Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

566–568

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Das Gebet in den Konfessionen und Medien der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 253 S. m. Abb. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 25. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-374-05667-5.

Rezensent:

Johannes Schilling

Dieses Buch sammelt die Ergebnisse einer Tagung, die im Mai 2013 von dem Graduiertenkolleg »Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit« gemeinsam mit dem Internationalen Arbeitskreis für Auslegungs- und Mediengeschichte der Bibel veranstaltet wurde. Der Band enthält insgesamt neun Beiträge, unter ihnen einen in englischer Sprache, und am Ende ein Personenregister und Abbildungsnachweise.
Im Sinne von »Theologie – Kultur – Hermeneutik« wird das Buch durch zwei Beiträge aus der Feder – oder soll man sagen: aus den Computern – von Exegeten eröffnet: Stefan Beyerles material-, anmerkungs- und anregungsreicher Aufsatz »Der Dialog der Beter im Horizont des Heiligen« (9–36) bietet »Religionsgeschichtliche und theologische Anmerkungen« zu den Psalmen, betont die Situation des Gesprächs zwischen Gott und den Betern, behandelt aber auch ikonographische und rituelle Fragen und mit Psalm 91 ein Fallbeispiel. Leben als Gespräch und im Gespräch – darum wird es in der Frage nach dem Gebet gehen.
Ruben Zimmermann entwickelt in »Kontext, Erinnerungsgeschichte und Metaphorik des Vaterunsers« »Eine neutestamentlich-exegetische Perspektive« (37–56). Er verortet das Vaterunser in der jüdischen Gebetspraxis, erkennt es als aramäisches Original Jesu, der es als »Lehrgebet … seinen Jüngern mit auf den Weg gibt« (45). Als Medium eines kollektiven Erinnerungs- und Identitätsbildungsprozesses war es in der frühen Christenheit besonders geeignet. Unter den exegetischen Erwägungen ist die Deutung von ›epiousios‹ besonders erhellend – denn der Blick über den Tag hinaus bestimmt das Leben.
Jeffrey Chipps Smith versteht in seinem reich illustrierten (69–91) Beitrag »Humanizing the Passion: Dürer’s pictorial exegesis« (57–91) dessen textlose Kupferstichpassion als Auslegung der Passionsgeschichte, als künstlerisches Mittel, um Jesu Leiden für den Be­trachter eindringlich zu machen, so dass dieser es als für sich selbst geschehen annehmen kann und soll. Er thematisiert dabei die Frage, ob ein 16. Stich (nach Apg 3,1–10) zu der Serie gehört, und verweist auf das erhaltene kostbare Exemplar Friedrichs des Weisen (heute Princeton), das als Hilfe für das Beten der Tagzeiten die-nen konnte. Besonders beherzigenswert ist die Erinnerung an die Kunsthistoriker, solche Blätter nicht zuerst und vor allem nicht nur im Hinblick auf ihre künstlerischen Techniken zu betrachten, sondern als »pictorial interpretation« der Passionsgeschichte, die den Textauslegungen der Zeit in nichts nachstehe (68).
Wilhelm Kühlmann stellt in »De Precatione. Zur Theorie des Gebets bei Celtis, Erasmus, Melanchthon und Abraham Scultetus« (93–115) Schriften der genannten Autoren dar und wirft anhand des historischen Materials einige Grundfragen und -probleme des Gebets auf. Bemerkenswert ist die Kritik, die ein Metzger in den ›Colloquia Familiaria‹ des Erasmus an der zeitgenössischen Gebets-praxis übt: »Wie viele gibt es, die dem Schutz der jungfräulichen Mutter oder des Christophorus mehr vertrauen als selbst dem Schutz Christi« (104) – solche Kritik trat also nicht erst mit der Re­formation Luthers ein.
Marc Föcking handelt in »Padre del ciel!« über »Lyrik und Gebet im italienischen 16. und frühen 17. Jahrhundert« (117–139). In Italien fehlte es im 16. Jh. an Gebetbüchern, die dem spirituellen Be­dürfnis der Bevölkerung entsprochen hätten; daher entstand eine gebetsförmige Lyrik, die den Mustern der weltlichen Dichtung folgte. Aber auch Meditationstexte wie Angelo Grillos OSB ›Pietosi affetti‹ fanden, anders als vergleichbare Texte Johann Rists oder Friedrich Spees, keinen Eingang in die einheimischen Gebet- und Gesangbücher.
Johann Anselm Steiger gibt in »›Ein almechtig, gewaltig und sieghafftig ding‹. Zu Martin Luthers Theologie des Gebets« (141–160) einen konzisen, reich durch Zitate belegten Überblick über das Thema. Praedicatio geht der oratio voraus, der Katechismus ist Gebet, das in der Gewissheit des Glaubens, die gleichwohl nicht ohne Anfechtung sein kann, auf Gottes Verheißung hin in der Gemeinschaft der Gläubigen von Herzen mit dem äußeren Wort gesprochen wird. Gott will und soll in seinem Gebot des Betens ernstgenommen werden. Eine kleine summa doctrinae orandi.
Seraina Plotke liefert mit »Frömmigkeit als synästhetische Er­fahrung. Emblematik und visuelle Poesie in der Andachts- und Gebetsliteratur der Frühen Neuzeit« (161–175) einen sehr schönen Beitrag zur Leseforschung. Die Beschreibung der Erbauungsliteratur mündet in eine Darstellung möglicher Gebetspraxis mit diesen Büchern, etwa von Daniel Sudermann, und in die Erwähnung von Figurengedichten, die als »Hilfsmittel für die erbauliche Kontemplation« (175) dienen.
Ursula Härting behandelt in ihrem Beitrag »Katholischer, ge­malter Kultus in Antwerpen um 1600« (177–196) einige Gemälde, die zwischen 1575 und 1650, also nach dem Konzil von Trient, in Antwerpen gemalt wurden, und deren Produktion nach 1610 »sprunghaft« (186) anstieg, außerdem Anweisungen für die Ausstattung von Kirchenräumen, vor allem Schriften von Johannes Molanus. Daneben geht sie auf die – zum Teil beklagenswerten – Realitäten in den Gemeinden ein. »Der lehrhafte Aspekt der konfessionellen Merkmale sollte bei der Frage der Funktion der gemalten Kircheninterieure […] nicht außer Acht gelassen werden« (196). Es geht zu­dem um nachtridentinische Sakraments- und Katechismuspraxis; mit »Gebet« hat der Beitrag so gut wie nichts zu tun.
Thomas Fusenig und Michael Rief geben in »Beten in Studiolo. Das Cabinet des Pères du Désert im Chateau Gaillard in Vannes« (197–245) einen umfassenden und gründlichen Einblick in ein erhaltenes »oratoire de chambre« (198) aus dem 17. Jh., von dessen ursprünglich 66 Tafeln sich 57 erhalten haben. Sie beruhen überwiegend auf zeitgenössischen Grafiken. Das private Oratorium stehe »in einer bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Tradition […], die mit einer Eremiten-Thematik einen Grundakkord von Solitudo und Poenitentia als Voraussetzung für Gebet und religiöse Meditation anschlugen« (211). Die Ausstattung wird zu der zeitgenössischen Gebetsliteratur in Beziehung gesetzt, in der es zum Teil Anweisungen gibt, die den Darstellungen entsprechen, und kir chengeschichtlich (jansenistische Einflüsse?) verortet.
Mit diesem Beitrag wird der interdisziplinäre Anspruch des Bandes, den nicht alle Beiträge erfüllen, auf bemerkenswerte Weise eingelöst.