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Ausgabe:

Juli/August/2020

Spalte:

661–663

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Smith, Mark S.

Titel/Untertitel:

The Idea of Nicaea in the Early Church Councils, AD 431–451.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2019. 256 S. = Oxford Early Christian Studies. Geb. US$ 85,00. ISBN 978-0-19-883527-1.

Rezensent:

Wolfram Kinzig

Mit dem »Glauben von Nizäa« ist alles gesagt – das war das Mantra aller (neu)nizänischen Theologen des 4. und 5. Jh.s. Das Konzil von Ephesus von 431 entschied darum auch, dass kein weiteres Glaubensbekenntnis aufgestellt werden dürfe (sogenannter Kanon 7). Aber so einfach war es natürlich nicht, denn man stritt sich um die Frage, ob mit Nizäa alles klar und ausführlich genug gesagt sei, um »Häresien« wie den Apolinarismus und die Auffassungen der »Pneumatomachen« sowie später die miaphysitische Lehre des Eutyches abzuwehren.
Diese Diskussionen sind Thema einer erfreulich schlanken Dissertation, die Mark S. Smith unter der Betreuung durch Thomas Graumann in Cambridge angefertigt hat. Dabei scheinen Graumanns Interessen an den theologischen Diskussionen der ökumenischen Konzile auch bei seinem Schüler S. deutlich durch. Letzterer schlägt dann aber mit der Frage nach der Rezeption des Nizänums (N) Wege ein, die über die ältere Diskussion (wie sie neben Graumann z. B. bei A. de Halleux und H. J. Sieben zu finden ist) hin ausführen und ganz neue Gebiete in der Symbolforschung er­schließen.
Dabei interessiert sich S. vor allem für die konziliare Rezeption von N und legt seinen Schwerpunkt auf die christologischen Auseinandersetzungen des 5. Jh.s. In deren Zentrum stand nach S. die Frage, wie man angesichts neuer theologischer Herausforderungen die Kontinuität mit der nizänischen Vergangenheit gewähr-leisten könne. Dies setzte eine eigentümliche Dynamik in Gang: Jede »Rezeption« Nizäas im fraglichen Zeitraum habe »eine intrinsische Vorläufigkeit und Unvollständigkeit« beinhaltet und immer wieder neue Fragestellungen provoziert. Der ostentative Konservatismus der Väter habe dogmatische Innovationen nicht verhindert, sondern sei eine Hülle gewesen, unter der sich diese Innovationen vollzogen. In dieser Ambivalenz habe »Nizäa« das »labile Herz« (»un­stable heart«) des konziliaren Diskurses des 5. Jh.s dargestellt (5  f.).
Die sechs Hauptkapitel im Anschluss an die knappe Einleitung (Kapitel 1) erschließen die wesentlichen Etappen der Rezeption von N: Die Vorgeschichte (Kapitel 2) umfasst die Zeit zwischen den Konzilen von Nizäa und Ephesus. S. sieht Athanasius als Schlüsselfigur in der Durchsetzung von N als vorgeblich ausreichender, in Wahrheit aber unvollständiger Formel. Gleichzeitig habe er die Autorität des Konzils von Nizäa in völlig ungeschichtlicher Weise etabliert. Die neunizänischen Theologen hielten ebenfalls an der Suffizienz von N fest, wobei sie entweder in der unveränderten Formel einen hermeneutischen Schlüssel zur Deutung und Interpretation neuer theologischer Argumentationen sahen oder aber (etwa im Hinblick auf die Pneumatologie) N ergänzten oder N – wie im Fall von Konstantinopel 381 – auch durch ein neues »nizänisches« Be­kenntnis ersetzten.
Sodann wendet sich S. in Kapitel 3 ausführlicher dem Konzil von Ephesus (431) und seiner Vorgeschichte zu. Die Auseinandersetzung um N sei eine Art »Bürgerkrieg« innerhalb der (nizänischen) Orthodoxie gewesen, weil es keine allgemein akzeptierte Möglichkeit gegeben habe, zu einem Urteil über die »richtige« Interpretation dieses Symbols zu kommen (36). Während Nestorius eine eher literale Lesart von N geboten habe, sei der frühe Kyrill weniger vom Wortlaut als vielmehr vom mutmaßlichen Skopos des Bekenntnisses ausgegangen. Dabei habe er sich zusätzlich auf Athanasius als Teilnehmer von Nizäa sowie auf weitere Kirchenväter berufen, die somit implizit als zweites hermeneutisches Prinzip neben Nizäa traten. Erst im Zweiten Brief an Nestorius habe Kyrill eine ebenso eng dem Text folgende Argumentation wie Nestorius entwickelt, sei dabei aber weniger der (äußeren) Syntax des Bekenntnisses als vielmehr dessen innerer, theologischer Logik gefolgt. S. sieht darin die größere theologische Kreativität Kyrills, der damit allerdings auch anfälliger für Kritik der Gegenseite gewesen sei.
Kapitel 4 thematisiert im Wesentlichen die Diskussionen im Anschluss an Ephesus bis in die 440er Jahre. In dieser Zeit sei eine komplexe und pluriforme Rezeption von N zu beobachten. Es musste nun nicht nur eine orthodoxe Interpretation von N selbst, sondern auch der konziliaren Tradition nach N bis hin zu Ephesus entwickelt werden. N war dabei »die der Kontroverse zugrunde liegende Quelle, bot aber ebenso einen Ansporn dazu, mittels kreativer gedanklicher Arbeit eben diesen Streit beizulegen« (138).
Insgesamt unterscheidet S. nach Ephesus vier Strategien im Umgang mit N: 1.) eine »kyrillische« Minimalrezeption, wie sie in kaiserlichen Edikten und in Sokrates’ Kirchengeschichte er­kennbar wird; 2.) eine »moderate« antiochenische Rezeption, vor allem bei Johannes von Antiochien; 3.) eine »hard-line« kyrillische Re­zeption bei Kyrill selbst und bei seinen Anhängern; und 4.) schließlich eine »hard-line« antiochenische Rezeption, deren Vertreter wie Theodoret und Eutherios von Tyana die kyrillischen Sitzungen in Ephesus rundheraus ablehnten und die authentische Interpretation allein bei den verfolgten Nestorius-Anhängern repräsentiert sahen (138). Gleichzeitig kam es zu unterschiedlichen Lesarten von N auch dadurch, dass man sich entweder an der ephesinischen Sitzung vom 22. Juni oder der vom 22. Juli 431 orientierte. Diese unterschiedlichen Rezeptionslinien kollidierten ab 448 miteinander.
In Kapitel 5 diskutiert S. dann ausführlich die Synodos ende-mousa in Konstantinopel von 448. Er sieht sie als Beginn eines »offenen Konflikts« zwischen der antiochenischen und der »hard-line« kyrillischen Rezeption von Nizäa und Ephesus. Hier (wie übrigens auch bei Ephesus) zeigt S. anschaulich, wie man auch die Konzilsakten manipulierte, um eine bestimmte theologische Strategie zu unterstützen. Trotzdem sei es Flavian von Konstantinopel nicht gelungen, seine Version des nizänischen Glaubens gegenüber Eutyches’ Abwehrstrategie plausibel zu machen, weshalb er sie schließlich aufoktroyieren musste. Am Ende war unklar geblie-ben, welche der verschiedenen Versionen von Ephesus I, wie sie sich in unterschiedlichen Dokumentsammlungen niederschlugen, die Leistung dieses Konzils und damit seine Autorität am deutlichsten zum Ausdruck brachte (156).
In der »Räubersynode« von 449 (Kapitel 6) sei diese Auseinandersetzung kulminiert. »Nizäa« war nunmehr nur noch eine Chiffre, die als Legitimation für ganz gegensätzliche Reaktionen kirchenrechtlicher Art diente, so dass Theodosius II. am Ende nichts anderes übrigblieb, als selbst zu intervenieren. Dennoch sei Ephesus II durchaus kreativ gewesen: Die offizielle Rezeption von Ephesus I und die Aufwertung von Kanon 7 konnte nun als Waffe gegen jeglichen Zusatz zu N dienen. Durch die Einreihung in die Linie der Konzile von 325 und 431 habe sich die Synode eine besondere Autorität zu verschaffen versucht. N wurde also nicht einfach wiederholt, sondern in der Interpretation durch Ephesus I in Form einer »verjüngenden Rezeption« (H. R. Jauß) gelesen. Das führte dazu, dass man einerseits die fortdauernde Geltung von Kanon 7 herausstellte, aber andererseits den nizänischen Glauben kyrillisch überformte. Gleichzeitig drohte Ephesus II damit aber diesen Glauben auch zu zementieren, was Chalkedon nur mit Mühe zu verhindern vermochte (169 f.).
Das Kapitel zu Chalkedon (Kapitel 7) ist Abschluss und Kernstück des Buches. Nach Kaiser Markians Vorstellungen sollte dieses Konzil den nizänischen Glauben in autoritativer Weise so reformulieren, dass die Strategie des Dioskur und des Eutyches, die Debatte um N als beendet zu erklären, als irrig entlarvt würde (185). Markian erreichte dies dadurch, dass er N um das Bekenntnis von Konstantinopel (C) und eine Reihe von Väterschriften ergänzte. So wurde im Verlauf der Debatten in die kyrillische konziliare Reihung Nizäa-Ephesus ein weiteres Konzil (Konstantinopel 381) eingefügt, womit der Kaiser Kanon 7 die Spitze nehmen konnte. Das wiederum eröffnete die Möglichkeit, durch eine neue Glaubensdefinition die noch offenen christologischen Fragen so weit wie möglich zu klären und so die Auseinandersetzungen ein für allemal beizulegen – eine vergebliche Hoffnung, denn die Glaubensdefinition konnte N in der Zeit nach Chalkedon nicht den Rang ablaufen.
S.s Darstellung, deren subtile Argumentation durch eine profunde Quellenkenntnis unterfüttert und durch eingeschobene Einzelresümees und eine übersichtliche Gesamtzusammenfassung (Kapitel 8) vorzüglich gegliedert ist, liest sich sehr flüssig.
S. bietet in seiner sorgsamen Analyse der konziliaren Äußerungen zu N eine ganze Reihe feiner Beobachtungen, von denen ich für meine eigene Arbeit an den Symbolen viel gelernt habe. Ob seine prononciert vorgetragene These, N sei das »Herz« des konziliaren Diskurses des 5. Jh.s gewesen, tragfähig ist, muss die weitere Diskussion zeigen. Hier nur so viel: Ich frage mich, ob S. damit nicht genau dem Diskurs über N auf den Leim geht, den er dekonstruieren will. Abgesehen von allen kirchenpolitischen Verwerfungen entspannen sich die Debatten um die Suffizienz von N doch gerade, weil das Symbol zwar die Göttlichkeit Jesu Christi festschrieb und in nuce auch eine Trinitätslehre enthielt, aber den biblischen Daten und den sich daraus ergebenden, primär christologischen Fragen eben nicht vollumfänglich gerecht wurde (und dies auch gar nicht beabsichtigte). Insofern ist N ein wichtiger Teil des Diskurses und ein zentraler Referenzpunkt – aber das theologiegeschichtliche »Herz« der Auseinandersetzungen des 5. Jh.s ist die Frage nach der besonderen Gestalt Jesu Christi.
Kleinere Korrekturen: 195, Fn. 98–100: Verweise auf ACO-Bände falsch; richtig jeweils »ACO II.1.2«. In Actio IV.9.5 wird im Übrigen nicht, wie in Fn. 99 behauptet, ἔκθεσις im Plural allein auf N bezogen, sondern es wird ebenso C genannt. 198, Fn. 118: Statt »IV.9.102« muss es »IV.9.132« heißen. 199, Fn. 121: Die Belege »IV.9.12«, »IV.9.14« und »IV.9.28« sind hier zu streichen, denn Seleukos von Amaseia, Theodor von Damaskus und Sabas von Paltos beziehen Kyrill und Leo auf Nizäa (und Sabas auch auf Ephesus) und bieten so sehr wohl eine »conciliar association«.
Leider ist auch bei S. (wie in mittlerweile einer ganzen Reihe ähn-licher Publikationen) zu beobachten, dass der Text der ACO ein-fach aus dem Thesaurus Linguae Graecae kopiert wird, ohne die Schwartzsche Vorliebe für Iota adscriptum zu beachten und das Griechische entsprechend zu korrigieren. Ich wage nicht zu beurteilen, ob Schwartz’ Schreibweise philologisch exakter ist als das sonst in den meisten Editionen gebrauchte Iota subscriptum – lesefreundlicher ist Letzteres aber in jedem Fall.