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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

538–541

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oefele, Christine

Titel/Untertitel:

Evangelienexegese als Partiturlesen. Eine Interpretation von Mk 1,1–8,22a zwischen Komposition und Performanz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIII, 453 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 490. Kart. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-156468-0.

Rezensent:

Eckart David Schmidt

Der Band ist die für die Veröffentlichung überarbeitete Fassung der unter der Betreuung von Moisés Mayordomo an der Theologischen Fakultät der Universität Basel verfassten Dissertationsschrift von Christine Oefele. Die Vfn. ist ausgebildete Theologin und Musikerin im Bereich der Alten Musik mit den Hauptfächern Laute und Blockflöte und gegenwärtig nicht nur Postdoc am Institut für Neues Testament an der Universität Bern, sondern auch Lehrbeauftragte für Hymnologie/Liturgik in der kirchenmusikalischen Ausbildung der Hochschule der Künste Bern sowie Beauftragte für Gottesdienst und Kirchenmusik in der Fachstelle Theologie der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn.
Für ihre Doktorarbeit hat sich die Vfn. ihre Doppelbegabung zu Nutze gemacht: Sie möchte das Markusevangelium – exemplarisch Mk 1,1–8,22a – als musikalische Partitur lesen. Was das für sie be­deutet, führt sie im ersten, methodologischen Kapitel der Arbeit aus (5–57). Zur Verortung ihrer Idee in der aktuellen Exegese knüpft sie zunächst an die gegenwärtige Oralitätsforschung zu den Evangelien an, innerhalb derer der Entwicklungsprozess von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit der Evangelientexte mittlerweile sehr differenziert und vielsinnig betrachtet wird. Doch über diese hina usgehend sagt die Vfn., dass auch ein bereits verschriftlichtes Evangelium in der antiken Kultur fast ausschließlich mündlich vorgetragen und gehört wurde. Das Evangelium bleibt auch als verschriftlichtes ein je und je mündlich wahrgenommenes: Die Evangelien »existierten nicht nur als Schriften, sondern wurden jeweils neu lebendig in ihrer ›Aufführung‹ vor Publikum von Fall zu Fall«. Diese »Aufführungen« bestanden nicht nur aus Text, sondern auch aus »Tonfall, Geste, Mimik, Interaktion des Interpreten mit dem Publikum« (8). Darin sieht die Vfn. die Parallele zwischen Bibeltext und einer musikalischen Partitur: Beide legen nur be­grenzt ihre eigenen Aufführungsparameter fest, wodurch ihnen die Charakteristika Dauerhaftigkeit, Verräumlichung und Reduktion zukommt. Ergänzt müssen sie jedoch in der konkreten »Aufführung« durch die aufführenden Leser/Musiker werden, wodurch j eder solchen »Aufführung« die Charakteristika Sequentialität, Interpretation und Singularität zukommen. Viele »Interpretationshilfen« heutiger Bibelausgaben wie Satzzeichen, Vers- und Kapitelunterteilung usw. fehlten in den damaligen Texten, mussten also ähnlich wie Phrasierungs-, Dynamik-, Agogik- und andere Entscheidungen bei musikalischen Aufführungen erst interpretatorisch entschieden werden. Freilich sieht die Vfn. auch eine Reihe von Differenzen zwischen beiden Textformen wie die vertikale Ebene vieler Partituren oder die außersprachliche Referentialität von Worten (ihre Denotation), doch bei beiden lassen sich für die Vfn. »Form und Inhalt, Klanggestalt und Sinngehalt nicht voneinander trennen« (20).
Bei dem Romanisten und Poetologen Hans Robert Jauß (1921–1997) findet die Vfn. ein Interpretationsmodell, das ihrer Betrachtungsweise auf biblische Texte entspricht (21–29): Jauß unterscheidet drei Lektürevorgänge bzw. Wahrnehmungsprozesse: 1.) die der »ästhetischen« Wahrnehmung, d. h. Erfassung des Textes mit seinen Signalen und seiner Sequenzialität, 2.) die Wahrnehmung des »Sinnganzen«, d. h. die Erfassung des möglichen Interpretationshorizontes, und 3.) die »historische« Lektüre, d. h. die Texterfassung in ihrem ursprünglichen Entstehungskontext. Alle drei Wahrnehmungsprozesse ermöglichen vielfache, jedoch dennoch begrenzte und nicht willkürliche Interpretationen. In die Arbeit des Interpreten auf allen drei Wahrnehmungsebenen fließen die Ergebnisse des exegetischen Handwerks ebenso ein wie die der musikalischen Formenlehre. Praktisch läuft das in dieser Untersuchung auf eine »Repetitionsanalyse« hinaus, d. i. im Wesentlichen eine motivkritische Lektüre, bei der der Text durch Kenntlichmachung von Wiederholung, Variante, Verschiedenheit, Kontrast oder Beziehungslosigkeit gestaltet wird.
Um dies durchführen, geht die Vfn. in einem Dreischritt vor: einer graphischen Gestaltung des griechischen Textes, einer Übersetzung, bei der die Klanggestalt und die motivischen Bezüge des »Originals« so weit wie möglich erhalten bleiben sollen, sowie einem Kommentar zum damaligen Verstehen und einer Zusammenschau aller drei Lektüren. Aus pragmatischen Gründen legt die Vfn. für ihre Analyse (fast durchgängig) den Text des NA28 zugrunde; sie beschränkt sich auf die erste Hälfte des Markusevangeliums 1,1–8,22a, wobei der Abschnitt 1,1–4,36a wesentlich detaillierter be­sprochen wird (69–291) als der Abschnitt 4,35 [sic]–8,22a, zu dem nur die »Fortführung der großen Linien« ausgesponnen wird (293–399); und sie orientiert sich an der vermuteten Aussprache der Koine, wie sie sie bei F. T. Gignac, A Grammar of the Greek Papyri … (1976), G. Horrocks, Greek. A History of the Language and its Speakers ( 22010), und M. Lejeune, Phonétique historique du mycénien et du grec ancien (1987), rekonstruiert vorfindet. Als ein Beispiel für ihren Übersetzungsstil hier Mk 4,3–5a: »Hört! Seht! Der Säer ging hinaus zu säen. Und es geschah beim Säen: Das eine fiel an den Wegrand. Und die Vögel kamen. Und sie fraßen es auf. Und anderes fiel auf steiniges Land, […]« (241).
Was in den Hauptkapiteln der Arbeit folgt, ist eine Lektüre von Mk 1,1–8,22a unter dem Blickwinkel einer »akustischen« Motivanalyse bzw. »Repetitionsanalyse«, die eigene Querverbindungen, eine eigene Struktur und eigene Interpretationsmöglichkeiten schafft. Auf immer feinerer Ebene macht die Vfn. diese Querverbindungen optisch durch kolometrische Tabellen, bereichert durch ein eigenes Zeichensystem, deutlich – im Seitenschnitt immer ausgesprochen intelligent und übersichtlich dargestellt. Bei so eigenständiger Textlektüre bleibt der Rückgriff auf Sekundärliteratur knapp – ich möchte fast sagen: wohltuend knapp.
Mk 1,1–15 wird bei der Vfn. zu einer »Ouvertüre«, zu deren »Klangpracht« die vielen Motive beitragen, die hier zum ersten Mal »erklingen«: »Die Protagonisten der sichtbaren und der unsichtbaren Welt werden vor- und schon einander gegenübergestellt; Oppositionen wie [Heiliger] Geist – Satan und ›die vielen aus Jerusalem‹ – ›Jesus aus Nazareth in Galiläa‹ sind schon angelegt, aber ohne Kenntnis der restlichen Erzählung nicht erkennbar« – und die Vfn. resümiert unmittelbar: »Hier wird besonders deutlich, wie anders etwas wahrgenommen werden kann, wenn jemand das Evangelium zum zweiten oder dritten Mal hört« (109).
Mk 1,16–3,35 strukturiert die Vfn. als »ersten Hauptteil«, der durch drei Berufungserzählungen als Kernelementen konstituiert wird (1,16–20; 2,13–14; 3,7–19), denen jeweils eine Trias von drei weiteren konzentrischen Erzählungen folgt: Auf 1,16–20 folgen zwei Kapernaumszenen (1,21–29a sowie 2,1–13a), durchbrochen von der Sequenz mit dem Stichwort »verkündigen« 1,29–45, auf 2,13–14 folgen zwei Pharisäerauseinandersetzungen (2,15–20 sowie 2,23–3,6), durchbrochen von den Sprüchen zu alten Kleidern und neuem Wein 2,21–22; auf 3,7–19 folgen zwei Szenen mit »Jesus im Haus« (3,20–21 sowie 3,31–35), durchbrochen vom Disput mit den Schriftgelehrten 3,22–30 (analog auch zu anderen Abschnitten). Diese Arbeitsschritte der Vfn. führen den Routinebibelleser manchmal zum Stutzen: So wird z. B. 2,21–22 in den meisten gängigen Kommentaren zur vorigen Auseinandersetzung über das Fasten der Johannesjünger und der Pharisäer hinzugenommen; manche Kommentare fassen diese beiden Verse gar noch in die wörtliche Rede Jesu ein (ab V. 19: »Jesus sprach zu ihnen …«). Die Vfn. hingegen führt diesen Doppelvers als eigenen Unterabschnitt: Ob hier die Jesusrede weitergeführt wird oder ob es sich um einen Erzählerkommentar handelt, sei »akustisch« gelesen unerheblich: Völlig überzeugend führt die Vfn. aus, dass diese beiden Verse motivisch sehr separiert stehen wie ein erratischer Block und auf diese Weise einen eigenen Anstoß zum Nachdenken über Alt und Neu bieten (179 f.).
Auch die Abgrenzung nach hinten (8,22a) folgt der Methodik der Vfn.: die Feststellungen des anhaltenden Unverständnisses der Jünger erreichen mit 8,18.21 ihren Tiefpunkt, mit 8,22b beginnt die erste Blindenheilung des Mk als Scharnier zwischen den Geschehnissen in Galiläa und dem Abschnitt »Auf dem Weg« (8,27–10,45).
Schlussendlich führt ihre Analyse die Vfn. zur Vermutung, dass das gesamte Evangelium für den Komplettvortrag konzipiert und verfasst wurde: Denn beim – ohnehin erst viel später belegten – Perikopenlesen aus Lektionaren entfallen viele Querverweise und Themenlinien, die von Mk zur Gestaltung seines Evangeliums überhaupt erst geschaffen wurden. Häufig genug – und für die Vfn. destruktiv für das Verständnis der »Komposition« des »Werkes« des Evangelisten – mussten schon in der christlichen Spätantike repetitionsanalytisch relevante Textbausteine getilgt werden, um aus dem Markus-Werk überhaupt erst Perikopen zu schneiden.
Die Doktorarbeit der Vfn. ist ein Experiment, und dieses Experiment führt – aus Sicht des Rezensenten – zu einer Frische bei der Lektüre des Markustextes, zu der vielleicht nur eine Bürgerin zweier Welten zu inspirieren in der Lage ist. Während der Lektüre der knapp über 400 Seiten Haupttext hatte den Rezensenten wiederholt der Eindruck beschlichen, dass das eigentliche Interesse der Vfn. doch letztlich erst durch die (wiederholte) Rezitation des Markustextes, aktiv wie passiv, an ihr Ziel kommen würde, eben gewissermaßen wie die Einstudierung und Aufführung eines musikalischen Werkes. Und siehe da: Am Ende des Buches ist zu lesen, dass die Vfn. eine ebensolche Lesung vor Publikum in einem evange-lischen Gästehaus aufgeführt hat (422).
Natürlich sind nicht alle exegetischen Ergebnisse der Vfn. brandneu: Viele von ihnen sind auch schon auf anderem Wege erreicht worden. Dies wird insbesondere an den beiden keineswegs neuen »Grundfragen« deutlich, die Mk, so die Vfn., seinen Hörern stellt: »Wer ist dieser, der zu Beginn als ›Jesus Christus, Sohn Gottes‹ (1,1) vorgestellt wird, und wer gehört zu ihm?« (401; so auch schon 290 f.). Aber die Vfn. ist nicht ausgezogen, um »alte« Thesen zu widerlegen, sondern möchte »lediglich« die Mk-Hermeneutik um die Dimension der akustischen Performanz ergänzen und nachspüren, welche Spannungsbögen und Interpretamente auf diese Weise zum »Klingen« kommen. Als auffällig unauffälliges Charakteristikum möchte der Rezensent daher auch die Bescheidenheit der Vfn. in ihrem gesamten Text benennen, d. h., dass sie ihre Arbeit trotz des ungewöhnlichen Zugangs nie als »Neue Perspektive« und »Neuansatz« selbst überhöht.
Einige Kritikpunkte sind aus Sicht des Rezensenten anzubringen: Die Vergleichbarkeit von Sprache und Musik auf zwei Seiten abzuhandeln (13–15), wird der schwierigen Thematik kaum gerecht (und macht sprachphilosophiegeschichtlich deutlich vor Derrida halt). Doch geschenkt: Dieser Abschnitt ist für die Markuslektüre der Vfn. nicht ausschlaggebend. Wesentlicher ist, dass sie wiederholt ausführt, welche Assoziationen aus dem Alten Testament beim Hören des Mk angeschlagen haben werden, nicht nur bei direkten Zitaten, sondern etwa auch Dtn 6,4 zu Mk 2,7; Dan 7,13 f. zu Mk 2,10; Ps 106 bei der Sturmstillung; Hi 9,11, Es 33,22 f. und 1Kön 19,13 zu Mk 6,48 fin. usw. Das ist nachvollziehbar für das Weben eines zwar nicht akustischen, aber assoziativen »Markus-Netzes«, das die Vfn. in ihren Analysen auch berücksichtigt. An keiner einzigen Stelle hingegen zieht sie analog hierzu antike außerbiblische Quellen heran. Diese würden ihren Ausführungen noch deutlich mehr Tiefenschärfe verleihen. Weniger wesentlich wiederum: Die Theoriebildung der Vfn. nach Jauß ist etwas dünn und – gemäß ihrer eigenen Aussage – auch in ihrer inhaltlichen Ergiebigkeit begrenzt; sie wirkt im Laufe der Arbeit fast unnötig (obwohl die Vfn. am Ende ihrer Studie nominell auf ihn zurückkommt, 401–409). Wenn die Vfn. Jauß allerdings methodisch schon für elementar hält – der Rezensent sieht hierfür eigentlich keinen Grund –, hätte vielleicht – dies bei aller respektvollen Distanz – in einer Fußnote auch Jauß’ NS-Belastung als Hauptsturmführer der Waffen-SS kurz erwähnt werden sollen.
Einer methodisch experimentellen Arbeit haftet auch immer etwas nach vorne Offenes an: Ob die Vfn. wohl trotz ihrer beruflichen pluridisziplinären Mehrfachbeschäftigung Zeit findet, Mk 4,35–8,22a noch genauso detailliert zu analysieren wie Mk 1,1–4,36a – und darüber hinaus auch Mk 8,22b–16,8?