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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

574–576

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dierken, Jörg, Scheliha, Arnulf von, u. Sarah Schmidt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation und Moderne. Pluralität – Subjektivität– Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Ge­sellschaft in Halle (Saale), März 2017.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XII, 798 S. = Schleiermacher-Archiv, 27. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-056766-3.

Rezensent:

Dietz Lange

Es ist zu begrüßen, dass der Kongress sich dem ebenso umstrittenen wie historisch und systematisch wichtigen Verhältnis Schleiermachers zur Reformation zugewandt hat. Der stattliche Band enthält 47 Beiträge aus allen Bereichen der Schleiermacher-Forschung und angrenzenden Gebieten, die ich hier aus Raumgründen nicht alle einzeln besprechen kann.
Mit der angezeigten Thematik beschäftigen sich freilich expli-zit nur wenige Autoren. M. Ohst (279–308) zeigt in einer fundierten theologiegeschichtlichen Skizze, wie Schleiermacher Luthers Entdeckung des Glaubens als »Widerschein göttlichen Handelns« zum Durchbruch verholfen hat. Frau S. Schmidtke unterstützt diese Sicht durch einen kritischen Blick auf Melanchthons Begriff motus voluntatis. Frau Chr. Helmer (309–321) relativiert die Identifikation der Luther-Renaissance mit Holl durch den Hinweis auf R. Otto. Dabei fungiert Schleiermachers Betonung des »Irrationalen« in der Religion als Katalysator. Sie stützt sich u. a. auf die Dissertation von P. Schüz, der hier Ottos Sicht von Luthers »Wiederentdeckung der Religion« durch Schleiermacher beschreibt (323–341). S. Gerber macht anhand eines reizvollen Vergleichs von Marheinekes und Schleiermachers Stellungnahmen zum Jubiläum von 1817 die innerprotestantische Differenz im Verhältnis zum Staat klar (169–181). R. Leonhardt vertieft diesen Aspekt durch eine historisch kontextualisierte Darstellung von Schleiermachers Plädoyer für eine Trennung von Staat und Kirche (209–236). F. Wittekind erinnert an die Verflechtung von Motiven aus Reformation und Humanismus in der Genese der Neuzeit (479–503). Hier überall wird tendenziell die Kontinuität der Reformation zu der Sattelzeit der Moderne betont. Davon unterscheidet sich Chr. Danz, der Luthers Lehre von der Schrift vergröbernd auf die formale Schriftautorität reduziert und nach Schleiermachers Wende zur Subjektivität bei Tillich eine Ablehnung der »soteriologische[n] Deutung des Protestantismus« (599) sieht. Heute sei lediglich eine zum Sinn für das Unbedingte als Grundlage jeder Kultur verallgemeinerte Religion vertretbar (589–603).
Zur Profilierung des Oberthemas wäre ein Vergleich von Luthers theologischer Schriftkritik mit Schleiermachers historischer Kritik, eine Untersuchung der Bedeutung des Kreuzes Jesu bei Schleiermacher oder auch ein Blick auf Calvin wünschenswert gewesen.
Den drei Blöcken des Bandes, Pluralität (13 Beiträge), Subjektivität (17) und Kritik (15), sind zwei einleitende Aufsätze vorangestellt: J. Dierken über das Bandthema und der Bonner Jurist U. di Fabio über die Ausdifferenzierung von Politik und Religion seit der Reformation.
I. Pluralität: Zwei Beiträge sind dem Verhältnis von Religion und sozialer Ordnung gewidmet: A. Arndts glänzende Darstellung von Schleiermachers Urteil über die Französische Revolution im Verhältnis zu seinen Zeitgenossen (183–193) sowie B. Harbeck-Pingel, der von Hegels Rechtsphilosophie her Schleiermachers Sicht der Pluralität sozialer Formen kritisch sichtet (195–208).
Ein weiterer Schwerpunkt liegt bei der Pluralität der Religionen. Grundlegend ist A. v. Schelihas Aufweis, dass diese nach Schleiermacher in deren Wesen angelegt und insoweit nicht von der Entwicklung der Kultur abhängig ist. Ergänzend kommen hinzu ein bildtheoretischer Essay von M. D. Krüger (87–102) und eine methodologische Untersuchung von E. Hwang (103–127). Auch Chr. Polkes sorgfältige Überlegungen zu Schleiermachers Gottesbegriff (129–137) sind zu nennen.
II. Subjektivität: Die nicht auf die Reformation bezogenen Artikel zu diesem Thema haben ihre Schwerpunkte im Grundsätzlichen und in der Ethik. Zum ersten Komplex: J. Dierken (263–278) bietet einen kenntnisreichen Überblick über das Thema. J. Hörisch (253–262) warnt mit Recht vor sorglosem Gebrauch des Allgemeinbegriffs Subjekt angesichts von Schleiermachers zentralem Interesse an dem einmaligen Individuum. M. Fritz analysiert den Begriff der Individualität in seiner Abgrenzung gegen Kant und Fichte und schildert instruktiv seine Nachwirkung über Dilthey und Lotze bis zu Heidegger (505–527). Frau M. Jiang untersucht die Frage, wie Gefühl als anthropologisches Grundphänomen durch »Offenbarung« (in einem allgemein humanen Sinn) kommunikabel ist (369–381). Frau A. M. Richter liefert eine interessante Problemanzeige zu Schleiermachers mehrdeutiger Verwendung der Begriffe Organ, Organisieren etc. (529–547).
Der zweite Komplex betrifft die Ethik. Hierher gehören auch zwei Beiträge über die Kunst, weil Schleiermachers Ästhetik eine Produktionsästhetik ist. J. Rohls’ fleißige Arbeit behandelt Schleiermachers Sicht im Verhältnis zur romantischen Idee einer Kunstreligion – freilich so detailreich, dass die großen Linien nicht leicht erkennbar sind (383–408). H. Kelm dagegen führt Schleiermachers Ästhetik in ihrer Bedeutung für die Kulturtheorie knapp, aber systematisch klar vor (409–417).
Mehrere Beiträge gelten dankenswerterweise Fragen des ge­meinsamen Lebens, einem Bereich, der lange nicht im Vordergrund der Schleiermacher-Forschung stand. Frau E. Giacca stellt die zentrale Bedeutung der Geselligkeit heraus (419–430). M. R. Robinson widmet sich der Gastfreundschaft (431–445). Chr. Reberts Artikel gilt der Familie als Basismodell der Sozialität (447–460). Frau E. Hartlieb widmet sich unter Berücksichtigung des historischen Kontextes dem Verhältnis der Geschlechter als elementarer Form der Zwischenmenschlichkeit (461–478).
III. Kritik: Hier finden wir zunächst zwei grundsätzliche Beiträge zu Kritik und Hermeneutik. S. Schmidt gibt einen Überblick über die verschiedenen Formen des Kritikbegriffs bei Schleiermacher und konfrontiert ihn mit Foucault, um auf das Fehlen des Aspekts der Macht hinzuweisen (551–574). F. Priesemuth erläutert knapp und klar das Verhältnis von Hermeneutik und Kritik nach der »Kurzen Darstellung« (781–786).
Mehrere Autoren wenden sich Schleiermachers Schriften zur klassischen Antike in ihrer Bedeutung für Hermeneutik und Kritik zu. Hier sind einmal die beiden Artikel von L. Obraz (653–673) und Julia A. Lamm (675–697) über Schleiermachers Verhältnis zu Platon und zum Neuplatonismus zu nennen, sodann der hervorragende Aufsatz von L. Käppel, der neben Platon die wenig bekannte Schrift zu Heraklit ins Spiel bringt (699–717). Für den theologischen Bereich stellt H. Patsch die neutestamentlichen Arbeiten (abgesehen vom Leben Jesu) zusammen (749–769) und W. Wyman wendet sich der Dogmatik zu, anknüpfend an E. Hirsch, der Schleiermacher mangelnden Mut zu klarer Kritik vorwirft.
Dazu kommt je ein Beitrag zur Vorgeschichte und zur Nachwirkung. M. Schröter handelt über Kritik bei Semler (645–652). O. Brinos Aufsatz unterrichtet über das in Deutschland wenig diskutierte Verhältnis der italienischen Religionsphilosophie zu Schleiermacher vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung (787–798).
Insgesamt ist dies ein Band, der zwar das Versprechen thematischer Konzentration nicht einlöst, aber einen guten Überblick über wichtige Felder gegenwärtiger Schleiermacher-Forschung gibt.