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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

460–463

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Bartholomä, Philipp

Titel/Untertitel:

Freikirche mit Mission. Perspektiven für den freikirchlichen Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 637 S. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-06161-7.

Rezensent:

Berthold Schwarz

»Freikirche mit Mission« – so lautet der prägnante Titel der wissenschaftlichen Postdoctoral Thesis von Philipp Bartholomä, die an der Freien Universität Amsterdam im Sommer 2018 angenommen wurde. Dabei ist sie nicht als Werk am akademischen grünen Tisch, sondern im Kontext langjähriger, praktischer und pastoral-leitender Gemeinde(aufbau)arbeit im Kontext einer Freikirche entstanden.
Die Arbeit ist in neun Hauptkapitel gegliedert (die Überschriften sind teilweise gekürzt wiedergegeben): Zunächst die Einleitung (9–53), der zwei Hauptteile folgen: Teil I: Freikirchlicher Ge­meindeaufbau im Kontext. Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Konzepte (55–295). Zu diesem Teil zählen die Kapitel: 2. Die ekklesiologische Identität von Freikirchen (57–130), 3. Die Theorie der sozialen Identität und der freikirchliche Gemeindeaufbau (131–150), 4. Religiöser Pluralismus und fortgeschrittene Sä-kularisierung (in einer nachchristlichen Gesellschaft) (151–232), 5. Gemeindeaufbau in einer nachchristlichen Gesellschaft (neuere Konzepte) (233–295).
Der zweite Hauptteil heißt: Missionarischer Gemeindeaufbau im Raum der Freikirchen: Ergebnisse der empirischen Untersuchung freikirchlicher Gemeinden (297–542). Zu diesem II. Teil gehören die Kapitel: 6. Die empirische Untersuchung freikirch-licher Gemeinden (299–311), 7. Ergebnisse einer quantitativen Online-Befragung von Mitgliedern freikirchlicher Gemeinden (313–374) und 8. Missionarischer Gemeindeaufbau im nachchristlichen Kontext am Beispiel zweier freikirchlicher Gemeinden (375–542). Die Arbeit schließt mit Kapitel 9, einer zusammenfassenden Reflexion auf dem Weg zu einer missionarischen Ekklesiologie für Freikirchen in einem nachchristlichen Zeitalter (543–586). Verschiedene Verzeichnisse (Abbildungen, Literatur usw.) beschließen das vorgelegte Opus Magnum (587–637).
Die Struktur der zwei Hauptteile verdeutlicht, dass zunächst die Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Konzepte für freikirchlichen Gemeindeaufbau abgeklärt werden (Teil I), um dann die empirisch untersuchten Ergebnisse aus der freikirchlichen Gemeindeaufbauarbeit hinzuziehen und erörtern zu können (Teil II) mit dem Ziel, am Ende (wenigstens) eine gut plausibilisierte Handlungsempfehlung auszuformulieren. Die Untersuchung setzt eine Menge an theologiegeschichtlichem, religionssoziologischem, praktisch-theologischem und missiologischem Hintergrundwissen bei der Leserschaft voraus, um die Komplexität der vorgebrachten Überlegungen wirklich erfassen zu können.
Was will nun B. mit seiner Untersuchung inhaltlich hervorheben? Es geht – kurz gesagt – um Freikirchen (im Unterschied zur »Volkskirche«, vgl. u. a. 57, Anm. 2; 71 ff.), um Mission (»Konversionschristentum«, 19) und um den sogenannten »nachchristlichen Kontext«, in dem missionarischer Gemeindeaufbau »heutzutage« durchzuführen und zu verantworten sein soll (vgl. den Titel der Untersuchung; vgl. 129–130; Kapitel 4 u. ö.).
Mit »Freikirche« verbindet B. vier kennzeichnende Merkmale, 1. die Freiwilligkeit samt dem individuellen Glaubensbekenntnis als entscheidendem Kriterium der Mitgliedschaft, 2. die Trennung von Kirche und Staat, 3. die Förderung des Priestertums aller Gläubigen und 4. die Betonung von Evangelisation, Mission und Bekehrung (19–20). Bei dem Stichwort »Mission« geht es darum, dass Menschen sich zum christlichen Glauben an das Evangelium hinwenden, sich »bekehren« und dadurch letztlich wachstümliche »Ge­meindeaufbauarbeit« geschieht. Der »nachchristliche Kontext« verdeutlicht, dass offensichtlich Freikirchen »nur unzureichend auf die missionarischen Herausforderungen in einer neuen, der christlichen Kultur immer stärker entfremdeten Zeit vorbereitet sind« (25) und es daher notwendig ist, sich konzeptionell darüber Gedanken zu machen, wie eine sinnvolle, freikirchlich-missionarische Gemeindeaufbauarbeit in dieser »nach-christlichen« Epoche gestaltet sein sollte.
B. identifiziert zudem eine »Krise der Mission« bzw. der mis-sionarischen Bemühungen unter den gegenwärtigen Freikirchen (26 ff. u. ö.), spricht von mehrheitlich »Transferwachstum« von Menschen aus christlichen Gruppen/Kirchen zu anderen (545 u. ö.), statt kontextuell (41 u. ö.) »Bekehrungswachstum« (303 u. ö.) durch Mission und Evangelisation anzustreben und das »wenig vielversprechend[e]« Modell der »Abgrenzung« abzulegen (131 u. ö.). Diese Krise zu identifizieren und dann realisierbare praktisch-theologische und missiologische Möglichkeiten ihrer Überwindungen anzubieten, darum geht es letztendlich in der vorgelegten Untersuchung.
Die Kapitel 4 und 5 konzentrieren sich auf wesentliche Gesichtspunkte, die für alle »Freikirchen mit Mission« (und letztlich auch für die Volkskirchengemeinden, die Mission wiederentdecken?!) von beachtlicher Bedeutung sein dürften. Kapitel 4 erklärt die »gesellschaftlichen Veränderungsprozesse«, in denen sich Freikirchen im 21. Jh. behaupten müssen, die es deshalb erforderlich machen, eine »kultur- und gesellschaftshermeneutische Bestandsaufnahme« durchzuführen (151) innerhalb des »gegenwärtige[n] soziologische[n] Kontext[es] in Deutschland« (152). Pluralisierung, Entkirchlichung, Entchristlichung, Individualisierung und Säkularisierung sind religionssoziologische Parameter, die verdeutlichen, wieso B. von freikirchlich-missionarischem Gemeindeaufbau im »nachchristlichen Kontext« spricht. In Anlehnung an Bewertungskriterien des »säkularen Zeitalters« in der Interpretation des kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor sucht B. nach Deutungsweisen, wie die religiöse Verfasstheit der Gegenwartskultur(en) verstanden und gegebenenfalls konstruktiv genutzt werden könnte (194–211), um missiologisch geeignete »Instrumente« für Freikirchen in dieser »neuen Zeit« zu generieren (211–232).
In Kapitel 5 werden dementsprechend neuere Konzepte der missionarischen Gemeindeaufbauarbeit ausgewertet, die sich bereits der »neuen Zeit« verpflichtet wissen (233 ff.). Da gibt es das sucherorientierte Modell (Willow Creek), das emergent-missionale Modell, das Fresh-Expression-Modell (Fresh X), das »Church after Christendom«-Modell und das »Center-Church«-Modell. Im Resümee B.s wird festgehalten, dass diese Modelle alle gemeinsam auszeichne, dass missionarischer Gemeindeaufbau für die Gegenwart (weitgehend orientiert an Willow Creeks ursprünglichen Impulsen) stets »Kirche für andere« sein müsse, bei gleichzeitiger Beachtung der »kontextuellen bzw. kulturellen Relevanz« aller missionarischen Bemühungen (294). Das Modell der sucherorientierten Gottesdienste sei allerdings angesichts des gesellschaftlichen Wandels heutzutage als missionarisch nicht mehr uneingeschränkt zielführend anzusehen. Der Aspekt des sogenannten »Missionalen« (soziales Engagement etc.) als »Nährboden für die Evangeliumsverkündigung« (294) habe sich stattdessen mehrheitlich als kultursensibler Aspekt durchdachter Kontextualisierung durchgesetzt.
Im Teil II. werden auf fast 250 Seiten die breit aufgestellten theologischen und religionssoziologischen Vorarbeiten (Kapitel 2–5) unter empirischen Überlegungen fortgesetzt, um »die Zukunftsfähigkeit von Freikirchen im Sinne einer verbesserten missionarischen Praxis« angesichts des Status quo der gegenwärtigen freikirchlichen Situation auszuloten (Kapitel 6, 297–311). Es geht ja für B. darum, die »missionarische Existenz von Freikirchen unter veränderten kontextuellen Rahmenbedingungen« in ihrer sozialen Wirklichkeit zu erfassen (300). Dabei orientiert sich die Studie an der Ausgangsthese, dass »das geringe Bekehrungswachstum im Raum der Freikirchen« – stattdessen lediglich zu vermeidendes »Transferwachstum« – an der »mangelnden Kontextsensibilität« liege bzw. an der Nichtbeachtung, dass eine nachchristliche Kulturepoche angebrochen sei, auf die sich heutiger missionarischer Gemeindebau ausdrücklich beziehen müsse. Durch unterschied-liche quantitative und qualitative Teilstudien der vorgelegten Untersuchung (Mixed-Methods-Design, 306 f.) könne sich bewähren, wie die Theoriebildung und die realisierte Praxis aufeinander bezogen bleiben. Dies wird durch die Erträge der empirisch ermittelten Ergebnisse in den Kapiteln 7 und 8 (313–542) ausführlich dargelegt (Online-Befragung von Freikirchen-Mitgliedern; Analyse zweier freikirchlicher Gemeinden als Fallbeispiele; untermauert mit Statistiken und Tabellen) und dann in Kapitel 9 zusammengeführt.
Die »Zusammenfassenden Reflexionen« des 9. Kapitels (543–586) liefern Schlussfolgerungen, die die einzelnen zuvor erarbeiteten Arbeitsschritte in einem perspektivischen Urteil, das B. als »praktisch-theologische Wegweiser« (543) bezeichnet, bündeln, die je­doch keine in normativer Hinsicht »endgültige Beurteilung« liefern wollen, lediglich eine »punktuelle und andeutungsweise« (544). Die vier »Wegweiser« (für eine missionarische Ekklesiologie) sind entstehungsgeschichtlicher Art (Freikirchen stellen sich nachchristlich-gesellschaftlichen Kontexten), identitätstheoretischer Art (selbstbewusster ›Kirche‹ sein wollen), kontextueller Art (Glaubensvermittlung in einer postchristlichen Welt reflektieren) und funktioneller Art (quantitatives Bekehrungswachstum nicht als »Er­folgsstreben« funktionalisieren).
B.s Untersuchung übersieht jedoch, dass eine ekklesiologisch-dogmatische Reflexion von dem, was »Kirche« wesensmäßig ist oder sein sollte, zugrunde gelegt werden müsste. Ab S. 44 f. wird zwar auf die »Kirchentheorie« im Rahmen der Praktischen Theologie kurz Bezug genommen (E. Hübner, E. Hauschildt, U. Pohl-Patalong u. a.), doch ekklesiologisch viel zu kurz abgehandelt, was beispielsweise »Kirche des Glaubens« oder die »verheißene, geglaubte Kirche als Zielpunkt kirchlicher Handlungsorientierung« (46) bedeuten (vgl. auch das Theologumenon – sichtbare und unsichtbare Kirche), gerade im Blick auf die Handlungsorientierung im Vollzug des missionarischen Gemeindeaufbaus.
Die Gotteslehre (der dreieinige Gott als Subjekt und Souverän kirchlicher Handlungsorientierung jeder Art) und die Soteriologie (gnadenhafte Verwirklichung der Ekklesiologie mit allen ihren Handlungsweisen) spielen zudem eine zu wenig beachtete Rolle in B.s Konzeption.
Was bedeutet beispielweise das reformatorische Erbe, dass die Kirche Jesu (damit letztlich auch die Freikirchen) in ihrer Existenz exklusiv (!) und ursächlich (!) »Schöpfung des Wortes Gottes« ist, und beispielsweise nicht auf missionarischen Bemühungen oder religionssoziologischen Reflexionen von Menschen gründet? Was bedeutet es, dass die »Kirche Jesu« irdisch immer existieren wird und durch nichts überwunden werden kann (Verheißungscharakter; vgl. CA VII – auch für den freikirchlichen Kontext)? Was sollte auch missionarischer Gemeindeaufbau in einem postchristlichen Kontext beachten, wenn gerade in Geschichte und Gegenwart Gericht und Gnade Gottes erkannt werden können, so dass (von Gott gewollt) Kirche erhalten und weltweit ausgebreitet wurde und wird, aber auch, dass sie verfolgt wurde und wird, dass sie zerfällt und in ganzen Weltteilen verschwindet? Welche Überlegungen spielen die bleibende »Sündhaftigkeit unter Christen in den (Frei-)Kirchen« und die Vergebung von Sünden durch (gottesdienstlich gestalteten) Zuspruch im Wort Gottes für gelingenden missionarischen Gemeindeaufbau? In den Überlegungen solcher und ähnlicher basis-dogmatischen Anfragen liegen insbesondere für die Praktische Theologie noch zu entdeckende Gestaltungsräume für eine missionarische Ekklesiologie in Freikirchen (und Volkskirchen), die m. E. nicht unterbelichtet bleiben dürfen, sondern die prominent als Fundamente des missionarischen Gemeindeaufbaus schlechthin einbezogen werden müssten.
Im Blick auf die missionarischen und praktisch-theologischen Überlegungen für einen durchdachten Gemeindeaufbau in postchristlicher, säkularisierter Umwelt bieten die Daten und Reflexionen dieser Untersuchung wertvolle Einsichten, die jeder Gemeindepraktiker, Missionsinteressierte und praktisch-theologische Akademiker zur Vorbereitung eigener missiologischer Vorhaben studieren, kennenlernen und auswerten sollte. Dies gilt jedoch nicht nur für den freikirchlichen, sondern nicht minder für den landeskirchlichen Gestaltungsraum der Kirche Jesu Christi.