Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

597–598

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schade, Miriam

Titel/Untertitel:

Dem Schrecklichen begegnen. Seelsorge mit traumatisierten Kindern.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 500 S. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 74. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05892-1.

Rezensent:

Andreas Stahl

Die Dissertation von Miriam Schade wendet sich einem ausgesprochen wichtigen und lange vernachlässigten Thema zu: der seelsorglichen Begleitung von traumatisierten Kindern. Diese Aufgabe ins Bewusstsein gerufen zu haben, ist ein erstes wertvolles Verdienst der Arbeit. Gleichzeitig richtet sich das Buch nicht nur an Seelsorgende, sondern ebenso an Lehrer, Erzieher, Jugendreferentinnen und all jene Menschen, die beruflich oder privat traumatisierte Kinder begleiten. Von eigenen konkreten Erfahrungen mit solchen Kindern in brasilianischen Favelas ausgehend und sich auf diese immer wieder rückbeziehend, ist das Forschungsinteresse nicht nur intellektuell, sondern auch existentiell begründet. Die wissenschaftliche Bearbeitung dieser drängenden Thematik wird in fünf Kapiteln vorgenommen.
Das erste Kapitel stellt eine Einführung in die Psychotraumatologie dar. Die grundlegende Bedeutung des Begriffes »Trauma« wird geklärt und in Bezug auf vier wichtige Strömungen der Traumaforschung konzeptionell unterfüttert. Wichtige Traumafolgen werden erläutert und die für die Dissertation wichtigen Besonderheiten kindlicher Traumatisierung herausgearbeitet. Im zweiten Kapitel entwickelt S. ein umfassendes eigenes Verständnis von Seelsorge. Dabei sind Grundlagen, Methoden, Ziele, Chancen und Grenzen von Seelsorge ebenso im Blick wie Anforderungen an Seelsorgende.
Grundlegend für den von S. entwickelten Ansatz insgesamt ist die emotionale Kompetenz der Seelsorgenden: »Ein Seelsorger, der in der Lage ist, seine Emotionen zu erkennen, zu benennen, auszuhalten und zu bearbeiten, ist auch in der Lage, dem traumatisierten Kind im Umgang mit eben diesen Emotionen zu helfen, und damit die Verarbeitung des Traumas zu unterstützen.« Entsprechend wird Seelsorge als »emotionspsychologisches Interaktionsgeschehen« konzipiert. So beschreibt S. im dritten Kapitel Emotionstheorien, die emotionale Entwicklung von Kindern und Zu­sammenhänge zwischen Emotionen und Traumatisierung. Darauf basierend wird das von S. entwickelte Modell dargelegt, das sechs Gruppen von Emotionen (lähmende, aktionistische/agierende, abweisende, handlungsvorbereitende, tragende/unterstützende, annehmende/motivierende) beschreibt und miteinander in Beziehung setzt.
Das darauffolgende vierte Kapitel bildet zweifelsohne das Herzstück der Arbeit. Hier werden die den jeweiligen Gruppen zugeord-neten Emotionen expliziert und detailliert beschrieben. S. nimmt vielfältig Bezug auf aktuelle humanwissenschaftliche Forschung und reichert diese um häufig selbst erhobene Fallbeispiele an. Sehr hilfreich ist, dass S. bei der Beschreibung der Emotionen nicht stehen bleibt, sondern auch Anregungen für den konkreten seelsorglichen Umgang mit diesen gibt. Da viele der thematisierten Emotionen zum Beispiel auch für die Arbeit mit traumatisierten Er­wachsenen von Bedeutung sind, hat das vierte Kapitel Bedeutung über den Fokus der Arbeit hinaus. Das fünfte Kapitel verstärkt diesen praktischen Aspekt noch einmal und bietet »Handreichungen und Methoden.« So stellt das fünfte Kapitel einen Fundus dar, der verschiedene Möglichkeiten aufzeigt, auf welche Weise seelsorg-liche Arbeit mit Kindern konkret möglich ist. Hierbei führt S. als Beispiele verschiedene strukturschaffende Rituale ebenso an wie kreative Methoden und religiöse Handlungen (Gebet und Segen). Auch grundsätzliche Überlegungen zum Aufbau von Vertrauen, zu Resilienz und zu Interventionsmöglichkeiten bei konkreter Ge­fährdung haben in diesem Kapitel Platz.
Insgesamt leistet das Buch Pionierarbeit in einem wichtigen Gebiet. Bei allem berechtigen Zug hin zu eigenen und neuen Konzeptionen hätte die Arbeit allerdings durch Rückbezug auf schon bestehende theologische Traumaforschung im deutschen, vor allem aber auch im englischsprachigen Raum sicher noch gewonnen. Dafür wäre ein Forschungsüberblick eine gute Ausgangslage gewesen. Diese Anmerkung soll aber den Blick auf die höchst praxisrelevante und sehr genuine wissenschaftliche Leistung nicht hindern. Die Dissertation wendet sich einem anspruchsvollen Thema zu und bearbeitet es gekonnt unter verschiedenen Perspektiven. Auch die Relevanz der Traumaforschung für die Theologie tritt deutlich vor Augen und weist auf den wissenschaftlichen Nachholbedarf in diesem Bereich hin. Zu Recht wurde die Arbeit deswegen auch mit einem Dissertationspreis der Universität Jena ausgezeichnet. All dies einbeziehend, ist S.s Arbeit eine breite Rezeption zu wünschen.