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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

455–457

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Reed, Esther D.

Titel/Untertitel:

The Limit of Responsibility. Dietrich Bonhoeffer’s Ethics for a Globalizing Era.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2018. 288 S. = T & T Clark Enquiries in Theological Ethics. Geb. US$ 120,00. ISBN 978-0-567-67934-5.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Esther D. Reed, Professorin für Theologische Ethik an der Universität von Exeter, hat eine sozialethische Studie zum Thema Verantwortung vorgelegt. Sie basiert auf Erfahrungen, die sie in einer kirchlichen Kommission zum Thema Glauben und Bergbau (»Min-ing and Faith Reflections Initiative«, VIII) gesammelt hat. Sie verfolgt den Anspruch, im Anschluss an Dietrich Bonhoeffers Ethik eine postliberale Ethik der Verantwortung zu entwickeln, der ein erweiterter Handlungsbegriff zugrunde liegt. Dieser neue Verantwortungsbegriff soll sich nicht mehr an »Ich-Du-Ich-Relationen«, sondern an »Du-Ich-Du-Relationen« (XV) orientieren.
Dieses Programm wird in drei Teilen expliziert. Im ersten Teil erarbeitet sich R. die subjektivistischen Schwächen des Verantwortungsbegriffs im Zeitalter einer globalen Ökonomie anhand eines Durchgangs durch zentrale Positionen der Verantwortungsethik in der Philosophie- und Theologiegeschichte. Im zweiten Teil entwi-ckelt sie im Rückgriff auf Texte Dietrich Bonhoeffers (Akt und Sein, Ethik, Widerstand und Ergebung) ein neues, nicht-subjektivistisches und damit erweitertes Verständnis von Verantwortung, das diese nicht mehr auf unmittelbare Folgen von Handlungen beschränkt. Im dritten Teil zieht sie daraus ekklesiologische Konsequenzen in einer »politics of Pentecost«, in der sich die Kirchen ihrer erweiterten Verantwortung stellen, zum Beispiel für negative soziale und ökologische Konsequenzen aus dem Abbau seltener Metalle, die u. a. für die Produktion von Smartphones benötigt werden.
Dabei wird das Dilemma der Arbeit sofort deutlich. Auf der einen Seite spricht R. in abstrakter Weise von Ich und Du, dem Subjekt und dem Anderen. Auf der anderen Seite ist für sie mit »Ich« ein »relatively privileged one-third-world consumer of the products of mining« und mit »Du« »someone more immediately affected by the production of the products of mining« (XVIII) gemeint. Man kann die Studie also sowohl als Ethik-Theorie als auch als Fallstudie über Bergbau lesen.
Die alt-europäische Verantwortungstheorie gilt für R. nur noch im familiären und sozialen Nahbereich. Sie ist für sie unzertrennlich an eine Theorie der Subjektivität gebunden, und sie erfasst deshalb ein Handeln nicht mehr, dessen Folgen sich nicht aus den unmittelbaren Konsequenzen für Handlungen ableiten lassen. Kausalketten sind in der globalisierten Welt für R. so komplex und weitläufig geworden, dass ein enger subjektivistischer Verantwortungsbegriff sie nicht mehr erfassen kann. Im Anschluss an Martin Buber, Georg Picht, der fälschlich als Philologe (14) bezeichnet wird, und Emanuel Lévinas zeigt R. nun, dass sich Verantwortung aus einer Relation von Ich und Du ergibt. Diese Relation aber muss theologisch und ethisch aus der Perspektive des Anderen, nicht aus der Perspektive des Ich, also des Handelnden betrachtet werden. Insofern kann sie an die Subjektivismus-Kritik Nietzsches an­schließen.
Eine nicht-subjektivistische Theorie des Selbst als Grundlage einer neuen Verantwortungsethik findet R. bei Bonhoeffer, dessen Kritik an Schleiermachers, Hegels und Heideggers Handlungsbegriff sie ausführlich rezipiert. Bonhoeffer selbst fasst nun den Verantwortungsbegriff christologisch im Sinne von Stellvertretung. »Responsibility originates in Christ and is found also in You, that is, my neighbour near and far.« (121) R. findet schon in Bonhoeffers Dissertation Sanctorum communio einen sozialen, nicht-individualisierten Verantwortungsbegriff. Die im Glauben vereinten Menschen sind darauf ausgerichtet, miteinander, füreinander und in gegenseitiger Stellvertretung zu handeln, zu sorgen und sich zu helfen (122). In der Folge bezieht R. die Bonhoefferschen Aussagen über Kirche und Staat auf die ökumenische Kirche und das transnationale, globale Wirtschaftssystem (134).
An diesem Punkt, der eine Sollbruchstelle der gesamten Studie ausmacht, kommt R. zu einer Kritik der Steuervermeidungsstrategien globaler Konzerne (139), zur Forderung nach einer Menschenrechtspolitik (152 ff.) und immer wieder zum Exempel der Bergbauindustrie (158 ff.176 ff. u. ö.), deren ökologische Bilanz und deren fehlende soziale Absicherung der Minenarbeiter immer wieder in öffentlicher Kritik stehen.
Die Kirche nimmt in dieser Perspektive die Rolle einer intermediären Institution ein, obwohl dieser Begriff nicht fällt. Es stärkt R.s Anliegen, dass sie von Diskussionsrunden zwischen Kirchen, Theologen und Bergbauindustrie spricht und nicht moralisierend argumentiert.
Im Ergebnis kann R. sagen: »Christian ethics today is challenged to explicate the public and political dimensions of Pentecostal living, in ways that discern and engage creatively with some of the moves that his (Bonhoeffers) later writings evidence.« (228)
Aus dem Gedankengang ergeben sich eine Reihe von Anfragen: 1. Bonhoeffers Verantwortungstheorie wird abstrahiert und dekontextualisiert. Sie wird auf gegenwärtige globalisierte Verhältnisse projiziert. Plausibel erscheint die Kritik an einem individualisierten, subjektivierten Verantwortungsbegriff. Aber das, was R. in ihrer Bonhoeffer-Interpretation als einen erweiterten, neuen Verantwortungsbegriff beschreibt, bleibt doch in seinen Konturen ein wenig wolkig und unklar. Dabei ist dem Anliegen R.s, eine solche Ethik als notwendig zu betrachten, nicht nur mit Bezug auf die Bergbauindustrie, sondern auch mit Bezug auf die Klimakatastrophe durchaus zuzustimmen. 2. R. definiert den neuen Verantwortungsbegriff als eine »Du-Ich-Du-Relation«. Aber der Terminus atmet noch die alten subjektivistischen Verengungen. Es wäre zu fragen, ob eine neue Verantwortungsethik nicht auch ein komplexeres Relationsmodell voraussetzen sollte, in das zum Beispiel auch die vorgegebene Welt (die Schöpfung) als Referenzpunkt mit einbezogen wird. 3. Verantwortung setzt ein bestimmtes Handlungsmodell voraus. Das beinhaltet die Unterscheidung von Folgen, Neben- und Spätfolgen ebenso wie die Frage nach Ursachen. Es ist angemessen, dass R. das »alte« Verantwortungsmodell für den Nahbereich und für den juristischen Bereich gelten lässt. Aber es wäre zu fragen, ob nicht auch dieser erweiterten Verantwortungsethik nicht noch prägnantere Elemente eines erweiterten Handlungsmodells eingezogen werden könnten. Und dann wäre nicht das Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer, sondern mit gegenwärtiger Rechts- und Handlungsphilosophie zu suchen. Denn der erweiterte Verantwortungsbegriff besitzt ja die Schwäche, dass die »Wirkung« über mehrere Akteure hinweg erst einmal rational und auch performativ nachgewiesen werden muss und von »Gegnern« (siehe das Beispiel der Leugner des Klimawandels) bestritten werden kann. 4. Ähnliches wie für den Handlungsbegriff gilt im Übrigen für den Begriff der Globalisierung, den Bonhoeffer noch nicht kannte und darum in seine theologischen Re-flexionen nicht einbeziehen konnte. 5. Die Kirchen stellt R. als Ad-vokaten eines erweiterten Verantwortungsbegriffs vor. Allerdings scheint mir das zu sehr auf das alte Wächteramt-Modell bezogen, nach dem die Kirche als eine ethische Evaluierungsagentur politischen Handelns gilt. R. spricht selbst von der pfingstlichen, also geist-theologischen Komponente kirchlichen Handelns, das stets nur exemplarisch wirken kann. Insofern war es eine richtige Entscheidung, sich auf das Beispiel des Bergbaus zu beschränken, wiewohl man doch gerne wüsste, wie R. ihre erweiterte Verantwortungstheorie auf andere kritische Felder globalisierten Handelns (Ökologie, Inklusion etc.) beziehen würde.