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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

678–680

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ziemann, Benjamin

Titel/Untertitel:

Martin Niemöller. Ein Leben in Opposition.

Verlag:

München: Deutsche Verlags-Anstalt (Random House) 2019. 640 S. m. Abb. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-421-04712-0.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Martin Niemöller genießt bis heute sowohl durch seine Haltung im sogenannten Dritten Reich, seine KZ-Haft, sein Wirken im Nachkriegsdeutschland, sein Engagement bei den Ostermärschen als auch sein Aufbegehren gegen die Wiederbewaffnung innerhalb der EKHN hohe Anerkennung und Autorität. Wer das Gebäude der Kirchenverwaltung am Paulusplatz betritt, geht an seiner Büste vorbei, und die höchste Auszeichnung der EKHN, die Martin Niemöller-Medaille, ist nach ihm benannt. Indes blieben auch in der EKHN sein Wirken, vor allem seine mangelnden Berührungsängste mit den Machthabern des Ostens oder sein Eintreten für eine Schulderklärung nach dem Krieg, nicht ohne Widerspruch. Noch in der 8. Kirchensynode habe ich Angriffe auf diese Aktionen Niemöllers erlebt, die allerdings auf keine nennenswerte Resonanz stießen. Sein Sohn Jan, damals Mitglied der Synode, hat bei solchen Attacken meist den Saal verlassen. Und doch wurden seine Reisen in den Osten etwa auch in der Bundesrepublik über seine Kirche hinaus als Vorstufe einer Versöhnung verstanden, wie sie in der Ostdenkschrift der EKD von 1965 zum Ausdruck kam. Seine Verdienste fanden auch durch den Staat Anerkennung durch die Verleihung des Großkreuzes zum Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1970, verliehen von einem seiner wichtigen Wegbegleiter und Mitkämpfer, Gustav Heinemann. 1970, die sozialliberale Koalition war seit 1969 im Amt, war die neue Ostpolitik in vollem Gange, Willy Brandt reiste nach Erfurt, Willi Stoph kam nach Kassel. Das passte alles gut zusammen.
Nun liegt seit 2019 neben der verdienstvollen Monographie von Michael Heymel die Arbeit des Historikers Benjamin Ziemann vor, der ein sehr kritisches Bild unseres ersten Kirchenpräsidenten zeichnet. Friederike Höhn gibt in der ESZ vom 8.3.2020 den Inhalt seiner Monographie zwar unkritisch wieder, informiert indes einen größeren Leserkreis über ein Buch, das für Interessierte wegen seiner Faktenfülle lesenswert ist. Ja, Michael Heymel hat Recht, Niemöllers Vergangenheit als Seeoffizier und U-Boot-Kommandant ist so bekannt wie seine nationalprotestantische Gesinnung nach dem Ersten Weltkrieg, nicht zuletzt Niemöller selbst hat dazu beigetragen mit seinem autobiographischen Buch »Vom U-Boot zur Kanzel« von 1934, das in Antiquariaten günstig angeboten wird. Z. erschließt jedoch in dem Zusammenhang eine Fülle von Quellen und Zusammenhängen und wertet sie, allerdings manchmal recht einseitig, aus. Manchmal gewinnt man den Eindruck, er suche vor allem in den Quellen eine Bestätigung seines vorgeprägten Bildes, wertet auch Dinge, die nicht in Niemöllers Amtskalender stehen, spekulativ gegen ihn aus. Dass Niemöller etwa, wie vor dem Sondergericht in Moabit 1938 behauptet, seit 1924 NSDAP gewählt habe, hält er für unwahrscheinlich und eine Schutzbehauptung.
Die minutiöse Schilderung des Weges Niemöllers in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, seine Judenfeindschaft und deren Wandel von einer Art völkischem Antisemitismus zu einem theologisch begründeten An-tijudaismus, eine Differenzierung, die leider häufig genug apologetisch verwendet wird, ist gut belegt. Neu ist indes auch das nicht. Ich selbst bin in Publikationen darauf eingegangen, z. B. auf seine Predigt zum Israelsonntag 1935. Allerdings fehlt die Kontextualisierung. So war es sicher nicht Niemöller, der ein Wort zur Judenverfolgung auf der Barmer Bekenntnissynode von 1934 verhindert hat. Andere Protagonisten, an denen Niemöller gespiegelt wird, kommen zu gut weg (Otto Dibelius, Hans Asmussen, Theophil Wurm, Karl Koch). Auch der Präses der Barmer Bekenntnissynode war Mitglied der DNVP, Otto Dibelius hat das KZ in Buchenwald besucht und alles ganz in Ordnung gefunden, vielleicht mit der Einschränkung, dass der sehr kräftige Ernst Thälmann zu wenig zu essen bekomme. Auch die Meldung zum Kriegsdienst aus dem KZ hat Parallelen, so versuchte z. B. Ernst Wilm, der spätere Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Haft zu entkommen. Überhaupt müsste man, wenn man von einer historischen Schuld Niemöllers sprechen will, sie im Kontext eines Versagens auch der Bekennenden Kirche insgesamt sehen, das kommt bei Z. zu kurz. Auch die Darstellung der Nachkriegsentwicklung als Hintergrund für die politischen Einlassungen Niemöllers ist sehr knapp, so ist er mit seiner Kritik an der einseitigen Westintegration der Bundesrepublik nicht allein. Dadurch eine mögliche Wiedervereinigung verspielt zu haben, war ein in den 1960er Jahren noch verbreiteter Gedanke. Der Name Willy Brandt kommt auf mehr als 600 Seiten einmal kurz im Zusammenhang des Misstrauensvotums von 1972 vor, als Z. von Niemöllers Überlegungen berichtet auszuwandern, wenn Barzel und Strauß unsern Staat vereinnahmen würden. Fast infam ist Z.s Darstellung, für Niemöller sei das Schuldbekenntnis 1945 ein Instrument, die Völker dazu zu bringen, das Unrecht einzusehen, das man dem deutschen Volk nach der Niederlage antue.
So liegt das zu Kritisierende in dieser an sich sehr lesenswerten Monographie in den Wertungen, weniger in der Wiedergabe und Auswahl der Quellen. Dass Niemöller ein schwieriges Verhältnis zur Demokratie hatte und die freie Presse des Westens diskredi-tierte – sogar mit Vergleichen zur Nazi-Zeit –, ist für mich nicht un­gewöhnlich, wenn ich daran denke, dass mein Vater, zur Zeit des Nationalsozialismus Pfarrer in Westfalen, und einige Kollegen, engagiert in der Bekennenden Kirche, mit Anspielungen auf Joseph Goebbels sich stets ein recht oberflächliches Misstrauen gegenüber den Zeitungen bewahrten. Und Niemöllers schwieriges Verhältnis zur Demokratie wird bei seinem Abgang aus der 4. Synode 1968, den ich auch verschiedentlich zitiert habe, wo er warnte: »Machen Sie ja nicht in Demokratie und Parlamentarismus«, deutlich. Hochbetagt war Niemöller mit mancher Entwicklung in der EKD und in seiner EKHN nicht zufrieden, wie sein Verlassen der Synode unter Protest zeigt. Z. zitiert Niemöller nach seinem Ausscheiden aus der Synode mit der Aussage, die Jahre als Kirchenpräsident der EKHN seien der einzige Teil seines Lebens gewesen, der reine Zeitverschwendung gewesen sei, und belegt dies durch Sekundärliteratur, ohne es jedoch einzuordnen. Schließlich blieb der Kirchenpräsident über seine Pensionierung hinaus in der Synode und betonte noch bei seinem Abgang, er habe dieser Kirche 17 Jahre dienen dürfen. Z. verwendet viele Quellen, die Synodenprotokolle jedoch kaum. Der Wandel Niemöllers vom Seeoffizier zum Pazifisten wird durchaus dargestellt. Bedrückend für mich sind die von Z. dokumentierten juden- und israelfeindlichen Bemerkungen Niemöllers nach dem Krieg. Mein Fazit: Wer sich der Mühe unterzieht, das umfangreiche Buch zu lesen, wird gewiss auf seine Kosten kommen, aber unkritisch sollte man es nicht rezipieren.