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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

545–457

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Burton, Simon J. G., Choptiany, Michał, and Piotr Wilczek [Eds.]

Titel/Untertitel:

Protestant Majorities and Minorities in Early Modern Europe. Confessional Boundaries and Contested Identities.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 350 S. m. 2 Abb. = Refo500 Academic Studies, 53. Geb. 100,00. ISBN 978-3-525-57129-3.

Rezensent:

Michael Maurer

Der Sammelband dokumentiert eine Tagung, die 2014 in Warschau stattgefunden hat. Er stellt ein bedeutendes Zeugnis internationaler Forschungskooperation im Bereich der reformationsgeschichtlichen Studien dar und vereint fünfzehn Beiträge schottischer, englischer, niederländischer, polnischer, ungarischer, spanischer und italienischer Forscherinnen und Forscher zu Spezialthemen, die jeweils auf ihre Weise Licht in die höchst komplexen und unübersichtlichen Verhältnisse des konfessionellen Zeitalters werfen. Jenseits der Haupttrennungslinie katholisch/protestantisch befassen s ich die Beiträge mit Spezialfragen insbesondere zu protestantischen Minderheiten, Splittergruppen und Sekten. Sie umgehen auch größtenteils die staatskirchlich-protestantischen Bereiche auf den Britischen Inseln, in Skandinavien und Teilen Mitteleuropas und fokussieren sich schwerpunktmäßig auf Minderheitensituationen protestantischer Gruppen in Mittelosteuropa und an den Rändern der konfessionellen Welt, im Osmanischen Reich und auf der Iberischen Halbinsel.
Der Band ist in fünf Sektionen geteilt. Unter der Sektionsüberschrift »Intellectual Culture and Confessional Freedom« untersucht zunächst Gábor Ittzés die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele im Bereich des Luthertums, wobei er die Beeinflussung der weniger bekannten lutherischen Theologen Melchior Specker und Johannes Garcaeus Jr. durch den reformierten Theologen Heinrich Bullinger nachweist. Sodann widmet sich Alessandra Celati den italienischen protestantischen Ärzten, die infolge ihrer averroistischen Ausrichtung verschiedentlich in die Fänge der Inquisition gerieten. Simon Burton geht den Wandlungen des Ramismus im 17. Jh. mit einem Schwerpunkt auf Bartholomäus Keckermann nach; offenbar war die ramistische Methode einerseits für reformierte Minderheiten attraktiv, andererseits wurde sie von Johann Heinrich Alsted und Jan Amos Comenius gerade als geeignet betrachtet für eine Wiedervereinigung der getrennten Christenheit.
Die zweite Sektion ist überschrieben mit »Clandestine Reformation«. Christopher Matthews und José Moreno Berrocal weisen im Einzelnen auf, wie sich die Mönchsgemeinschaft des Klosters San Isidoro in Sevilla von einem reformkatholisch orientierten Konvent durch Bibelstudium und Übersetzungsarbeit zu einem kryptoprotestantischen Konvent entwickelte, dessen Mitglieder sich nach Entdeckung durch die Inquisition über mehrere Länder Europa verbreiteten. Frances Luttikhuizen widmet sich der Zensur, den internationalen Verbindungen des Buchhandels und dem Einschmuggeln verbotener (religiöser) Bücher nach Spanien.
Die dritte Sektion (»Refugee Reformation«) setzt ein mit einer Interpretation von Barbara Kaminska zu Frans Hogenbergs Radierung über Feldprediger in der Nähe von Antwerpen. Sie schließt aus einer Analyse der Differenzen mit Schriftquellen, dass der Künstler sich sehr bewusst an seine neue Umgebung im Kölner Exil richtete, welcher er die inneren Spaltungen des Protestantismus deutlich machte, aber auch die Unbedenklichkeit der Aufnahme von Protestanten. Leon van den Brooke befasst sich mit den reformierten Glaubensflüchtlingen aus Frankreich, die in der Wallonischen Kirche innerhalb der reformierten Kirche in den Niederlanden eine privilegierte Nische fanden.
Die vierte Sektion (»Marginal Reformation«) wird eröffnet durch einen Beitrag von Felicita Tramontana über die Beziehungen zwischen Katholiken und Protestanten im Osmanischen Reich, die dort beide als christliche Minderheiten von der Mehrheit der Orthodoxen dominiert wurden. Mihály Balázs geht im einzigen deutschsprachigen Beitrag dieses Sammelbandes dem Weg des siebenbürgischen Antitrinitarismus im 16. und 17. Jh. nach, der sich aus einer Mehrheit in eine Minderheit verwandelte. Dabei zeigten sich irenische Strömungen, die auf eine universale Christenheit abzielten, doch konnten sich diese angesichts der politischen Konfrontationen Siebenbürgens und Ungarns im 17. Jh. nicht entfalten. Mit dem interessantesten siebenbürgischen Denker der irenischen Richtung, György Enyedi, befasst sich außerdem noch ein Beitrag von Borbála Lovas.
Die fünfte Sektion ist »Confessional Identity and Otherness« überschrieben. Magdalena Luszczynska untersucht Marcin Czechowic, einen führenden Theologen der Böhmischen Brüder, der sich als einer der Anti-Trinitarier, die mit dem Vorwurf des »Judaisierens« konfrontiert waren, über eine Polemik gegen die Juden als Führungspersönlichkeit seiner Glaubensgemeinschaft zu profilieren suchte. Joanna Partyka bringt den feministischen Aspekt ein, indem sie Frömmigkeit und Predigtdrang englischer Puritanerinnen und Quäkerinnen ins Zentrum ihrer Untersuchung rückt. Paweł Rutkowski stellt die Anti-Quäker-Polemik anglikanischer und puritanischer Autoren dar. Jakub Koryl zeigt in einem zeitlich und räumlich übergreifenden Beitrag philosophischen Charakters die Transformation des mittelalterlichen Nominalismus in frühneuzeitliche Identitätskonzepte anhand des Mythos-Begriffes auf.
Insgesamt liegt ein ergiebiger Sammelband von Spezialstudien vor, der geeignet ist, bei Leserinnen und Lesern, die eher über den Hauptstrang der Geschichte des Christentums in der Neuzeit informiert sind, zu einer Differenzierung und Vertiefung des Wissens beizutragen. Es gehört zu solchen wissenschaftlichen Tiefenbohrungen, dass man nicht an jeder Stelle der Lektüre die Verbindungen mit den allgemeinen Strukturen und großen Tendenzen des Zeitalters der Konfessionen zu erkennen vermag. Aber es zeichnet solche Begegnungen von Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Ländern und religiösen Affiliationen aus, dass sie Anregungen vermitteln können, welche über das allgemeine Bild hinausführen.