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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

560–562

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Aichele, Alexander

Titel/Untertitel:

Wahrscheinliche Weltweisheit. Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik des Erkennens und des Handelns.

Verlag:

Hamburg: Felix Meiner Verlag 2017. 397 S. = Blaue Reihe. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-7873-3002-7.

Rezensent:

Walter Sparn

Während der ältere Bruder Siegmund Jakob, seit den 1740er Jahren theologische Leitfigur in Halle, Lehrer u. a. von J. S. Semler und erfolgreicher Netzwerker, protestantischen Theologen pflichtmäßig bekannt sein dürfte, ist das bei dem acht Jahre jüngeren Alexander Gottlieb (1714–1762) nicht der Fall. Aber auch er war theologischer Lehrer und innovativer Denker, zwar nicht in der Historiographie, aber in der Ästhetik, deren Programm er schon in Halle, dann in Frankfurt/Oder als Vorlesung (1742) und in der Aesthetica (1750; 1758) wenigstens im heuristischen Teil realisierte. Die Idee einer solchen Logik der »unteren Erkenntnisvermögen«, vor allem der sinnlichen Vorstellungen, hatte er von dem ebenfalls wolffia-nischen Theologen G. B. Bilfinger. Ein weiterer Wolffianer, J. Ch. Gottsched, verfasste die erste fromm-aufklärerische Homiletik, Grundriß einer Lehr-Arth ordentlich und erbaulich zu predigen, deren Publikation (anonym 1740) vom Berliner Probst J. G. Reinbeck legitimiert wurde; sie wurde als »Leipziger Predigtkunst« populär, auch in der Thomaskirche J. S. Bachs, der seinerseits Texte Gottscheds vertonte.
Diese Kontexte sind hier nicht das Thema; der Hinweis möge begründen, dass auch Theologen, die sich über ihren ästhetischen Realitätsbezug klarwerden wollen, die hier vorgelegte Analyse der Baumgartenschen Erkenntnistheorie, ihrer metaphysischen Voraussetzungen und Implikationen für das menschliche Handeln zur Kenntnis nehmen sollten: Baumgarten stellt die nach wie vor aktuelle Frage nach der Möglichkeit begriffsfreier Erkenntnis, deren Gegenstand eben ästhetische Wahrheit ist. Im Teil A (11–33) skizziert Alexander Aichele den theoretischen Kontext: die Logik, die Metaphysik und die Ethik Baumgartens (seine Werke sind nachgedruckt oder neu ediert; Anmerkungen zitieren ausführlich). We­sentlich ist dabei die Voraussetzung, dass sich die Philosophie hier mit realen, d. h. einzelnen, vollständig bestimmten (nur mit sich identischen) aber kontingenten Dingen beschäftigt. Im Unterschied zum unendlichen Geist (»Gott«), der jedes wirkliche und mögliche Einzelding mit Namen kennt, ist der endliche Geist selber kontingent und kann Singuläres überhaupt nur durch ästhe- tische Erkenntnis mit Gewissheit erfassen. Weil die »aesthetico-logische« Begriffsbildung universale Terme gebraucht, also extensional klassifiziert und damit in seinem Bezug auf das Einzelding unvollständig und ungewiss bleibt, ist für die ästhetische, von in­tensionalen Individualbegriffen ausgehende, ontologische Wahrheit meinende Erkenntnis eine »gewisse Ungewissheit« kennzeichnend (16 f.). Die Lösung der Probleme, die sich aus diesem »metaphysischen Singularismus« ergeben, erläutert der Vf. an Leibnizens »Nominalismus«, der extensionale und intensionale Propositionen, d. h. Logik und Ontologie klar trennt bzw. Einzeldinge zu er­fassen erlaubt. Baumgartens Ästhetik folgt dem logisch darin, dass sie nur höhere oder geringere Wahrscheinlichkeit des Urteils er­bringt; metaphysisch darin, dass reale Dinge zugleich bestimmt und im Blick auf seine Zukunft unbestimmt dynamisch sind. Praktisch ausreichende »wahrscheinliche Weltweisheit« ist also möglich (17 ff.).
Der Unterscheidung von endlichem und unendlichem Erkennen folgend, fragt der Vf. im Teil B danach, »was Menschen wissen können«, und stellt erstens Baumgartens Ästhetik dar. Ästhetik steht hier im Rahmen einer Erkenntnislehre (34–167), die mit empirischer Psychologie (seit Chr. Wolff in der speziellen Metaphysik), also genetisch bei möglichen Bewusstseinsinhalten des Geistes einsetzt, wozu auch die diffus »dunklen« Teile (der Gesamtvorstellung) am »Grund der Seele« gehören (35 ff.). Die Ästhetik selbst ist daher nicht bloß Kunsttheorie, sondern scientia sensitive cognoscendi et proponendi (41 ff.). Baumgartens Beitrag zur »Emanzipation der Sinnlichkeit« (E. Cassirer) liegt hier in der Gleichrangigkeit von logischer und ästhetischer Erkenntnis aufgrund der Unterscheidung intensiver von extensiver Klarheit und aufgrund der men-talen Aktivität, in der die sinnlich-singuläre Vorstellung zur notwendigen und zureichenden Ausgangsvorstellung für die be­grifflich-universalen Vorstellungen ihrer Wahrheit, Klarheit, Leb­haftigkeit und Deutlichkeit gemacht wird (48 ff.). Ästhetische Wahrheit ist jedoch nicht nur empirisch ein Merkmal der Sinneswahrnehmung und ihrer imaginativen Leistungen, sondern entspricht auch dem Kriterium transzendentaler, überall möglicher Wahrheit und ihrer Prinzipien (ausgeschlossener Widerspruch, zureichender Grund, Folge, 52 ff.). Durch die notwendige Beziehung auf eine mögliche Welt hat auch die Dichtung ( facultas fingendi) an metaphysischer Wahrheit teil, i. U. zu bloßen Chimären (84 ff.). Die Sinnlichkeit erfüllt ihre Funktion in Analogie zur Vernunft im Rahmen der universalen Beziehung aller Dinge zueinander, jedoch mit geringerer Klarheit, so dass Urteilsvermögen, Erwartung des Ähnlichen und zentral das Vermögen der signifikativen Verknüpfung der Dinge (facultas characteristica) nötig sind (92 ff.). Ästhetische Gewissheit enthält Elemente symbolischer und intuitiver Erkenntnis, aber nur letztere, begriffsfrei durch singu-läre Zeichen erworben, ist für das ästhetische Urteil, für die Emp-findung von Lust und Unlust entscheidend, d. h. für Gefallen oder Missfallen sowie gemischte Gefühle und das folgende Handeln (100 ff.). Ästhetik ist daher eine Kunstlehre intuitiver Erkenntnis, die auf vollkommene sinnliche Erkenntnis und damit auf die Er­zeugung von Schönheit im Vorstellen zielt ( pulchre cogitare, 122 ff.). Mit Baumgarten stellt der Vf. die Logik dar, in der Begriffe gebildet und ästhetische Urteile erreicht werden (125 ff.). Ausführlich analysiert er den mentalen Zustand der Gewissheit, d. h. das Bewusstsein der Wahrheit einer Erkenntnis, nach der objektiven und der subjektiven Seite, letztere als hinlänglich (mathematische und ästhetische) oder als nur wahrscheinliche, wie die ästhetikologische Gewissheit (167–224, quaedam rationis incertitudo 196 u. ö.).
Unter dem für Theologen attraktiven Titel »Was Gott weiß, oder: Wie die Dinge sind« erörtert der Vf. im Teil C (225–340) die vielfach bereits angezogene Metaphysik Baumgartens als eine Variante des Leibnizschen »Singularismus« (dieser Text ist noch weniger leicht zu lesen als der bisherige). Für die Ästhetik hat sie den starken Effekt, dass sie die Möglichkeit einschließt, die wirkliche Welt mit dem Anspruch auf ästhetische Wahrheit jederzeit, d. h. in je­dem Zustand ihrer dynamischen Entwicklung als schön zu empfinden; sie schließt aus, die wirkliche Welt mit dem Anspruch auf ästhetische Wahrheit als hässlich wahrzunehmen. Der Vf. markiert vier Grundlagen dieser Metaphysik: die Differenzierung von Möglichkeit und Wirklichkeit von realer Existenz bzw. in kontingent existierenden Dingen als singulären Substanzen, deren Substantialität dasselbe ist wie ihre Kraft (225–260); die Materialität und mo­nadische Bewegtheit dieser Dinge und die Vollkommenheit ihres I nsgesamt, d. h. der je wirklichen Welt als singulärer komplexen Substanz (260–289); die erkennende, strebende und handelnde Tätigkeit der endlichen Seele i. U. zum göttlichen Geist (289–311); der Einschluss der menschlichen Willensfreiheit in die Differenzierung des göttlichen Wissens und Wollens im Blick auf die bereits existierende Welt (311–340). Es ist dies eine Metaphysik der (diachron) besten aller möglichen Welten, inklusive der Figur einer scientia media Gottes, wie sie schon für die Gnadenlehre der Jesuiten, für die Erwählungslehre der Lutheraner und für die Theodizee Leibnizens vonnöten gewesen war. Immerhin rekurriert Baumgarten, wie der Vf. bemerkt, dafür weder auf transzendente Vorgaben, die sein Wolffianismus eigentlich bereithält, noch allein auf transzendentale Annahmen im Sinne Kants (225; Kant legte lebenslang Baumgartens Metaphysik seinen Vorlesungen zugrunde). Das Buch legt nahe, eine analytisch darstellbare Theologie des unendlichen Geistes anzunehmen. Der Vf. notiert jedenfalls unter seinem abschließenden Satz, dass gerade in der besten aller möglichen Welten Raum sein müsse für die indeterminierte Freiheit freier menschlicher Willkür, ein »SDG« (340).