recht unvermittelt nebeneinanderstehen. Die Tillich-Forschung wird durch die Ausführungen zu Tillichs Schrift »The Courage to Be« und zu seiner Ontologie nicht bereichert – ganz im Gegenteil, werfen diese Kapitel doch recht viele Fragen auf. Allerdings erfährt der Leser in den referierenden anderen Teilen der Arbeit interessante Aspekte hinsichtlich vergangener und besonders gegenwärtiger Emotionsdebatten.