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Ausgabe: | Juli/August/2020 |
Spalte: | 605–618 |
Kategorie: | Aufsätze |
Autor/Hrsg.: | Ingolf U. Dalferth |
Titel/Untertitel: | Sind wir noch urteilsfähig? Gegenwärtige Herausforderungen der Theologischen Literaturzeitung |
Als ich vor zwanzig Jahren die Aufgabe übernahm, die ThLZ herauszugeben, wusste ich nur vage, worauf ich mich da einlassen würde. Zwar war mir klar, dass eine Zeitschrift, die monatlich erscheint, mehr Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen dürfte als eine der halb- oder vierteljährlich erscheinenden Fachzeitschriften. Manches, was ich zuvor getan hatte, habe ich daher damals beendet, um mich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Aber schnell wurde mir deutlich, dass ich eigentlich nichts aufgegeben, sondern nur sehr viel dazugewonnen hatte. Für jemanden, der sich nicht nur für sein engeres Fachgebiet, sondern – sicher in unterschiedlicher Intensität – für das ganze Feld der Theologie und Religionswissenschaft interessiert, ist es eine wunderbare Chance und ein kaum zu überschätzender Gewinn, jeden Monat mit den neusten Publikationen aus allen Bereichen der Theologie und Religionswissenschaft zu tun zu haben. Zwanzig Jahre intensives Studium der theologischen und religionsphilosophischen Erscheinungen nicht nur aus dem deutschsprachigen Bereich, zwanzig Jahre jeden Monat die Frage, was davon besprochen werden könnte, sollte, müsste, zwanzig Jahre Einblick in die manchmal eigenartigen Empfindlichkeiten, aber immer wieder auch beeindruckende Korrekturbereitschaft von Autorinnen und Rezensenten und Rezensentinnen und Autoren, aber auch zwanzig Jahre Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, die das Herausgebergremium der ThLZ bilden und auf je ihre Weise und ihren Gebieten so viel wissen, wie keiner von uns jemals allein wissen könnte. Es war ein Privileg, diese Zeitschrift herauszugeben, und ich bin dem Verlag und den Kolleginnen und Kollegen im Herausgeberkreis sehr dankbar, dass sie mir diese intensive Lernerfahrung ermöglicht und es so lange mit mir ausgehalten haben.
I Die Krise des wissenschaftlichen Publikationswesens
In diesen zwanzig Jahren hat sich vieles tiefgreifend verändert. Technologische Entwicklungen und gesellschaftliche Umbrüche haben neue Möglichkeiten eröffnet, aber auch bislang ungelöste Probleme geschaffen. Ich kann das in diesem Rahmen nicht umfassend erörtern, sondern greife vier Problemfelder heraus, die aus meiner Sicht für die Zukunft der ThLZ besonders wichtig sind: die Krise des wissenschaftlichen Publikationswesens, die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien, die Globalisierung der theologischen Wissenschaft und die Tendenzen ideologischer Selbstzerstörung in den Geisteswissenschaften.
Das überkommene Bild war einfach: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen forschen und schreiben Aufsätze und Bücher. Verlage publizieren Zeitschriften, Bücher und Buchreihen, in denen Forschungen veröffentlicht werden können. Sie finanzieren sich durch den Verkauf der Produkte, die sie herstellen. Sie benötigen akademisch ausgewiesene Experten und Expertinnen als Autoren und Fachherausgeber, und sie bieten ihnen eine Plattform, um ihre Entdeckung und Erkenntnisse der Wissenschaftsgemeinschaft und einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Falls sie finanziellen Gewinn machen, beteiligen sie die Autoren und Autorinnen in vertraglich geregelter Weise daran, falls sie Verluste machen, tragen sie die Risiken selbst.
Von diesem kooperativen Arrangement, von dem beide Seiten profitierten, ist heute wenig übriggeblieben. Durch das veränderte Lese- und Kaufverhalten, durch politische Entscheidungen und durch rechtliche Regelungen ist die Produktionsweise wissenschaftlicher Verlage weltweit in eine Krise geraten. Der Rückgang der Verkaufszahlen pro Buch nötigt die Verlage, Bücher mit geringerer Auflagenzahl zu drucken: Wo weniger gekauft wird, werden die Auflagen kleiner. Geringere Auflagen werden durch eine größere Zahl von Publikationen ausgeglichen: Wo weniger Buchexemplare verkauft werden, müssen mehr Bücher verlegt werden, um den gleichen Gewinn zu erzielen. Mehr Bücher aber führen zur Überschwemmung des Marktes, zum Abbau von Wissenschaftskriterien für Publikationen, zur Orientierung an Zeitgeistthemen und nichtwissenschaftlichem Publikumsgeschmack, zur Abhängigkeit von Tagesaktualitäten, zur riskanten Ausrichtung auf neue Leserkreise und zum Abbröckeln der alten Abnehmer und Abonnenten, die aus Altersgründen weniger werden und nicht mehr kaufen und lesen, was publiziert wird. Wo es aber weniger Käufer und Leser pro Buch gibt, wird es notwendig, mehr Bücher in geringeren Auflagen zu drucken … usw. usf. – ein Kreislauf, der zum Sterben der Verlage führt, zu Verlagskonzentrationen und zur Vorordnung wirtschaftlicher vor wissenschaftlichen Kriterien bei Publikationsentscheidungen.
Doch dieser Prozess hat ökonomisch keine Zukunft. Waren Dissertationsverlage vor einigen Jahrzehnten noch ein Geschäftsmodell, gefördert durch das Publikationserfordernis in Promotionsordnungen, kann man das heute nicht mehr sagen: Es genügt, die Arbeiten auf dem Server der Universität öffentlich zugänglich zu machen. Und waren traditionsreiche Zeitschriften vor Jahren noch eine Bank, auf die man bauen konnte, werden heute beinahe täglich neue Zeitschriften und Reihen gegründet, in denen jeder, der w ill, alles publizieren kann, was die Welt niemals wissen wollte und niemand liest. Die Zunahme der Buchproduktion steht in direktem Verhältnis zur Abnahme der Zahl der Leser eines Buches. Die meisten Bücher heute werden nicht vergessen, sondern nie gelesen. Zeitschriftenaufsätze haben eine etwas bessere Chance, wahrgenommen zu werden. Aber auch sie gehen in der Zahl der Publikationen unter. Mehr als je zuvor wäre sachkundige Orientierung in dieser Publikationsflut notwendig. Doch die Selektionsfunktion der Wissenschaftsverlage als Beitrag zur Entwicklung der Sachdiskussionen in den Fachgebieten wird offen in Frage gestellt und fällt zunehmend aus. Kein Wunder, dass die Frage nach dem Sinn und der Notwendigkeit dieser Art von wissenschaftlichem Publikationswesen immer lauter gestellt wird.
Das hat auch mit der Open Access-Bewegung zu tun, die durch die finanzielle Gier einiger wissenschaftlicher Großverlage ausgelöst wurde und von nicht wenigen als Befreiungsbewegung ausgebeuteter Autoren aus der Macht der Verlage und als Rückführung der Verwertungsrechte für Publikationen, deren Forschung mit öffentlichen Geldern finanziert wurde, aus privater in die öffent-liche Hand begründet wird. Beides ist als pauschale Begründung wenig überzeugend, so gewiss es für Einzelfälle zutreffen mag. Jedenfalls ist im Zuge dieser Bewegung die gesellschaftlich gewünschte und politisch gewollte Umgestaltung des Publikationswesens von leserfinanzierten Fachpublikationen zu autorenfinanzierten Publikationsformen in vollem Gange. Die politische Öffentlichkeit, staatliche Einrichtungen der Forschungsförderung und eine wachsende Zahl von Universitäten drängen auf kosten-freie Online-Veröffentlichung ohne Verzug. Selbst die »grüne« Variante, bei der die Inhalte erst nach einer Embargofrist gratis ins Netz gestellt werden, soll möglichst schnell und überall durch die »goldene« Variante ersetzt werden, die alles sofort für alle verfügbar macht, was mit öffentlicher Unterstützung erarbeitet wurde und veröffentlicht wird.
Für Verlage und Fachzeitschriften stellt sich daher die Frage, ob sie künftig die Autorenfinanzierung obligatorisch machen müssen, um Publikationen noch finanzieren zu können. Auch wenn manche davon träumen mögen: Ohne Finanzierung kommt keine Publikationsform aus, auch keine Selbstvermarktung über eine online-Plattform. »Ohne bezahlten Sachverstand« gibt es »keine Textverwaltung.«1 Zwar gibt es heute Software für das »Management von Kommunikation und Lektorat«, aber für »inhaltliche Schwerpunkte und qualitative Standards ist diese […] zum Glück noch nicht zuständig.«2 Wer aber soll für diese sorgen, wenn den Wissenschaftsverlagen dafür die finanziellen Instrumente entzogen werden?
Es ist unumgänglich, die Rolle und Bedeutung der Wissenschaftsverlage für Forschungen und Publikationen auch im Bereich der Theologie und Religionswissenschaft neu zu bedenken. Dass Leserinnen und Leser einander mitteilen können, warum ihnen bestimmte Inhalte oder Veröffentlichungen gefallen oder nicht gefallen, ist keine ernsthafte Alternative zur kritischen Besprechung durch Expertinnen und Experten. Wer darauf nicht verzichten will, muss über die Finanzierung dieser Fachbegutachtung nachdenken. Wer sich dem entzieht, stellt unseriöse Forderungen auf, wie gut gemeint diese auch sein mögen.
Für die ThLZ bedeutet das, dass sie sich auch in der EVA, der sie sehr viel verdankt, keineswegs auf Dauer in einem sicheren Hafen befindet. Rückgehende Abonnementszahlen, das schwindende Interesse von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern an den Universitäten, der Ausfall der klassischen Leserklientel in den Pfarrberufen, der Reputationsverfall wissenschaftlicher Theologie in der Kirche und an den Universitäten, das Wegbrechen der klassischen käuferbasierten Finanzierung durch die Verfügbarkeit ihrer Inhalte in Universitätsnetzen, die allen Lehrenden und Studierenden zugänglich sind, die Verlagerung von immer mehr Diskussionen auf Online-Plattformen, die allen ohne Fachverantwortung offenstehen, all das und manches mehr nötigt die ThLZ, sich um neue Finanzierungsmöglichkeiten zu bemühen, um auf absehbare Zeit weitermachen zu können. Hier liegt eine Hauptherausforderung für meinen Nachfolger, und ich beneide ihn nicht darum.
Der technologische Fortschritt und die Prozesse der Digitalisierung haben in den vergangenen Jahren alle Wissenschaftsbereiche erfasst. Vieles ist damit möglich geworden, von dem man vor nicht allzu langer Zeit nur träumen konnte, aber auch manches nicht mehr möglich, was man für selbstverständlich gehalten hat.
Die elektronische Verfügbarkeit einer immer größeren Menge an Literatur und die direkte Zugriffsmöglichkeit auf fast alles, was man lesen möchte oder muss, hat die Lese- und Arbeitsgewohnheiten nicht nur der Studierenden, sondern auch der Forschenden und Lehrenden in Theologie und Religionswissenschaft verändert. Das Problem ist schon lange nicht mehr, Literatur zu einem Thema zu finden. Das Problem ist vielmehr, aus der unüberschaubaren Menge der Literatur das auszuwählen, was sich zu lesen und zu studieren lohnt, und zwar mit Gründen und nicht in blinder Willkür.
Wo ungefiltert alles verfügbar ist, wird aus distinkten Stimmen eine bloße Geräuschkulisse, die keine Orientierung mehr ermöglicht. Sucht man Literatur zu einem Thema, greift man nicht selten willkürlich auf irgendetwas zu, ohne sich um dessen sachliches Gewicht und wissenschaftliche Relevanz zu kümmern, und das befördert die Gefahr, dass es zu keiner ernsthaften Sachdiskus-sion mehr kommt, weil jeder anhand von anderem über anderes spricht. Oder man hält sich nur noch an die websites seiner Bezugsgruppe, um sich zu informieren. Dort entspinnen sich bestimmte Diskussionsfäden, an die man anknüpfen kann, aber man liest und hört auch nur das, was die eigene Bezugsgruppe oder #community hört und liest und was einem von dort zugespielt wird. Dadurch entstehen Blasen von in sich versponnenen Diskussionen, die sich vor allem auf sich selbst beziehen und von den größeren Zusammenhängen abkoppeln. Das gibt es nicht nur bei gesellschaftlichen Themen, sondern auch in den Wissenschaften und der Theologie. Dekolonialisierung, Tierethik, Nuklearenergie, Veganismus, kulturelle Appropriation oder das Klimathema, aber auch die Genderthematik, die Gerechtigkeitsdiskussion oder die Rassismusfrage sind Beispiele, an denen man das belegen könnte. Das Resultat dieser Selbstabschließung von Diskussionen sind geistige Milieus, die nur noch mit ihresgleichen kommunizieren. An die Stelle einer offenen und breiten Auseinandersetzung mit strittigen Themen durch alle Interessierten tritt die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Denkfiguren, Thesen und Argumenten aus Geschichte und Gegenwart in Diskussionszirkeln, die sich nicht mehr aufeinander beziehen, sondern sich nur noch jeweils intern fortschreiben. Für alles gibt es eine #community, jeder versammelt sich hinter irgendeiner Fahne, und der Horizont wird immer enger. Das Internet hat nicht, wie erhofft, das globale demokratische Informations- und Diskussionsforum für alle geschaffen, sondern im Gegenteil die Gefahr befördert, sich nur noch mit seinesgleichen zu beschäftigen. Was als emanzipatorischer Aufbruch mündiger Bürger im Wissenschaftsbetrieb begonnen hat, die sich nicht mehr länger von Experten paternalistisch die Welt erklären lassen wollen, droht in der sektiererischen Selbstabschließung von Gruppen und Grüppchen zu enden, die alle nur noch ihr Thema und ihre Diskussion dieses Themas kennen, aber anderes gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollen.
Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass wir heute eine Unmenge von Wissen at our fingertipps haben, aber kaum noch gesprächs- und urteilsfähig sind. Was einst als Ausdifferenzierung von Wissenschaftsgebieten in immer kleinere Experten- und Spezialistenfelder beschrieben wurde, ist heute ein Verbleiben im Echoraum der eigenen community geworden. Man zitiert sich gegenseitig, verstärkt damit den Eindruck, dass es eine intensive Diskussion gibt, aber verliert den Blick dafür, dass die Sicht der eigenen Gruppe anderswo keineswegs mit derselben Selbstverständlichkeit geteilt wird, von der man selbst ausgeht. Das führt nicht nur im politischen Bereich immer wieder zu Fassungslosigkeiten und Enttäuschungen, weil man gar nicht mehr gemerkt hat oder ernstnehmen kann, dass andere anders denken und leben. Das gilt auch für die akademischen Diskussionen, deren eigentliche Gefährdung nicht ist, dass ungenannt die Gedanken anderer verarbeitet werden, sondern dass viele Arbeiten und Autoren überhaupt nicht mehr beachtet werden, wenn sie nicht zur eigenen Blase gehören. Man stellt Überschaubarkeit her, indem man nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Und man urteilt nicht nur dadurch, dass man andere Positionen kritisch diskutiert, sondern zunehmend auch dadurch, dass man vieles, was nicht in die eigene Sicht passt, erst gar nicht beachtet. Man hält sich an die Literaturauswahl und Diskussionsfäden seiner Gruppe und lässt andere entscheiden, was man liest oder nicht liest.
Angesichts solcher Tendenzen hat die ThLZ heute nicht mehr allein die Aufgabe, kompetent über erschienene Literatur in ihren Rezensionsgebieten zu informieren. Sie muss aus der Fülle der Publikationen das herausheben, was nach dem Urteil des Herausgebergremiums in den jeweiligen theologischen und religionswissenschaftlichen Arbeitsfeldern kritische Beachtung verdient. Und sie muss darauf achten, dass sie dabei nicht bloß die gängigen Denkmilieus und Forschungsrichtungen in den einzelnen Disziplinen bedient, sondern deren Selbstbezüglichkeitstendenzen aufbricht, indem sie ein besonderes Augenmerk darauf richtet, auch die Themen und Publikationen in der Diskussion zu halten, die aus welchen Gründen auch immer zum Schaden des Faches eher ignoriert zu werden drohen. Es wäre zu wenig, nur das zu besprechen, was ohnehin jeder liest. Wir müssen auch das benennen, was man lesen sollte. Das ist eine normative Aufgabe, die nicht nur Fach kenntnisse, sondern Urteilskraft verlangt. In der ThLZ werden jedes Jahr hunderte von Publikationen besprochen, die gezielt aus einer viel größeren Menge ausgewählt und Kolleginnen und Kollegen zur Besprechung anvertraut wurden, von denen wir ein kundiges Urteil erwarten. Wir können nicht alles besprechen, sondern müssen auswählen, also diskriminieren. Das erfordert Fachwissen, aber wir können nicht nur unseren eigenen Überzeugungen und Interessen folgen, sondern haben eine komplexe Verantwortung gegenüber den Autorinnen und Autoren, deren Werke wir besprechen oder nicht besprechen, gegenüber den Fachgebieten, für die wir diese Publikationen zur Besprechung auswählen, und gegen über den Kolleginnen und Kollegen, die wir zur Rezension einladen.
Nicht immer geht das so gut, wie wir es uns wünschen würden. Immer wieder wird etwas Wichtiges übersehen oder nicht angemessen besprochen. Aber das ändert nichts daran, dass die Arbeit am Wissenskanon der Fachdisziplinen und die Beförderung der Urteilsfähigkeit in Theologie und Religionswissenschaft zentral zur Rezensionsarbeit der ThLZ gehören. Wir wollen die relevante Literatur besprechen, und wir wollen dazu beitragen, dass unsere Leserinnen und Leser urteilsfähig werden. Beides gibt es nicht ohne den Streit darüber, was das denn jeweils sein soll und an welchen Kriterien man sich dabei orientieren sollte. Das sind normative Fragen, die in den einzelnen Fachgebieten der Theologie und Religionswissenschaft unterschiedlich beantwortet werden. Aber wir würden unsere eigene Arbeit unterschätzen, wenn wir uns nicht bewusst wären, dass die Auswahl der zu besprechenden Bücher, die Vergabe der Rezensionen und das Rezensieren selbst immer auch einen Beitrag zur Bearbeitung dieser normativen Herausforderungen leisten.
Auch aus diesen Gründen wird die ThLZ nicht von einer Einzelperson, sondern von einem Gremium kompetenter Fachvertreterinnen und Fachvertreter des gesamten Fächerkanons der evangelischen Theologie, der Judaistik und der Religionswissenschaft herausgegeben, die sich ihrer Verantwortung in den genannten Hinsichten bewusst sind. Wir sind nicht fehlerfrei, aber bemüht, Fehler zu vermeiden und aus Fehlern zu lernen. Nur wer urteilsfähig ist, kann begründet kritisieren, und nur wer selbstkritisch ist, kann von anderen erwarten, dass sie seine Kritik zur Kenntnis nehmen. Wer rezensiert, setzt sich immer auch ein Stück weit selbst der Kritik aus. Wer Rechenschaft einfordert, muss auch bereit sein, Rechenschaft zu geben. Das wird angesichts der angedeuteten Entwicklungen auch künftig nicht anders sein, sondern noch wichtiger werden.
Urteilsfähig ist nur, wer auch belastbare Kriterien hat, nach denen geurteilt wird. Gerade hier hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. Forschungen und Publikationen in Theologie und Religionswissenschaft sind irreversibel global, damit zugleich aber auch wachsend orientierungslos geworden: Niemand, der einen beachtenswerten wissenschaftlichen Beitrag zu einem Thema in seiner Disziplin leisten will, kann heute ignorieren, was an anderen Orten der Welt dazu geschrieben wird. Aber wer nur alles Publizierte mitbedenken und mitthematisieren will, ohne klar orientierende Leitlinien zur Beurteilung des kaum noch zu überschauen den Materials zu haben, wird in der Fülle des Verschiedenen untergehen.
Die Möglichkeiten der globalen Kommunikation und die Suche nach Orientierungsgesichtspunkten, die nicht nur hier, sondern auch anderswo gelten, bestimmen heute den Problem- und Wahrnehmungshorizont in allen Disziplinen. Die deutschsprachige Theologie und Religionswissenschaft sind schon lange nicht mehr das Zentrum der Entwicklung. Im Gegenteil, sie greifen immer häufiger auf, was anderswo getan wird oder geschieht. Nicht sie geben die Impulse, sondern andere.
Das ist nicht nur Indiz eines Mangels, sondern auch Ausdruck einer veränderten Situation. Niemand kann sich heute nur noch auf die eigene Konfession, die eigene Tradition, die eigene theologische Position, die eigene Nation oder den eigenen Kontinent beschränken. Die Welt ist eng zusammengerückt, und wer heute Theologie treiben will, ohne über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, hat keine wissenschaftliche Zukunft. Das sage ich im Bewusstsein dessen, dass man überhaupt nichts Beachtenswertes zustande bringt, wenn man es nicht in ganz konkretem Kontext tut. Aber man ist eben damit Teil eines größeren Ganzen, das man nicht ignorieren darf und heute auch nicht mehr ignorieren kann. Auch wer lokal forscht, muss global denken.
In der deutschsprachigen Theologie ist das nicht allen theolo-gischen Fächern gleichzeitig und in gleichem Umfang bewusst geworden. Die biblischen Disziplinen mit ihrem Textbezug haben sich früher in internationalen Fachgesellschaften organisiert als etwa die Systematische Theologie, die oft eher auf Organisationsformen in der je eigenen Tradition setzt. Die deutschsprachige evangelische Dogmatik insbesondere ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht durch ihre Innovationsbereitschaft und Zukunftsorientierung aufgefallen. Sie ist weithin theologiegeschichtlich ausgerichtet, blickt lieber zurück als voraus und teilt sich ein breit überlappendes Feld mit der Theologie- und Kirchengeschichte. Ethik, Praktische Theologie und Religionswissenschaft sind eher der Ort, wo Gegenwartsfragen aufgegriffen werden. Und auch die Religionsphilosophie hat sich inzwischen längst davon emanzipiert, die protestantische Version der katholischen Fundamentaltheologie zu sein. Entsprechend unterschiedlich sind die Publikationen in diesen Fachgebieten. Es sind gerade die Textwissenschaften, die einen internationalen Austausch pflegen und Themenstellungen aus anderen Kulturen aufgreifen, und es sind die praktischen Disziplinen, die auf die zeitgenössische Veränderung einer sich globalisierenden Welt reagieren, während die systematischen Denkdisziplinen eher parochial daherkommen.
In allen Fächern der Theologie ist zudem in den vergangenen Jahrzehnten der Austausch mit den nichttheologischen Paralleldisziplinen so selbstverständlich und intensiv geworden, dass nicht selten dieser Austausch Vorrang hat vor der gemeinsamen Aufgabenstellung als Theologie. Die Bezüge der theologischen Forschung zu den gegenwärtigen Fragen und Problemen in der Lebenswirklichkeit der Kirchen sind heute spürbar undeutlicher als in wichtigen Phasen des 20. Jahrhunderts. Nicht die kirchliche Lebenswelt, auch nicht die innerchristliche Ökumene, sondern der Austausch mit anderen Religionstraditionen und der Gesprächszusammenhang mit den nichttheologischen Nachbardisziplinen sind in der Regel der primäre Anstoß für neue Forschungen und Themenstellungen.
Das ist auch der deutschen Sondersituation theologischer Fakultäten an staatlichen Universitäten in einer zunehmend säkularisierten und plurireligiösen Gesellschaft geschuldet. Die theolo-gischen Fakultäten leben in Deutschland in einer wissenschafts-geschichtlichen Sonderwelt, die angesichts der europäischen Rechtsentwicklungen keine lange Zukunft haben dürfte. Das heißt nicht, dass man ein Ende der christlichen Theologie befürchten müsste. Die wird es geben, solange es organisierte Formen des Chris-tentums gibt. Aber es heißt, dass nicht damit zu rechnen ist, dass evangelische Theologie in Deutschland auf Dauer so praktiziert werden wird, wie wir es seit 200 Jahren gewohnt sind – als komplexes Gefüge von Disziplinen, die sich gegenseitig bedingen und befruchten, eingebettet in ein Geflecht von Geistes- und Sozialwissenschaften, mit denen sie Methoden und Fragestellungen teilen.
Angesichts dieser absehbaren Entwicklungen müsste es eigentlich im Eigeninteresse aller theologischen Disziplinen liegen, nicht nur auf ihre disziplinäre Wissenschaftlichkeit, sondern auf ihren Kirchenbezug und Theologiecharakter zu achten. Man wird nicht sagen können, dass das besonders deutlich der Fall ist. Wo es geschieht, wird der Theologiecharakter des Ensembles der theologischen Fachdisziplinen nicht nur auf eine, sondern auf viele verschiedene und oft gegenläufige Weisen bestimmt. Im singularisch formulierten Untertitel der ThLZ verstecken sich so ganze Bündel von einander widersprechenden Auffassungen und Konzeptionen der Theologie und der Religionswissenschaft. Das Feld ist nicht nur vielfältig, sondern diffus.
Aber auch das kann man mehr oder weniger sein. Während die theologischen Disziplinen durch den Bezug auf das kirchlich organisierte und nichtkirchliche Christentum noch so etwas wie ein einheitsstiftendes Prinzip haben, ist den Religionswissenschaften mit dem Verlust eines aussagekräftigen Religionsbegriffs das Abgrenzungskriterium zu anderen Kulturwissenschaften abhanden gekommen, so dass man nicht mehr klar sagen kann, was eigentlich zu ihren Gegenständen und Themen gehört und was nicht. In beiden Bereichen gibt es so typische Einseitigkeiten. Während es der Theologie oft mehr um ihre Anerkennung als Wissenschaft als um ihren Charakter als Theologie zu gehen scheint, ist die Religionswissenschaft ohne thematischen Kompass anfällig für Zeitgeistthemen.
Diese Entwicklung hat in der ThLZ deutliche Spuren hinterlassen. Sie war nie das Parteiblatt nur einer theologischen Richtung. Sie wollte von Anfang an ein wissenschaftliches Organ für alle Gruppen, Schulen und Ansätze in Theologie und Religionswissenschaft sein – wissenschaftlich gerade in dem Sinn, dass nach wissenschaftlichen Kriterien rezensiert, also auf Integrität, Objektivität, Wahrhaftigkeit, Überprüfbarkeit, Verlässlichkeit, Redlichkeit, Transparenz usf.
Theologische Monotonie und urteilslose Neutralität sind keine Ideale der ThLZ. Wir bestehen auf Wissenschaftlichkeit, also dem Willen zur Korrektheit der Darstellung und der methodischen Nachprüfbarkeit der getroffenen Aussagen. Wir bestehen auf dem Respekt vor den besprochenen Autorinnen und Autoren, auch wenn man deren Ansichten nicht teilt. Aber während wir keine Einhelligkeit des Urteils und keinen bestimmten theologischen Standpunkt bei den Rezensierenden erwarten, erhoffen wir uns doch einen argumentativen Beitrag zu einer Diskussion, die weitergehen könnte und meist auch müsste. Eben deshalb wünschen wir uns Rezensentinnen und Rezensenten, die sich nicht um ein Urteil drücken, nur weil dieses kontrovers sein könnte, die aber auch umgekehrt eine Rezension nicht primär dazu gebrauchen, ihre eigene Sicht der Dinge darzulegen, und kaum noch das zur Debatte stehende Werk zur Sprache bringen.
An diesem Punkt haben sich in den vergangenen Jahren die Gewichte deutlich verschoben. In der Regel werden Rezensionen in der ThLZ an Personen vergeben, die durch eine Promotion als fachkompetent ausgewiesen sind. Das wird nicht überall goutiert. Doch es besteht ein Unterschied zwischen einer interessierten Meinungsäußerung und einem fachlichen Votum, und aus Verantwortung gegenüber den Fachgebieten der Theologie und Religionswissenschaft geht es der ThLZ um Fachurteile und nicht nur um Meinungsäußerungen. Heute freilich wird oft mehr darauf geachtet, wer etwas schreibt oder rezensiert, als was geschrieben wurde oder wie es wissenschaftlich zu beurteilen ist. Inzwischen werden schon Abonnements gekündigt, wenn ein »männlicher Ordinarius« eine »weibliche Privatdozentin« rezensiert und sein Urteil nicht mit ihrem übereinstimmt.
Vorgänge dieser Art signalisieren ein umfassenderes Problem, das für ein Rezensionsorgan wie die ThLZ grundsätzliche Fragen aufwirft. Wo sich die Geisteswissenschaften primär der Rettung der Welt verschreiben, wo sie zum Forum von Gerechtigkeitskämpfen werden, wo bei Forschungsprojekten und Fachdiskussionen vor allem auf die Aufdeckung von Machtverhältnissen geachtet wird, werden Macht- und Gerechtigkeitsfragen schnell zur einzigen Sache, die interessiert. Politische Korrektheit wird dann zur Schlüsselqualifikation, Sprache fungiert primär als Problemanzeige für Patriarchat, Kolonialismus und Rassismus, Ausdrucksweisen werden gerechtigkeitsideologisch reguliert und es wird in Frage gestellt, dass jeder über jedes Thema sprechen darf. Wer nicht zu meinesgleichen gehört, hat kein Recht, meine Ansichten oder Anliegen darzulegen oder gar über diese zu urteilen. Wer es dennoch tut, tut Ungehöriges, weil er meinen Standpunkt einzunehmen, seinen Standpunkt mir aufzudrängen und mich meiner Erfahrung und Sichtweise zu berauben sucht.4 Authentisch kann deshalb nur noch in der ersten Person Singular oder Plural gesprochen werden. Aber das ist das Ende einer ernsthaften Diskussion und wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Wo nur Wir gesagt wird, um die eigene Gruppe von den anderen abzugrenzen, übt man sich in eine selbstverschuldete Sprachlosigkeit ein. Und wo immer nur Ich gesagt wird und schon der Versuch, die Perspektive anderer einzunehmen, als Machtanmaßung kritisiert wird, kommen die Wissenschaft und der wissenschaftliche Austausch zum Erliegen. Davon sind wir hierzulande zwar noch ein Stück entfernt. Aber die Feuer lodern überall, vor allem in den Geisteswissenschaften und damit in der unmittelbaren Umgebung der Theologie.
Alle Fachgebiete der ThLZ stehen in engem Bezug zum Fächerkanon der Geisteswissenschaften. Die aber sind seit einiger Zeit in einer tiefgreifenden Krise. Das hat viele Gründe: die kulturelle Dominanz eines wissenschaftlichen Naturalismus in den letzten Jahrzehnten; die Veränderung der Themen des globalen Nordens durch Fragestellungen des globalen Südens; der Respektverlust gegenüber der Autorität von Experten und das scheindemokratische Verwischen der Unterschiede zwischen Meinungsfreiheit, Redefreiheit und Wissenschaftsfreiheit;5 den Verlust orientierender Bildungskriterien und eines akzeptierten Wissenskanons; die Verdrängung des Bildungsideals urteilsfähiger Selbstdenker durch das der Vermittlung von Fertigkeiten und Kompetenzen für Fachkräfte auf dem Sozial- und Bildungsmarkt – um nur einige zu nennen. Die Geisteswissenschaften haben ihren geistigen Kompass verloren und treiben vielerorts orientierungslos auf dem Meer zeitgenössischer Ideologien – und dazu gehören fast alle gängigen -ismen in den gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen: Sozialismus, Nationalismus, Kolonialismus, Feminismus, Rassismus.
Seit Jahrzehnten hat sich die Meinung ausgebreitet, die primäre Aufgabe in den Geisteswissenschaften sei nicht das Streben nach Erkenntnis und Einsicht in der Erforschung von Kulturen und kulturellen Traditionen, sondern der Kampf gegen die Perpetuierung von Gewaltstrukturen und die Förderung von Diversität und Egalität, nicht wissenschaftliche Objektivität, sondern gesellschaftliche Identitäts- und Gerechtigkeitspolitik.6 Gestritten wird nicht über Wahrheit, sondern über Werte, nicht über Gründe, sondern über Sinn, nicht über das Verstehen von Texten, sondern um den Aufweis von Dekolonialisierungsdefiziten. Heteronormativitäts-, Diversitäts-, Intersektionalitäts- und Rassismusforschung suchen an ihren Gegenständen vor allem politische Mängel aufzudecken und gesellschaftliche Fehlentwicklungen anzuklagen.7 Ganze Denktraditionen und Textbestände Europas werden inzwischen als Gefahrengut deklariert, vor dem man Studierende schützen muss. Man hält diese kontrollierende Fürsorge für die Spitze des wissenschaftlichen Fortschritts und kultiviert am Leitfaden »kritischer Theorie« eine Einteilung von Menschen anhand von Indikatoren wie Gender, Sexualität, Rasse, Ethnizität, Nationalität, Kultur, Klasse, Gesundheit, Alter, Herkunft, Besitz, Religion usf., die unterschiedliche Arten von Ungleichheit und Diskriminierung zu identifizieren erlauben.8 Die Folge ist, dass die geisteswissenschaftliche Forschung und Lehre moralisiert und politisiert wird; dass man Geschichte vor allem betreibt, um Opfer und Täter ausfindig zu machen; dass man Texte primär daraufhin betrachtet, welche Unterdrückungsmechanismen sie manifestieren und welchen Beitrag zur gesellschaftlichen Gleichstellung marginalisierter Minderheiten sie leisten. Man führt bürokratische Kriege um Genderstern und -unterstrich, desavouiert den Humanismus der Geisteswissenschaften als sexistisch oder rassistisch und erklärt die Beschäftigung mit ihren Gegenständen für moralisch fragwürdig, eurozentrisch, gewalttradierend und patriarchalisch verfälscht. Das Ziel ist nicht, erwägenswerte Gesichtspunkte in die Fachdiskussion in den Geisteswissenschaften einzubringen, sondern diese in ihrer bisherigen Form zu beenden. Die Fragestellungen und Denktraditionen der Geisteswissenschaften sollen nicht verbessert, sondern durch etwas anderes ersetzt werden.
Natürlich ist das nicht überall der Fall und zum Glück gibt es noch immer bewundernswürdige Forschungsleistungen, wie unsere Rezensionen jeden Monat demonstrieren. Aber die kulturelle Atmosphäre hat sich gründlich verändert. Sie ist ideologisch geworden. Es geht nicht um Sachfragen geisteswissenschaftlicher Forschung, sondern um die Durchsetzung von Ideen und Wertorientierungen, die darauf abzielen, Machtverhältnisse zu ändern.9 Das geschieht an vielen Fronten, aber auf stets ähnliche Weise. Es beginnt mit konkreten Anlässen, die eine kritische Gegenbewegung verständlich machen und vernünftig erscheinen lassen. Aber dann löst sich die Kritikbewegung von ihren Anlässen, wird auf alles mögliche andere ausgeweitet, etabliert sich als progressive Neuorientierung des ganzen Faches, bis schließlich jede Anfrage an sie zur moralischen Untat erklärt wird. Aus einer kritischen Korrektur wird so eine kritikimmune Ideologie, die ihre Weltsicht und Wertorientierung für alle für verbindlich erklärt. Phänomene aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen werden durch eine zentrale Analysefigur (Kolonialisierung/Dekolonialisierung), die an einer ganz bestimmten Problemlage gewonnen ist (Eurozentrismus), in stereotyp immer gleicher Weise interpretiert. Die Geschichten von Völkern in verschiedenen Kulturtraditionen werden nicht in ihrer historischen Eigentümlichkeit und Nichtvergleichbarkeit gewürdigt, sondern in der Sichtweise einer als Maß stab genommenen Paradigma-Geschichte gedeutet. Menschen werden nicht in ihrer Verschiedenheit, Vielfalt und Individualität anerkannt, sondern als Mitglieder von Gruppen gesehen, die anhand von Kriterien wie Gender, Klasse und Rasse bestimmt sind, ohne zu fragen, ob die so gruppierten Menschen sich auch selbst so identifizieren würden oder wollen. Sie werden von der selbsternannten Fortschrittselite – natürlich zu ihrem Besten – zum Guten fremdbestimmt, aber eben deshalb auch nie auf selbstbestimmte Weise gut. Doch wer Menschen nur nach Herkunft, Ethnie oder Geschlecht bewertet, ohne ihre gemeinsame Menschheit zu würdigen und ihre Selbstsicht ernst zu nehmen, handelt ideologisch. Wer alles in die Sichtweise eines doktrinalen Deutemusters presst, ebenso. Und wer meint, die Welt bessern zu können, indem man Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit, Ungleichheit mit Ungleichheit, Diskriminierung mit Diskriminierung bekämpft, der erreicht aller Erfahrung nach nur das Gegenteil. Es ist höchste Zeit, sich diesen Ideologisierungstendenzen in den Geisteswissenschaften zu widersetzen, sonst werden diese sang- und klanglos aus der Bildungsgeschichte des Westens verschwinden.
Das mag übertrieben klingen, und ich wünschte, das wäre so. Aber leider ist es das nicht. An US-amerikanischen Universitäten werden Kurse und Studienprogramme umgebaut oder eingestellt, weil sie »too white, too European, too male« sind.10 Stattdessen sollen – wie in der Kunstgeschichte in Yale – nur noch Kurse angeboten werden, die »questions of gender, class and ›race‹« ins Zentrum stellen und sich auf das Schlüsselthema »climate change« beziehen.11 Oder, um meine eigene Universität in Kalifornien zu nennen: Den humanities wird nur dann eine Zukunft an der Universität zugestanden, wenn sie sich nicht mehr mit Textarbeit und Klassikerlektüre befassen, sondern transdisziplinär als ethnic studies betrieben werden oder sich zu applied humanities nach dem Modell der Kultur- und Museumswissenschaften umgestalten. Philosophie wurde dementsprechend im letzten Jahr zum überflüssigen Fach erklärt, als Disziplin abgeschafft, und alle Kollegen wurden entlassen. Stattdessen wurde das Diversity Office zur zentralen Einrichtung für Studierende und zur wichtigsten Abteilung der Öffentlichkeitsarbeit der Universität ausgebaut. Alle Fakultäten und Abteilungen haben derzeit unter Anleitung des Affirmative Action and Diversity Committees einen diversity plan zu erarbeiten, der die Umsetzung der universitären core values von diversity, equity, and inclusion belegt.
Dazu gehört auch der Interfaith Calender, der jedes Semester allen Lehrenden mitgeteilt wird und alle religiösen Fest- und Feiertage auflistet, die für Studierende relevant sein können und bei Lehrveranstaltungen und Prüfungsplanungen berücksichtigt werden sollten.12 Kaum ein Tag im Semester ist davon nicht betroffen. Als zu berücksichtigende Religionen werden nicht nur aufgeführt: »Judaism, Islam, Buddhist, Hindu, Christian, Baha’i, Zoroastrian, Sikh, Shinto, Jain, Confucian, Daoist, Native American, Material-ism, Secular Humanism«, sondern auch Mandean, Yezidi, Kemetic Federation, Wicca, Scientology, Caodai, Society of Humankind, Eckankar, Theosophy, New Age, Temple Zagduku, Qigong/T’ai chi, Raelian Church, Asatru, Hellenismos, Yoruba, Rastafari, Unitarian Universalist. Und seit Kurzem sind auch The Church of Satan und die Pastafarians (The Church of the Flying Spaghetti Monster) rechtlich als Religionen anerkannt und zur »family of religions« zu rechnen. Die universitäre Bemühung um gleichgewichtige Berücksichtigung aller wird vor diesem Hintergrund zur Farce, und wo nur einige beachtet werden, ist das immer Anlass für andere, sich diskriminiert und benachteiligt zu sehen.
Die damit angezeigte Situation wirft aber nicht nur organisatorische Probleme auf, sondern verändert auch die inhaltlichen Koordinaten. Vor diesem Hintergrund wundert es wenig, dass die Lei-terin des Department of Religion an der Claremont Graduate University im Frühjahr in einem offiziellen Schreiben den Studierenden nahelegte, sich nicht länger mit »traditional, European, ›dead white guys‹ Philosophy and theology« zu beschäftigen.13 Entsprechend wurde im Verfahren zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls in Religionsphilosophie seitens der Universitätsleitung verfügt, dass keine weißen Männer oder Asiaten berücksichtigt werden dürfen, sondern nur Persons of Color. Aus rund 160 teils hochqualifizierten Bewerbungen wurde ein Kandidat mit Schwerpunkt Africana Studies ernannt, der sich bislang weder in Publikationen noch in Forschung oder Lehre mit Religionsphilosophie befasst hat. Begründet wurde das damit, dass die »White Supremacy« beendet werden müsse, europäische Themen und weiße Männer nicht länger das Feld bestimmen dürften und die Anstellungsstatistik der Universität im Bereich Persons of Color verbessert werden müsse. Das ist kein Einzelfall. Bei Stellenbesetzungen in den Geisteswissenschaften ist Diversität inzwischen immer häufiger kein zusätzliches, sondern das entscheidende Kriterium.
Sagen Sie nicht, dass gelte vielleicht für die USA, aber nicht für Deutschland. Es gibt nicht nur Virusinfektionen, sondern auch Ideeninfektionen. Was in den humanities in den USA geschieht, wird stets auch in Deutschland nachgeahmt. In einer globalisierten Wissenschaftswelt gibt es keine isolierten Inseln mehr. Die Epiphyten gesellschaftspolitischer Ideologien überwuchern überall auf der Welt ihre wissenschaftlichen Wirte und kulturellen Pho-rophyten. Nicht nur in Berlin, Göttingen oder Frankfurt sieht man schon seit geraumer Zeit die Spuren dieses Denkens auch an deutschen Universitäten. Es wäre naiv zu meinen, die ideologische Selbstzerstörung der Geisteswissenschaften werde sich nicht auch hierzulande weiter ausbreiten.
Die Geisteswissenschaften befinden sich an vielen Orten der Welt im freien Fall, weil sie den Sinn für das verloren haben, was sie auszeichnet: die Bildung von Personen zu urteilsfähigen Selbstdenkern. Anstatt diese Fackel in der Gesellschaft hochzuhalten, sind sie zu Vorkämpfern der Diversitätsgerechtigkeit geworden. Doch Diversitätssteigerung und die Gewährung von Sonderrechten für einzelne Gruppen sind kein Weg zum Abbau von Diskriminierung, sondern sie steigern die Diskriminierungsneigung zwischen konkurrierenden Benachteiligtengruppen. Kein Wunder, dass Stellen in den Geisteswissenschaften in großer Geschwindigkeit verschwinden14 und in einer wachsenden Zahl von Ländern geisteswissenschaftliche Departments und Programme geschlossen werden. Sie verbrauchen nur Geld, aber generieren keine wissenschaftlichen Ergebnisse, Erkenntnisse oder Einsichten mehr. Je erfolgreicher ihre selbstgewählte Fokussierung auf politische, gesellschaftliche und kulturelle Emanzipationsaufgaben ist, desto weniger Gründe gibt es, Forschungsmittel für sie auszugeben. Wir leben in Deutschland noch in goldenen Zeiten. Aber wir sollten der Ausbreitung ideologischer Denkmuster in den Geisteswissenschaften nicht erst dann entgegentreten, wenn es zu spät ist.
Die ThLZ ist kein Akteur in dieser Debatte, aber sie bleibt in einem internationalen Umfeld von diesen Entwicklungen nicht unbetroffen. Sie kann und sollte angesichts solcher Entwicklungen für das Offensichtliche eintreten: für Wissenschaftlichkeit, Unparteilichkeit, Ideologiefreiheit und gesunden Menschenverstand. Dreißig Jahre nachdem die ThLZ einem ideologisch geprägten Umfeld entronnen ist, befinden wir uns aufgrund der globalen Verstrickungen der Geisteswissenschaften in einen machtpolitischen Kulturkampf wieder in einem ideologisch geprägten Umfeld.
Tendenzen in der Forschung, die die ideologische Politisierung der Geisteswissenschaften als Fortschritt darstellen, dürfen nicht ignoriert oder hingenommen, sondern müssen benannt und kritisiert werden. Ohne Ideologiekritik ist geisteswissenschaftliche Reflexion und Selbstkritik defizitär. Gerade die gängigen Formen der Ideologiekritik der Geisteswissenschaften bedürfen heute der Ideologiekritik, wenn diese eine Zukunft haben sollen.
Ich sehe in diesen Entwicklungen eine der Hauptherausforderungen für die ThLZ in den kommenden Jahren. Wer Ziele mit Mitteln erreichen will, die diesen Zielen widersprechen, hat nichts aus der Geschichte gelernt. Übel lassen sich nicht durch weitere Übel beenden oder korrigieren, sondern werden auf diese Weise nur fortgeschrieben. Theologinnen und Theologen sollte das keine fremde Einsicht sein. Wo wissenschaftliche Arbeit auf gesellschaftlichen Streit reduziert wird, wo jede Auseinandersetzung in der Sache als Angriff auf persönliche Identität und Integrität verstanden wird, wo niemand mehr die Ansichten anderer beurteilen darf, ohne der Gewaltperpetuierung bezichtigt zu werden, wo nur noch in Kollektiven gedacht wird und wo schon die Sprache, die man gebraucht, pauschal als eurozentrisch, patriarchalisch und Minderheiten diskriminierend kritisiert wird,15 da kann es keine sachliche Auseinandersetzung und keine kritischen Rezensionen mehr geben, sondern nur Bekennerstatements dafür oder dagegen. Das wäre das Ende der ThLZ.
Ihr oberstes Anliegen muss auch in der Zukunft sein, urteilsfähig zu bleiben und urteilsfähig zu machen. Ihr Ziel muss sein, Andersdenkende zu respektieren und ihre Sichtweisen fair wiederzugeben, aber ihnen, wenn es die Sache erfordert, Argumente entgegenzusetzen, ohne sich an ideologischen Grabenkämpfen zu beteiligen. Dazu muss sie sich selbst an den Kriterien messen lassen, auf die sie sich beruft. Kritik ohne Selbstkritik ist wenig über-zeugend, und urteilsfähig bleibt nur, wer sein Urteil der Kritik anderer aussetzt.
Die ThLZ hat eine lange und beeindruckende Tradition kritischer Fachrezensionen in Theologie und Religionswissenschaft. Das wird nur eine Zukunft haben, wenn sie kritik- und selbstkritikwillig bleibt, ideologische Positionen vermeidet und sich um die Förderung kritischer Urteilsfähigkeit bemüht. Dass es dafür Bedarf gibt, wird niemand ernsthaft bezweifeln. Ob man urteilsfähig ist, zeigt sich aber daran, dass und wie man urteilt. Wer sich dem entzieht, ist kein ernsthafter Gesprächspartner. Wer es aber tut, der steht nicht über dem Streit, sondern mitten im Streit. Das gilt auch für die ThLZ. Sie muss aber darauf achten, dass sie als wissenschaftliches Organ dazu beiträgt, dass in Theologie und Religionswissenschaft auch künftig sachlich und nicht ideologisch gestritten wird. Ihr Ziel muss bleiben, ihre Leserinnen und Leser urteilsfähig zu machen und zum kritischen Selbstdenken instand zu setzen. Da gibt es auch künftig viel zu tun – jeden Monat aufs Neue. Ich bin überzeugt, dass das Herausgebergremium und mein Nachfolger das in bester und verantwortlicher Weise tun werden. Ich wünsche ihnen allen erdenklichen Erfolg.
In the past 20 years, technological developments and social upheav-als have opened up new opportunities for the ThLZ, but have also created difficult and as yet unsolved problems. The talk discusses this with regard to four problem areas that are particularly important for the future of the ThLZ: the crisis of scientific and scholarly publishing, the development of new communication technologies, the globalization of theological research and religious studies, and the tendencies of ideological self-destruction in the humanities.
Fussnoten:
1) G. Imdahl, Ein Herausgeberteam kuratiert jetzt auf eigene Rechnung,
www.faz.net/aktuell/wissen/forschung-politik/umbruch-im-kunsthistorischen-
zeitschriftenwesen-16579845.html.
2) Ebd.
3) Vgl. Akademie der Wissenschaften Schweiz, Wissenschaftliche Integrität:
Grundsätze und Verfahrensregeln, Bern 2008
4) Das gilt nicht nur für wissenschaftliche Debatten, sondern auch für Literatur,
Musik und andere Kulturgenres, in denen Formen »kultureller Aneignung
« kritisiert werden. Vgl. E. Bermudez, »Dirt« reveals failing of book industry:
The establishment deemed it the great immigrant novel, yet it doesn’t reflect Latino
experience, Los Angeles Times, Monday, January 27, 2020, B2; H. Volkening,
Kulturelle Aneignung: Das Begehren des Anderen, ZEIT ONLINE 5/10/20,
https://www.zeit.de/kultur/2020-05/kulturelle-aneignung-popkultur-stereotypimitation-
postkolonialismus.
5) Vgl. A. Hayworth, Free Speech, London 1998; L. Alexander, Is There a Right
of Freedom of Expression?, Cambridge/New York 2005; S. J. Brison/K. Gelber, Free
Speech in the Digital Age, Oxford 2019.
6) Vgl. Diversität, Forschung & Lehre 25, 3/18.
7) Vgl. N. Bolz, Herrschaft der Kindsköpfe, Cicero 02 (2020), 15-22.
8) Vgl. H. Lutz/N. Wenning (Hrsg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz
in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001, 20; N. Degele/G. Winker, Intersektionalität
als Mehrebenenanalyse (https://gabriele-winker.de/pdf/Intersektionalitaet_
Mehrebenen.pdf).
9) Vgl. www.nzz.ch/feuilleton/gender-debatte-feminismus-ist-nicht-das-gegenteil-
von-wissenschaft-ld.1307637. Vgl. H. Schnädelbach, Was ist Ideologie?
(http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Schnadelbach_Ideologie.pdf).
10) www.patheos.com/blogs/whatgodwantsforyourlife/2020/02/playinggods-
infinite-game-in-an-age-of-rage/#disqus_thread; vgl. R. Kimball, Civilization
Is History at Yale. Great art is too ‘white, straight, European and male,’ so
it’ll have to give way to the latest agitprop, WSJ (Jan 29, 2020) (www.wsj.com/articles/
civilization-is-history-at-yale-11580342259).
11) Ebd.
12) www.interfaith-calendar.org/
13) Schreiben vom 10. März 2020.
14) K. Carey, The Bleak Job Landscape of Adjunctopia for Ph.D.s, The New York
Times March 6, 2020 (www.nytimes.com/2020/03/05/upshot/academic-jobcrisis-
phd.html). Die Tatsache, dass es heute viel weniger Vollzeitstellen in den
Humanities gibt als vor einer Dekade, ist nicht der Grund für den Reputationsverfall
der Geisteswissenschaften, sondern eher dessen Folge.
15) Vgl. K. Gümüşay, Sprache und Sein, Berlin 2020.