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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

595–597

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Haendler, Otto

Titel/Untertitel:

Schriften und Vorträge zur PraktischenTheologie. Eingel., komm. u. hrsg. v. W. Engemann. Bd. 3: Seelsorge. Monographien, Aufsätze und Vorträge.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 718 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-03140-5.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Nach dem Erscheinen des ersten Bandes der Otto-Haendler-Werkausgabe zur Allgemeinen Praktischen Theologie (vgl. meine Anzeige in ThLZ 141 [2016], 1293–1295) und des zweiten Bandes zur Homiletik (ThLZ 144 [2019], 131–132) kann der Wiener Praktische Theo-loge Wilfried Engemann nun in zügiger Folge den dritten Band der Edition vorlegen. Da H. mit seiner Rezeption der Tiefenpsychologie, insbesondere der Komplexen Psychologie Carl Gustav Jungs, vor allem auf die Seelsorgelehre gewirkt hat, ist man mit diesem 3. Band im Zentrum des Haendlerschen Werkes angelangt. Der gesamte dritte Band ist mit Aufsätzen, Vorträgen und Literaturberichten gefüllt, denn ein Lehrbuch der Poimenik hat H. nicht verfasst. Man kann daran erkennen, dass die Zeit vor der empirischen Wendung am Ende der 1960er Jahre vor allem eine Zeit der Homiletik als der »Königsdisziplin« der Praktischen Theologie gewesen ist.
Insgesamt setzen sich im dritten Band der Edition die pastoraltheologischen Grundeinsichten aus den Lehrbüchern der Praktischen Theologie (enthalten in Bd. 1) und der Homiletik (enthalten in Bd. 2) fort. Der Entwurf H.s ist in sich stimmig; ein wenig kritischer könnte man auch sagen, dass so viel Neues in Band 3 nicht zu lesen ist. Dafür handelt es sich bei dem nun vorliegenden aber um den am deutlichsten theologisch profilierten Band. Das Gespräch mit u. a. Barth, Bultmann, Tillich, Albert Schweitzer – und am Rande auch mit Schleiermacher – ist hier, wo H. innerhalb der theologischen Zunft für die Rezeption der Jungschen Tiefenpsychologie wirbt, am stärksten ausgeprägt; man vgl. dazu nur die umfangreichen Artikel aus der ThLZ in den Jahren 1953 (»Komplexe Psychologie und theologischer Realismus. Ein Literaturbericht über C. G. Jung und seinen Kreis«, 488–510) und 1959 (»C. G. Jung – Literaturbericht als Situationsprofil«, 564–602). Dabei ist deutlich, dass das offenbarungstheologische Paradigma von H. zwar einer psychologischen Relektüre unterzogen, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt wird. Bei C. G. Jung ist nach H. »das Tor zur Metaphysik weiter offen«, als das bei Freuds Atheismus der Fall ist, so dass »auf der Grundlage energetisch dynamischen Denkens sich mehr Metaphysik und eher auch Offenbarung erschließen« könne (597, dort kursiv). Aus dieser in Berneuchener Manier geschriebenen Bemerkung geht freilich hervor, dass hier Annäherungen gesucht, aber nicht Klärungen erarbeitet wurden. Auf jeden Fall kann man H. mit Fug und Recht als den Anwalt der Jungschen Psychologie innerhalb der (Praktischen) Theologie bezeichnen. Und weiterhin gültig bleibt H.s Mahnung aus dem Jahre 1959: »Die verbreitete Neigung der Theologen, empirischen Tatbeständen dogmatische Thesen entgegenzuhalten, verfehlt die Wirklichkeit und beeinträchtigt Verkündigung und Seelsorge.« (599)
Der 3. Band der Otto-Haendler-Edition enthält vier Teile. Nach dem Beginn mit der kleinen Monographie aus dem Jahr 1952 unter dem Titel »Angst und Glaube« (51–198) hat Engemann die Aufsätze und Vorträge nach drei Themenschwerpunkten angeordnet: Es geht um »Das Leib-Seele-Problem in theologischer Sicht« (199–262), um »Grundlagen und Perspektiven der Seelsorge« (265–476) und schließlich um »Spezielle Fragen der Theorie und Praxis der Seelsorge« (479–651). Dabei ist der Unterschied nicht immer ganz trennscharf, denn die Hauptfrage in den Teilen III und IV ist immer wieder die Bedeutung der Tiefenpsychologie vor allem Jungs für die Theologie und vice versa. H. hat insbesondere in der »Arbeitsgemeinschaft Arzt und Seelsorger« eine wichtige Vermittlerrolle ge­spielt – nicht zuletzt auch im Hinblick auf die beiden sich zunehmend voneinander entfernenden Teile Deutschlands.
Doch primär kam H. eine vermittelnde Funktion innerhalb der Theologie zu, und er hat für damalige Zeiten einiges gewagt. Wie konnte man unter der nahezu uneingeschränkten Vorherrschaft der spätbarthianischen Wort-Gottes-Theologie eine multireligiöse und allgemein religiöse Psychologie rezipieren, ohne sich von vornherein völlig ins Abseits zu begeben? Das Ringen um diese Möglichkeit ist aus vielen der Gelegenheitsbeiträge H.s zu entnehmen.
Viele der Referenzautoren aus der damaligen Psychoanalyse sowie die Zeitdiagnosen (wie die Bezüge zur Existenzphilosophie, 625–651) sind heute weitgehend vergessen; was aber bleibt, ist der Eindruck einer Praktischen Theologie im Übergang. Die Wiederentdeckung Schleiermachers steht ebenso noch bevor wie eine interdisziplinäre Orientierung des Faches, aber H. nimmt immer wieder Stellung gegen ein Verständnis von Dogmatik, das diese fälschlich als abschließende Problemlösung ansieht und nicht als Problemeröffnung bzw. Problemformulierung: »Somit geht es um den Einbau des Glaubens in die ganze Person. […] Es ist nicht nur die Vorstellung beteiligt, es geht nicht nur um die Zustimmung des ›Denkens‹. Das ist nicht eine Binsenwahrheit, sondern ein brennendes konkretes Problem der Theologie und der Seelsorge. Das erleichtert das Ja und die Distanz gegenüber der Glaubens›lehre‹« (648, dort kursiv [1966]).
H., so einleitend der Herausgeber, war »wahrscheinlich der erste praktisch-theologische Lehrstuhlinhaber, der den interdisziplinären Diskurs von Theologie und Psychologie in Theorie und Praxis zum akademischen Tagesgeschäft« gemacht hat (25). Das eröffnete ihm nicht zuletzt einen Zugang zu Philosophen wie Heidegger und Kierkegaard. Theologische Setzungen können dem Menschen nicht helfen, wenn dieser seelisch schwer angeschlagen ist. Denn wen die Angst hat, »den hat sie ganz, dem helfen auch Versprechungen und Tröstungen letztlich nicht« (61, »Angst und Glaube« [31954]). Darum ist seelsorgenden Personen nur ein helfender Habitus angemessen, der den Klienten in die eigene Freiheit begleitet. Was in den 1970er Jahren zum Allgemeingut wurde, lautete bei H. schon 1954 so: »Der Therapeut ist der Helfer, nicht der Herrscher. Er geht, wie einmal treffend gesagt wurde, dem Patienten nicht voran, sondern hinter ihm her.« (118)
Und schließlich gibt es Nöte, in denen der Glaube allein nicht hilft, weil »unser Glaube doch nicht größer ist als wir selbst.« (121) Dieser nüchterne Satz ist in aller seiner Schlichtheit von bleibender Bedeutung, um Menschen in der Krise begleiten zu können, ohne dabei den Glauben ungewollt zu einer heldenhaften Leistung zu machen. Die Seelsorge hat es mit leidenden, mit irrenden und mit sündigen Menschen zu tun (wie wir seit C. I. Nitzsch wissen) und nicht mit Glaubenshelden.
Dem Herausgeber und Kommentator sowie seinem Team ge­bührt großer Dank für die akribische Einrichtung der Texte, auf die man in der poimenischen Diskussion künftig immer wieder zu­rückgreifen wird. Das Buch enthält erfreulicherweise auch wieder fünf sorgfältig gestaltete Verzeichnisse: Literatur zu den Texten des Herausgebers, Literatur zu den Texten H.s, Quellenverzeichnis sowie Personen- und Sachregister (655–718).