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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

557–560

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Spankeren, Malte van

Titel/Untertitel:

Islam und Identitätspolitik. Die Funktionalisierung der »Türkenfrage« bei Melanchthon, Zwingli und Jonas.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XV, 342 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 186. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155364-6.

Rezensent:

Martin Ohst

Die Bedrohung Lateineuropas durch die aggressive Expansionspolitik des Osmanischen Reiches gehört in die erste Reihe derjenigen Koeffizienten, die es bewirkten, dass die durch Martin Luthers neue Wesensbestimmung der christlichen Religion angestoßene und ausgelöste Frömmigkeitsbewegung nicht gemäß den Vorgaben des zugleich weltlichen und geistlichen Ketzerrechts unterdrückt wurde, sondern sich dauerhaft zu Kirchentümern neuen Typs verfestigte und so die Gesellschaften und Staaten direkt wie indirekt tiefgreifend neu gestaltete.
Nachdem Martin Luthers Verhältnis zum Islam seit einigen Jahren sicherlich auch infolge aktueller identitäts- und integrationspolitischer Herausforderungen mehrfach ausführlich thema-tisiert worden ist, verlängert Malte van Spankeren in seiner Müns-teraner Habilitationsschrift den Radius dieser Untersuchungen, in­dem er Melanchthon, Zwingli und Justus Jonas befragt. Der Er­kenntniszuwachs, den er so in seiner straff und sorgfältig gegliederten, methodisch klaren und überaus materialreichen Unter-suchung erwirtschaftet, ist beträchtlich, und so wird sein Buch sicherlich längerfristig Leser finden, die es mit Gewinn studieren. Bevor ich das etwas näher entfalte, muss ich allerdings einige inhaltliche und perspektivische Charakteristika dieses Werks be­nennen, die mir Unbehagen bereitet haben.
Die Leitperspektive der Untersuchung ist diskursanalytisch. Der Vf. will nicht selbstzweckhaft die Bilder des Osmanischen Reiches oder des Islam untersuchen, welche seine Protagonisten sich erarbeitet und verbreitet haben, sondern ihn interessiert die zweckorientierte Verwendung dieser Bilder: zur Stärkung der eigenen Gruppenidentität, zur Polemik. Für den letztgenannten Bezug lässt er sich von dem in der Forschung gängigen Begriff der »Turkisierung« leiten: Dem (konfessions)politischen Gegner wird unterstellt, er besorge, wissentlich oder unwissentlich, das Geschäft des äußeren Feindes, ja, er sei dessen Verbündeter oder mit diesem ge­meinsam der Agent einer übergeordneten Feindesmacht – ein in allen geschichtlichen Zeitaltern immer wieder neu befolgtes Mus­ter denunziatorischer Polemik.
Nun stellt der Vf. mehrfach beiläufig fest, dass dieses Argumentationsmuster zunächst von den Altgläubigen bei der Bekämpfung Luthers und der reformatorischen Bewegung angewandt worden ist (140; 163–166; 251 mit Anm. 117; 296 mit Anm. 81; 303 mit Anm. 108; 310 mit Anm. 132). Aber er geht dem nicht weiter nach. Dabei stellt sich doch gerade durch die von ihm eingenommene diskurs-analytische Perspektive die Frage, wo sich etwa die Versuche der »Turkisierung« Altgläubiger als Retorsionen erweisen und wo sie originell sind. Wie so oft wird also auch hier reformatorische Publizistik untersucht, ohne dass den altgläubigen Gegnern, die ja immer auch Gesprächspartner waren, die gebührende Aufmerksamkeit zugewandt wird. Sodann: Die Strategie der geistespolitischen Instrumentalisierung der islamischen Bedrohung war keine Innovation der Reformationszeit, sondern sie lässt sich (spätestens) seit dem 11. Jh. nachweisen. In seiner »Historischen Einleitung« legt der Vf. das, einsetzend beim Fall Konstantinopels, dar und lässt durchblicken, dass seines Erachtens das Verhältnis zwischen der publizistisch artikulierten bzw. geschürten Türkenfurcht und der tatsächlichen Gefahrenlage disproportional gewesen sei – so etwa, wenn er rhetorisch fragt, »ob die osmanische Kriegsstrategie jemals die Eroberung ganz Europas überhaupt zum Ziel hatte, oder ob es nicht vielmehr [zu ergänzen wäre sinngemäß: nur; M. O.] darum ging, handelsstrategisch relevante Einzelziele wie die Sicherung des Donauraums zu erreichen« (47). Solche hypothetischen Fragen lassen sich aus Sicht des nachgeborenen Beobachters, der, anders als die Zeitgenossen, den eventus rerum kennt, mit wenig Mühe stellen und beantworten. Das ist ein harmloses Spiel – solange es nicht dazu führt, dass man den damals Lebenden und Agierenden unter der Hand zumutet, sie hätten den heutigen Kenntnisstand haben und sich an ihrem orientieren müssen. Ähnliches gilt für den im­mer wieder mit anklagendem Unterton präsentierten Befund, insbesondere Melanchthon habe (wie Jonas, 269) dem Islam die Anerkennung als einer eigenständigen Religion verweigert und ihn als Häresie in das christlich zentrierte Geschichtsverständnis eingeordnet.
Hier wird implizit Menschen mit spätmittelalterlichem Bildungshorizont zugemutet, sie hätten sich doch bitte spezifisch moderner Wahrnehmungs- und Verstehenskategorien bedienen sollen. Für Me­lanchthon und seine Zeitgenossen gab es allerdings gar keine Anerkennung heischenden Fremdreligionen, sondern nur die eine wahre Religion (samt Menschen, die verblendet an deren längst überwundener Vorgestalt festhielten) und den vielgestaltigen Götzendienst. Und wenn der Islam im Koran einerseits unmissverständlich die Deutungshoheit über Jesus beanspruchte und ihm anderseits die Anerkennung der »Göttlichkeit« ([sic!] 159) vehement versagte, dann entlarvte er sich selbst in den Augen Melanchthons und seiner Zeitgenossen als Häresie – oder, was dazu nicht im Widerspruch stand, als Agent des Antichrist, also der in wechselnden Gestalten imaginierten destruktiven Jesus-Christus-Travestie, deren leibhaftiges Erscheinen auf Erden als Signal für den Beginn der Endzeit erwartet wurde. Das sind doch geistes- und mentalitätsgeschichtliche Formationen, die man als historisch denkender Mensch aus der verstandenen geschichtlichen Distanz heraus schlicht anzuerkennen hat und von denen man sich nicht immer wieder beflissen-demonstrativ distanzieren muss – etwa durch die störende Unsitte, das Substantiv »Türke« und seine Derivate fortwährend in Gänsefüßchen zu setzen. Die Befürchtungen, welche die zeitweise scheinbar unaufhaltsame Expansion des Osmanischen Reiches hervorrief, waren doch nicht bloß »angeblich« oder »mutmaßlich« (vgl. z. B. die massierte Verwendung solcher Abtönungen, 270 f.) – man denke an die rabiaten Methoden der Nachwuchsrekrutierung für die Elitetruppen der Janitscharen (112; 101 mit Anm. 101; 134 mit Anm. 264; 201 mit Anm. 101) oder an den von Luther exakt durchschauten repressiven Charakter der Toleranz, die Christen im Osmanischen Reich gewährt wurde (282). Endlich: Für Menschen des 16. Jh.s war, abgesehen von Randgruppen wie Täufersekten, der Kampf pro aris et focis gegen äußere Feinde, zumal gegen solche, mit denen das eigene Gemeinwesen durch kein gemeinsames Regelwerk für den Ausgleich von Interessenkollisionen verbunden war, keine Vexierfrage moralisch zweifelhafter Gewaltanwendung, die zu umständlichen Legitimationsanstrengungen nötigte, sondern selbstverständliche, zwingend gültige sittliche Pflicht!
Nachdem ich diese Kritikpunkte benannt habe, bekunde ich umso freudiger, wie viel ich durch die Lektüre dieses wichtigen Buches gelernt habe. Das längste Kapitel ist Melanchthon gewidmet (69–178). Methodisch mustergültig wird zunächst eruiert, woher er welche die Geschichte und Gegenwart des Osmanischen Reiches betreffenden Kenntnisse bezogen hat. Dann wird sorgfältig und anschaulich sein Bild islamischen Glaubens und Lebens entfaltet – auch und gerade aus seinen vielen Briefen, die in einer älteren Arbeit zum Thema sträflich vernachlässigt worden waren. Besonders lobend ist hervorzuheben, dass der Vf. seine Zitate durchweg nicht nur im lateinischen Original, sondern auch deutsch abdruckt. Es folgt, besonders interessant, eine Untersuchung von Melanchthons Einschätzung der außenpolitischen Lage und deren situativen Wandlungen. Die drei folgenden Abschnitte zeigen dann, wie bei Melanchthon auf diesem Problemfeld Ge­schichtsverständnis und theologische, auf die Auslegung biblischer Texte (Daniel) sich abstützende Geschichtsdeutung einander durchdrangen und ihm theologisch reflektierte Zeitdeutungen er­möglichten, welche die evangelischen Zeitgenossen in der Anfechtungssituation in ihrer Glaubensgewissheit bestärkten und sie zu zielgerichtetem politischem Handeln ermutigten: Melanchthon »deutet die Ursachen der osmanischen Expansion, offeriert als Protagonist der reformatorischen Bewegung Abhilfe durch theologische und sittliche Besserung und prognostiziert den weiteren Ablauf der Weltgeschichte« (173).
Jonas (225–272) hat die Islamwahrnehmungen Luthers und Melanchthons aufgenommen und weitergeführt, indem er sie durch das Sammeln und Weiterverbreiten aktueller Informationen weiter substantialisierte und dadurch ihre geistes- und realpoli-tische Verwendungsfähigkeit steigerte. Melanchthon und Jonas kamen darin überein, dass sie trotz aller Polemik gegen die altgläubigen Eliten doch unverbrüchlich an der für Kursachsen ja noch sehr viel länger charakteristischen reichspatriotischen Grundorientierung festhielten: Der Gedanke an eine politische Kooperation mit den Osmanen nach der Devise »my enemy’s enemy is my friend« war ihnen unerschwinglich, und damit unterschieden sie sich gemeinsam von Zwingli (179–224), der dieses Tabu gedanklich infrage stellte (206–210) – doch wohl auch, weil er politisch den Anschluss an Franz I. von Frankreich, den Adressaten seines »Schwanengesanges« (Bullinger), der Expositio Fidei Christianae, suchte, der seinerseits in der von ihm bestimmten Phase des jahrhundertelangen habsburgisch-französischen Dauerkonflikts d iese Bündnisoption nicht verschmähte. Neu und wirklich zu­kunftsweisend waren weder die »realpolitischen« Aktionen des französischen Königs noch die entsprechenden Gedankenspiele des Zürcher Predigers, denn in der Geschichte des Verhältnisses zwischen christlichen und islamischen Reichen hatte es solche von tagespolitischen Interessenkonvergenzen motivierten Kooperationen schon zuvor immer wieder gegeben. Diese Einschätzung wird dadurch bekräftigt, dass der Vf. Zwingli bescheinigt, er habe ebenso wenig wie seine Wittenberger Zeitgenossen den Islam »als ein mögliches theologisches Alternativkonzept wahrgenommen« (217).