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Ausgabe:

Juni/2020

Spalte:

527–529

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Ratschow, Leonie

Titel/Untertitel:

Eine törichte Frau und drei schöne Töchter. Eine wirkungskritische Studie zu den Frauenfiguren im Hiobbuch im frühen Judentum.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 360 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 61. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05452-7.

Rezensent:

Uta Schmidt

Die sehr knappe Darstellung der Frau Hiobs im hebräischen Hiobbuch hat immer wieder Fragen aufgeworfen, während die ausführlicheren Darstellungen von Frau und Töchtern in der Septuagintafassung des Buches und dem pseudepigraphischen Testament Hiobs scheinbar Antworten liefern. Mit einer wirkungskritischen Studie setzt Leonie Ratschow am Verhältnis dieser Darstellungen der Frau/en und Töchter Hiobs an: »Es geht darum, die frühjüdisch-hellenistische Wirkungsgeschichte der Frauenfiguren des biblischen Hiobbuches nachzuzeichnen und diesen historischen Werdegang literaturwissenschaftlich-analytisch nachzuvollziehen.« (14)
In einem ausführlichen Theorieteil (II.) legt die Vfn. die Grundlagen zu Wirkungsgeschichte und Wirkungskritik dar. Ziel ihrer Kombination philosophischer und literaturwissenschaftlicher Überlegungen zur Wirkungsgeschichte ist, Klarheit darüber herzustellen, »was Wirkung ist und wie sie entsteht« (74). Ausgehend von einer Bestimmung von »Wirkungsgeschichte« (II.1) mit Gadamer trifft sie die Unterscheidung von Wirkung als Tätigkeit und Produkt (27), woraus folgt, dass der Untersuchungsgegenstand, nämlich die Darstellung der Frauen im Hiobbuch, kein abgeschlossener ist, der als solcher seine Wirkung entfaltet. Vielmehr sind Letztere selbst Teil des untersuchten Gegenstandes (21). Dies ist »[…] insofern bedeutsam, als die einzelnen bearbeiteten Texte als Wirkungsprodukte verstanden werden, an denen sich beständige Tätigkeit des Wirkens ablesen lässt.« (30) Als Tätigkeit folgt Wirkung auf die Schritte der Rezeption und des Verstehens. Grundlegend in der Theorie der Vfn. ist die Annahme, dass Wirkung über emotionale Beteiligung im Verstehensprozess entsteht. Diese These untermauert die Vfn. mit der Begegnung von Emotion und Vernunft in Aristoteles’ Tugendbegriff und der tragenden Rolle des emotionalen Verstehens für die Entstehung von Wirkung in Aristoteles’ Tragödienkonzept (40; zwischen Emotionen, Affekten und Gefühlen wird begrifflich nicht unterschieden, vgl. 43). Auf Emotionen und ihre Entstehung geht die Vfn. dann weiter im Kontext der interdisziplinären Wirkungsforschung ein (II.2). Insgesamt zeigt die Vfn. auf, wie Emotionen in der Rezeption mit-fühlend am Werk sind, sich darüber hinaus aber als Wirkung eigenständig manifestieren (74). Darauf baut dann die von der Vfn. entwickelte Form der Wirkungskritik als methodisches Vorgehen auf (II.3). Es handelt sich dabei um einen Zugang, der allein vom Text ausgeht und welcher zwar theoretisch mit Rezipienten und Rezipientinnen rechnet, diese jedoch nicht in die Untersuchung einbezieht. Das methodische Vorgehen unterteilt sich in eine wirkungskritische Analyse und Interpretation (dazu s. u.).
Im längsten Abschnitt des Buches, III. »Die Frauenfiguren in der Antiken Hiobüberlieferung aus der Wirkungsperspektive«, folgt die Beschreibung des Befunds. Diese führt die Vfn. im Methodenteil nicht an, da »die wirkungsgeschichtliche Betrachtung […] keiner eigenen Methode [folgt], sondern […] sich als eine Beschreibung der Entwicklung [versteht], die die Frauenfiguren im Hiobbuch mittels Hinzufügungen, Umdichtungen und Auslassungen erfahren haben« (87). Entsprechend stellt die Vfn. die Frau/en (III.4) und Töchter (III.5) Hiobs vor, indem sie alle Vorkommen in den jeweiligen Textzeugnissen (Hiob, Hi LXX, TestHi) präsentiert und die Aussagen der Texte über die Frauen präzisiert. Für diese Präzisierung wählt die Vfn. für die Darstellung der Frau Hiobs im Hiobbuch einen Vergleich mit weisheitlich geprägten Stereotypisierungen von Frauen und zeigt dadurch, dass Hiobs Frau mehrdeutig bleibt, da sie in keinem der Stereotypen ganz erfasst, jedoch insgesamt ausschließlich negativ typisiert wird. Zur Darstellung der Töchter im Hiobbuch führt die Vfn. in einem Exkurs Details zu Namen, Schönheit und Erbe aus, um so die unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten sichtbar zu machen, die aus den wenigen Informationen entstehen. Für das TestHi geht die Vfn. einführend auf Ge­stalt, Genese und Gattung des Texts ein. In ihrer Studie arbeitet sie mit einer rekonstruierten Textfassung aus verschiedenen Editionen und Übersetzungen. Der Durchgang durch den Befund zeigt, dass die Darstellung der Frauen im Hiobbuch von Text zu Text ausführlicher geworden ist, Leerstellen gefüllt und Ambivalenzen aufgelöst worden sind.
In der wirkungskritischen Analyse untersucht die Vfn. die Darstellung, Funktion und Wirkung der Frauenfiguren im TestHi als Wirkungszeugnis (IV.) mit Bezug auf Hiobbuch und HiLXX (225). Für die zwei Frauen Jobs (= Hiob im TestHi) werden gemäß dem Ana-lyseraster (s. 79 f.) Figurenbezeichnung und -konzept analysiert (IV.6). Für Dina, zweite Frau Jobs, kommt die Vfn. zu dem Ergebnis, dass vor allem wichtig sei, dass es sie gibt, als Tochter Jakobs und als Teil des erneuten Segens für Job. Ertragreicher ist die Analyse der weit ausführlicheren Darstellung der ersten Frau Sitidos. Wie schon Hiobs Frau im Hiobbuch betrachtet die Vfn. auch die Darstellung Sitidos im Vergleich zu antiken Weiblichkeitsvorstellungen literarischer Entwürfe (den Oikonomikos-Schriften Xenophons, dem Buch Jesus Sirach und dem Thomas-Evangelium) und erschließt daraus eine insgesamt negativ bewertende Tendenz. Anders als im Hiobbuch hat Job im TestHi seiner Frau gegenüber einen Wissensvorsprung, da er weiß, warum er leidet. Im Rückgriff auf Aristoteles wird daran gezeigt, wie Sitidos in ihrer Wirkung als tragische, komische und tragik-komische Figur verstanden werden kann. Daraus leitet die Vfn. die Funktionen der Figur ab: die des negativen Kontrasts im Gegenüber zu Hiob, die der negativen Spiegelung im Gegenüber zu Jobs zweiter Frau Dina und den Töchtern und die Funktion der Entlastung für die Leser und Leserinnen als Gegensatz zu einem übermenschlich-perfekten Job. Es folgt die Analyse der Töchter, die im Epilog des TestHi ausführlich vorkommen (IV.7). Als Erbe erhalten sie drei Gürtel mit übernatürlicher Wirkung: Sie werden vor dem Bösen geschützt, bekommen ein anderes Herz und sprechen und singen himmlisch und engelhaft. Insgesamt zeigt die Vfn. an der Wirkung des Erbes eine Tendenz zur Vermännlichung der Töchter im TestHi auf (282.304), wie sie im ThomEv angestrebt wird (290), oder zur Auslöschung von deren Geschlechtlichkeit (314). Als Funktion und Wirkung der Töchter erschließt die Vfn. vor allem die Spiegelung der Konversion Hiobs selbst, mit der das TestHi beginnt.
Das letzte Kapitel des Buches (V.9) stellt das Ziel der Untersuchung dar, die wirkungskritische Interpretation, in der nun Rückschlüsse auf die Wirkung der Frau und der Töchter im Hiobbuch formuliert werden: »Welche Wirkung haben die Frau und die Töchter im biblischen Hiobbuch möglicherweise erzeugt, dass ihre wirkungsgeschichtliche Umgestaltung die hier analysierte Darstellung und daraus resultierende Wirkung und Funktion erzielt?« (324) Die Vfn. stellt hier expliziter als bisher den Bezug zu ihrer theoretischen Grundlegung her. Aus der Darstellung der Frauen Jobs im TestHi schließt sie auf eine zweifache emotionale Wirkung der Frau Hiobs im Hiobbuch: Sie weckt Empathie durch das, was nicht über sie erzählt wird (z. B. ihre Reaktion auf den Tod ihrer Kinder), und wirkt zugleich bedrohlich in dem, was über sie erzählt wird (ihre mögliche Wirkung auf Hiobs Treue zu Gott), ihre Bewertung bleibt damit ambivalent. Letzteres wird durch die zwei Frauen Jobs im TestHi aufgelöst. Die Bedrohlichkeit hingegen weicht dort der bemitleidenswerten, aber auch tragik-komischen Darstellung, »[d]ie negative Wirkung der Frau wird vom ›hebräischen‹ in das ›griechische‹ Wertesystem übertragen« (333) – negativ bleibt sie, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Die wirkungskritische Interpretation der Töchter behandelt vor allem das Thema Schutz und Gefährdung. Das Ergebnis fasst die Vfn. folgendermaßen zusammen: »Die vorliegende Arbeit konnte zeigen, wie zwischen dem Bibeltext und seinen Wirkungszeugen tatsächlich ein Resonanzraum entsteht, der die Frauenfiguren des biblischen Hiobbuches im ausführlichen Nachhall seiner frühjüdischen Wirkungsgeschichte neu und anders hörbar werden lässt.« (344)
Dem stimme ich zu, jedoch mit anderer Gewichtung: Die biblischen Frauenfiguren im Hiobbuch ließen sich vermutlich auch ohne den großen theoretischen Rahmen und die ausführliche Analyse der wirkungsgeschichtlichen Zeugen ähnlich erfassen. Die Erschließung der Frauenfiguren des weit unbekannteren TestHi gewinnt aber durch die Analyse als Zeugnis frühjüdischer Wirkungsgeschichte des Hiobbuches deutlich. Bemerkenswert an dieser Untersuchung ist die vielseitige theoretische Fundierung, die die Vfn. entwickelt, wobei die Bedeutung der emotionalen Wirkung in der Untersuchung nicht den Stellenwert hat, den sie im Theorieteil einnimmt. Dagegen wäre eine methodische Reflexion der wirkungsgeschichtlichen Betrachtung (III.) gerade angesichts der sonst ausführlichen theoretischen Überlegungen, sinnvoll gewesen. Insgesamt ist diese Untersuchung einfallsreich, informativ, detailliert und lesenswert – nicht nur für die, die schon einmal nach den Frauen im Hiobbuch gefragt haben.