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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

466–468

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Enxing, Julia, u. Dominik Gautier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Satisfactio. Über (Un-) Möglichkeiten von Wiedergutmachung. Hrsg. unter Mitarbeit v. D. Wojtczak.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt; Paderborn: Bonifatius Verlag 2019. 357 S. = Beihefte zur Ökumenischen Rundschau, 122. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-05828-0 (EVA); 978-3-89710-808-0 (Bonifatius).

Rezensent:

Knud Henrik Boysen

Der von Julia Enxing und Dominik Gautier herausgegebene Sammelband versteht sich als dritter Band einer an der klassischen Sequenz der Bußsakraments orientierten Trilogie, die nach den Bänden »Contritio« (2017) und »Confessio« (2018) nun mit »Satisfactio« (2019) zum Abschluss kommt. Die Bände dokumentieren den dreijährigen Diskussionsprozess katholischer und evangelischer Theologinnen und Theologen des DFG-Netzwerkes »Schuld ErTragen. Die Kirche und ihre Schuld«.
Der Band stellt die Leitthese auf, dass es nicht ausreiche, »Satisfaktion« als bloße Rückgängigmachung von Vergangenheit oder als »Wiederherstellung einer als ursprünglich imaginierten Harmonie« (5) zu verstehen. Vielmehr müsse »Wiedergutmachung als prozesshafte[r], ergebnisoffene[r] Begriff« gefasst werden, »dem es an einer Bearbeitung der Vergangenheit liegt – mit der Idee, Un­recht zu thematisieren, zu differenzieren und sich der Perspektive des jeweils anderen auszusetzen. Bei satisfactio geht es um Wahrheitsfindung.« (Ebd.) Über die Bearbeitung dieses Prozesses sollen sich »Räume der Versöhnung« eröffnen, indem sich das menschliche Miteinander hin zu einer Gesellschaft der Anerkennung und Verantwortlichkeit transformiert (6).
Unter dieser Leitthese eröffnen die insgesamt 16 Einzelstudien ein breites Potpourri an Betrachtungsperspektiven. Diese reichen von der aktuellen Bearbeitung konkreter Schuldzusammenhänge in der Kirche (Adrian Loretan am Beispiel der »sexuellen Gewalt von Amtsträgern gegen Kinder«, 13–57), über theologie- und philosophiegeschichtliche Einsichten zu Theorien von Schuld und Versöhnung (Ulrike Link-Wieczorek zu Anselm von Canterbury, 89–107; Gerard den Hertog zu Dietrich Bonhoeffer und Hans-Joachim Iwand, 154–187; Dorothea Wojtczak zu Viktor E. Frankl, 222–239; Barbara U. Meyer zu Christologien nach der Shoa, 191–206) bis hin zu soziologischen Betrachtungen über gesellschaftliche Schuld-, Versöhnungs- und Aufarbeitungsprozesse und den Beitrag des Christentums als kirchliches Versöhnungsforum und existentielle Hoffnungshaltung (Sándor Fazakas, 134–153; Julia Enxing, 331–345; Katharina Peetz über das Beispiel eines postgenozidalen Ruanda, 261–282). Darin eingeschlossen ist auch eine Auseinandersetzung mit politisch problematisch erscheinenden religiösen Inszenierungen gesellschaftlicher Schuld am Beispiel der Bewegung »Marsch des Lebens« (Jutta Koslowski, 240–260). Darüber hinaus finden hier aber auch eine ökumenische Studie über innerkirchliche Versöhnungsprozesse (Stichwort: »Healing of memories«) einst vergegneter Konfessionen (Knut V. M. Wormstädt über das Beispiel von Mennoniten und Lutheranern, 290–307) und eine Studie über den konstruktiv-kritischen Beitrag der Kunst zur kirchlichen Schuldreflexion (Carina Brankovi und Sören Koselitz über Rolf Hochhuths Drama »Der Stellvertreter«, 207–221) ihren Platz. Bei dieser enormen Bandbreite verwundert es allerdings zugleich, dass exegetisch-historische Beiträge, etwa zu den biblischen Grundierungen der Begriffe von Schuld und Wiedergutmachung und zu ihrer Bearbeitung in religiös geordneten Ritualen, fehlen.
Man merkt: Das Thema Satisfaktion hat das Potential zu einer fast universalen Horizonteröffnung, zu der sich von mannigfaltigen Ansatzpunkten ebenso mannigfaltige Zugänge ergeben. Bei solchen Horizonteröffnungen sollte aber zugleich vermieden werden, in eine Art der »theory of everything« abzugleiten, die es vermag, auch noch disparateste Themenkomplexe auf einen Nenner zu bringen oder zu zwingen. Und so ist es sehr begrüßenswert, dass zwei Vertreter des Netzwerkes »Schuld ErTragen« die Erträge ihrer mehrjährigen Diskussion zum Abschluss des Bandes in zehn bündelnde Thesen überführen ( Katharina Peetz und Knut V. M. Wormstädt, 346–354). Die dort aufgestellte Forderung lautet, dass Begriffe wie Schuld, Unschuld, Täter, Opfer, Scham, Verantwortung, Sünde und Reinheit, die zum Teil mit höchster theologischer Bedeutung aufgeladen sind, nicht ontologisierend als Wesensmerkmal des Menschen zu verstehen seien, sondern als selbstkri-tische Reflexionen über das »Involviert-Sein in gesellschaftliche, strukturelle und interindividuelle Gewaltverhältnisse« (These 1; 347).
So soll sowohl einerseits vermieden werden, Schuld als »we-senhaft« und darum als unveränderbar hinzunehmende Größe zu betrachten, wie andererseits verunmöglicht werden soll, sich durch »Vermeidungsstrategien« der eigenen gesellschaftlichen Ver­strickung in Schuldzusammenhänge zu entziehen (ebd.). Dazu schlagen die Autoren vor, sowohl die Perspektiven auf Gott, den Geschädigten und sich selbst als den Akteuren im Schuldprozess wie auch die Perspektiven seiner Bearbeitung in Reue, Schuldbekenntnis und Wiedergutmachung so zu verschränken, dass sie nicht als Abfolge, sondern als stetiges »Durch-, Zu- und Miteinander« (These 4; 349) erscheinen, die ein Ineinander von Eigen- und Fremdperspektiven ermöglichen. Auf diese Weise werden Isolierungen aufgebrochen, so dass ein gemeinsames Eintreten in einen Raum »wahrhaftigen Sprechens« (These 5; 350) in Schuldbekenntnis und Schuldvergebung vor Gott möglich wird. Diesen Raum könne auch die institutionalisierte(n) Kirche(n) eröffnen, indem sie genuin öffentliche Akte des Schuldbekennens vollzieht und so zur Auseinandersetzung mit der je eigenen Schuld einlädt (These 6; 351). Auf diese Weise könnte ein »dritter Weg« jenseits des Gegensatzes von geglaubter »heiliger« und »sündhafter« empirischer Kirche erprobt werden, der Weg einer Kirche, »die ihre Heiligkeit gerade darin erkennt, eigene Schuld zu thematisieren und als Aufgabe anzuerkennen«. Könnte also »die Heiligkeit der Kirche […] auch in ihrer ›Unreinheit‹ zum Ausdruck kommen?« (These 3; 349).
Dies ist ein Vorschlag, der, gerade in der angesprochenen De-batte um die Aufarbeitung des Missbrauchs Schutzbefohlener in der Kirche, Sprengstoff für gewisse Kreise der katholischen Kirche bieten würde. Während es für protestantische Kreise vertraut klingt, die »heilige Kirche« zugleich als die »magna peccatrix« zu sehen, so entfaltet eine weitere These auch Sprengstoff für diese Kreise: Denn die Autoren wollen die Wahrhaftigkeit des Schuldbekenntnisses an eine selbstkritische, produktive Antwort im eigenen aktiven Tun geknüpft sehen, damit das Bekenntnis nicht letztlich »ohne Wert« bleibe (These 7; 352) – eine These, die m. E. nicht genügend im Bezug auf die Rechtfertigungslehre abgesichert ist. Gottes Rechtfertigung vergibt Schuld in der Tat nicht »hinter dem Rücken« der Betroffenen, so, als ob Gott die Vergebung durch die Opfer selbst einfach übergehen würde (vgl. auch These 8; 353). Aber nötigt sie darum tatsächlich zu bestimmten Aktivitäten der Wiedergutmachung, die dann wiederum offen für missbräuchliche symbolpolitische Inszenierungen wären, die Kapital aus öffentlichem Bußaktivismus ziehen?
Zum Schluss werben die Autoren für die Einübung einer »Praxis« von Schuldbekenntnis und Schuldvergebung. Hier könne es weder eine Pflicht zum Bekenntnis noch eine Pflicht zur Vergebung geben, sondern es käme ganz darauf an, sie sowohl als freie Tat der Anerkennung von eigener Schuld wie als freie Tat der Ge­währung erbetener Vergebung zu bewahren (These 9; 354) und als solche im Forum der Kirche zu ermöglichen.
Der vorliegende Band eröffnet eine große Bandbreite an Be­trachtungen zur Phänomenologie der Schuld und seiner Bearbeitungsformen in Christentum und Gesellschaft, um diese dann in für die Zukunft diskussionswürdige Thesen zu gießen. Mehr kann man von einem Sammelband nicht erwarten.