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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

673–675

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hermle, Siegfried, u. Harry Oelke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirchliche Zeitgeschichteevangelisch. Bd. 1: Protestantismus und Weimarer Republik (1918–1932).

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 261 S. = Christentum und Zeitgeschichte, 5. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-3-374-06262-1.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Anzuzeigen ist die erste Folge einer auf vier Bände angelegten »handbuchartigen Gesamtdarstellung der Kirchlichen Zeitgeschichte des 20. Jh.s aus evangelischer Perspektive« (7). Während hier die lediglich 14 Jahre umfassende Phase der Weimarer Republik Darstellung findet, sollen die nachfolgenden, analog gegliederten Bände die Zeit des Nationalsozialismus, der Nachkriegsepoche und der mit dem Mauerbau einsetzenden bundesrepublikanischen Ära beleuchten. Es wäre ein substantieller Gewinn, wenn die Planung der Folgebände auch die in der DDR als dem zweiten deutschen Nachkriegsstaat sich manifestierende Entwicklung noch berücksichtigen könnte. Die beiden Herausgeber des Bandes sind ausgewiesene Experten der Kirchlichen Zeitgeschichte und haben für die neun thematisch fokussierten Kapitel des Bandes jeweils ihrerseits sachkundige Autorinnen und Autoren ge­wonnen.
Anfangs erkundet Claudia Lepp für den fraglichen Zeitraum das delikate Verhältnis von »Protestantismus und Politik« (33–55). Dabei setzt sie bei der weithin als traumatisch erlebten, durch Kriegsniederlage, Revolution und Versailler Vertrag markierten Zeitenwende 1918/19 ein, nimmt dann die Weimarer Reichsverfassung und das dort fixierte Staat-Kirche-Verhältnis ins Visier, um vor diesem Rahmenhintergrund die insgesamt höchst dürftige Demokratieaffinität des deutschen Protestantismus und insbesondere dessen dominant nationalkonservativ orientierte parteipolitische Ausrichtung kenntnisgesättigt und differenziert zu umreißen. Derselben Feder bzw. Tastatur verdankt sich die profunde Skizze der »Gesellschaftliche[n] Herausforderungen« (56–73), deren Hauptkoordinaten durch den fortschreitenden Säkularisierungsprozess, massive kulturelle Umbrüche, die gegenwartsflüchtige Idealisierung eines idyllischen Landlebens, das ganz neu akzentuierte Geschlechter- und Familienthema sowie die Diskussion um Krieg und Frieden markiert sind.
Über »Kirchliche Ordnungen und Strukturen« (74–99) informiert durchweg kenntnisgesättigt und verlässlich Karl-Heinz Fix. Dabei rückt er zunächst die aus dem Ende des Landesherrlichen Kirchenregiments resultierende Herausforderung, eine kirchliche Selbstverwaltung zu institutionalisieren, in den Blick: In Abkehr von dem Gedanken einer Reichskirche, wie sie später in nationalsozialistischer Zeit etabliert werden sollte, kam es in Deutschland zur Gründung von 28 evangelischen Landeskirchen, die miteinander durch einige kraftlose Organe (Kirchentag, Kirchenbundesrat, Kirchenausschuss) nur lose konföderiert waren. Komplementär dazu werden die Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft sowie der kirchlichen Verfassungsorgane und konfessionellen Bünde, dazu knapp auch Fragen der landeskirchlichen Finanzierung oder der Freikirchen in souveräner Pointierung erörtert.
»Protestantische Milieus und Gruppen« (100–123) evaluiert in sachnaher Vertrautheit Gisa Bauer. Dabei mag erstaunen, wie viele Bewegungen, von den Freidenkern über etliche andere kirchliche Clusterbildungen bis hin zu völkischen Zirkeln, sich damals zu etablieren vermochten, während sich der Verbandsprotestantismus, von dem nur die fünf wichtigsten Formationen porträtiert werden konnten, in entsprechender Vielfalt ausdifferenzierte. Einen konzisen, systematisch geordneten theologiegeschichtlichen Längsschnitt (124–147) fügt Reiner Anselm in das Gesamtbild der Zeit ein. Nachdem er das zwischen »Kontinuitätslinien und Neuaufbrüche[n]« (124) oszillierende Laboratorium der Weimarer Theologie insgesamt profiliert hat, kommt zunächst die Etablierung der sogenannten Dialektischen Theologie in den Blick, die von Karl Barth zwar maßgeblich vorangetrieben, zugleich aber auch von etlichen Anderen als das Aufbegehren junger Theologen gegen die Herrschaft der theologischen Vätergeneration inszeniert wurde, sich alsbald pluralisierte (vor allem Friedrich Gogarten, Rudolf Bultmann) und in dem »anderen Aufbruch« (Heinrich Assel) nationalkonservativer Theologen (vor allem Paul Althaus, Emanuel Hirsch), aber auch in der transnationalen Bewegung des Religiösen Sozialismus kräftig alterniert worden ist.
Das Themensegment »Bildung und Kultur« wird ausnahmsweise von zwei Personen erörtert. Unter dem ersten Stichwort widmet sich Antje Roggenkamp der Bildungs- und Schulpolitik und zumal deren staatlichen Vorgaben und pädagogischen Ausbildungsstätten (148–155). Wesentlich ausführlicher inspiziert unter dem zweiten Stichwort Katharina Kunther das kirchliche Pressewesen, ferner Umgang und Nutzung der neuen Medien Rundfunk und Kinofilm – 1931 trat in Kassel der erste evangelische Filmkongress zusammen! (vgl. 163) – sowie die mit dem institutionalisierten Protestantismus allenfalls rhapsodisch verbundenen Felder der Literatur, Kunst, Architektur und Musik (156–172), für die man sich weniger Schmuckwerk aus klangvollen Namen und Titeln, dafür stärkere protestantismusspezifische Zuspitzung hätte vorstellen können.
Das thematisch korrespondierende Phänomen »Ökumene« (173–195) fiel bei Thomas Martin Schneider in höchst kundige Hände. In kompendienhaft präzisem Zugriff rekonstruiert er zunächst die kaiserzeitliche Vorgeschichte, um danach die neu gegründeten protestantischen Kirchenbünde ins Auge zu fassen, die Weltkirchenkonferenzen von Stockholm (1925) und Lausanne (1927) eingehend zu analysieren, dabei aber auch die lutherischen Unionsbestrebungen und den ökumeneasketischen römisch-katholischen Weg zu bedenken. Dass seine profunde Darstellung sachgemäß in die Inspektion nationalkirchlicher Bestrebungen ausmündet, weist auf die bald danach anbrechenden düsteren Zeiten voraus. Ebenso kundige, kompetent differenzierende Erhebungen zu Diakonie und dem »Krisenmodus« (210) der Inneren Mission (Norbert Friedrich; 196–214) sowie zu dem intrikaten Verhältnis von Chris-ten und Juden (Siegfried Hermle; 215–237) ergänzen die sektoral zugeschnittenen Beiträge zu einem abgerundeten Bild.
Das den Band prägende Leitinteresse an der gesellschaftlichen Vernetzung des Protestantismus hätte gewiss keinen Schaden erlitten, wenn über die beackerten Felder hinaus auch binnenkirchliche Aspekte, zumal die Entwicklung des liturgischen, homiletischen und katechetischen Praxisvollzugs, zum Thema gemacht worden wären. Ob der im Haupttitel aufscheinende Unterstrich der neckischen Absicht entspringt, den globalen Digitalisierungsschub zu ironisieren, bleibt dem Rezensenten unergründlich.
Mochte die »Einführung« (7 f.) der Herausgeber zunächst die Frage herausfordern, wie die beiden mit dem Band intendierten Zielrichtungen, »eine umfassende [!] Darstellung zu wagen« und den Stoff »kompakt [!] zu präsentieren« (7), miteinander vereinbar sein sollten, so ergibt sich die Antwort, sobald man die Strukturierung des Bandes beachtet, von selbst. Denn während die referierten Einzelstudien ihre Gegenstände tatsächlich, soweit es der äußere Rahmen erlaubte, »umfassend« darbieten, stellt Harry Oelke mit dem ersten, eine »Gesamtschau« (9–32) bietenden Kapitel ein trefflich akzentuierendes »kompaktes« Summary voran, das den Leserinnen und Lesern nicht nur komprimierte vorläufige Informationen bietet, sondern ihnen auch das extensive nachläufige Studium der Spezialbeiträge schmackhaft zu machen versteht.
Wie es einem solchen Handbuch geziemt, notieren die Teilabhandlungen am Ende jeweils nur wenige, repräsentative Empfehlungen zur Erstlektüre, deren dergestalt angeregter Appetit durch das am Ende des Bandes eingestellte ausführliche Literaturverzeichnis (238–253) hinreichend gestillt werden kann. Das »Personenregister« (254–261) erleichtert den zügigen punktuellen Ge­brauch, der freilich durch ein Sachregister noch zusätzlich hätte unterstützt werden können.
Die insgesamt überzeugende Qualität dieses im Taschenformat vorliegenden Handbuchs lässt auf eine rasch notwendig werdende Folgeauflage hoffen. Dort sollten dann auch die zahlreichen Zwischenüberschriften der Beiträge in das Inhaltsverzeichnis eingespeist werden, damit sie die »schnelle Orientierung« (8), der sie nach Auskunft der Herausgeber dienen sollen, weiter beschleunigen können.