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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

450–452

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Käfer, Anne, u. Henning Theißen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

In verantwortlichen Händen. Unmündigkeit als Herausforderung für Gerechtigkeitsethik.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 288 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 55. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-374-05696-5.

Rezensent:

Katharina Wörn

Wie muss eine Gerechtigkeitsethik aussehen, die diejenigen einschließt, die ihre Ansprüche und Bedürfnisse nicht selbst artikulieren, geschweige denn durchsetzen können? Welche Kriterien müssen angenommen werden, um auch die nicht-menschliche Um­welt, Kinder sowie Menschen mit gesundheitlichen oder sozialen Einschränkungen als Gerechtigkeitssubjekte denken zu können?
Mit ihrem Sammelband haben Anne Käfer (Professorin für Sys­tematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Müns­ter) und Henning Theißen (Professor für Systematische Theologie und Heisenbergstipendiat der DFG an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald) ein perspektivenreiches Werk vorgelegt, das sich der Bearbeitung dieser drängenden Fragen widmet und damit ein zentrales methodisches Problem der Gerechtigkeitsethik zu seinem Anliegen macht. Die interdisziplinäre Aufsatzsammlung mit theologisch-ethischem Schwerpunkt stellt dabei das Resultat zweier Fachtagungen dar, die von einer Projektgruppe der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie unter dem Titel »Unmündigkeit als Herausforderung für Gerechtigkeitsethik« in den Jahren 2016 und 2017 veranstaltet wurden.
Die insgesamt dreizehn Beiträge (exklusive der einleitenden Bemerkungen der Herausgeber) verhandeln unter dem Stichwort »Unmündigkeit« durchaus unterschiedliche Gegenstände; grob lassen sich dabei drei Gruppen unterscheiden: die zahlenmäßig größte Gruppe zu Tierethik, die Beiträge zu Kinderrechten sowie diejenigen, die Menschen mit verschiedenen Einschränkungen zu ihrem Thema machen. Die verschiedenen Gruppen eint also weniger ihr Gegenstand als eine methodologische Problemanzeige: Wie Theißen einleitend darstellt, ist der Ethikdiskurs seit Kant maßgeblich davon geprägt, dass der moralische Status eines Gerechtigkeitssubjekts an bestimmte Kriterien, sogenannte »Statuskriterien«, gebunden wird, die in der Regel »auf erwachsene Menschen im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte« (10) zielen und unter dem Stichwort des Ratiozentrismus insbesondere »Bewusstsein, Verstandestätigkeit und die Fähigkeit zum Willensausdruck (zumeist durch Sprachvermögen)« (ebd.) umfassen. Ausgeschlossen sind bei einer solchen Begründung automatisch all diejenigen, die vorübergehend oder dauerhaft nicht im Besitz dieser Fähigkeiten sind, etwa Tiere, Kinder oder Menschen mit geistiger Behinderung; ein Problem, dem sich pointiert schon Martha Nussbaum in ihrer Kritik an John Rawls widmet.
Das gemeinsame Ziel des Bandes ist also dadurch definiert, dass »Alternativen zu einem ratiozentrischen Modell moralischen Subjektseins erprobt [werden]« (Theißen, 11). Dabei schlagen die Beiträge bezüglich der möglichen Alternativen recht unterschiedliche Wege ein, die von advokatorischen Ansätzen über Modelle von Stewardship bis hin zu lebensweltlichen Begründungen und einer grundsätzlichen Revision ratiozentristischer Grundbegriffe reichen (vgl. Theißen, 11-17).
In der Beschäftigung mit dem Thema Tierethik stehen die Beiträge von Arnulf von Scheliha, Christian Polke und Anne Käfer exemplarisch für verschiedene Positionierungen. Von Schelihas Beitrag »Christliche Pflichten gegenüber der Mitwelt. Ein Beitrag zu einem Teilgebiet der Umweltethik« bedenkt Ansätze des Patho- und Biozentrismus als mögliche Alternativen zu einem (ratiozentrischen) Anthropozentrismus; argumentiert aber letztlich zugunsten eines modifizierten und relational gedachten Anthropozentrismus, der dem Umstand Rechnung trägt, dass die Mitwelt notwendiger-weise des Menschen bedarf, um überhaupt Gegenstand ethischer Reflexion zu werden. Eine nochmal grundsätzlichere Verteidigung des Anthropozentrismus findet sich in Christian Polkes Beitrag »Tiere, Menschen und Personen. Ethisch-theologische Perspektiven auf Tierversuche und Xenotransplantationen«, der für eine Differenzsensibilität plädiert, die die kategoriale Unterscheidung von Mensch und Tier ernstnimmt bzw. zumindest den Preis für ihre Preisgabe nicht unterschätzt. Eine grundlegend andere Position nimmt der Beitrag »Schöpfungstheologie und Gerechtigkeitsethik. Auf der Suche nach der besten Welt« von Anne Käfer ein, der mit einer schöpfungstheologischen Begründung für die Ausweitung des Würdebegriffs auf nicht-menschliche Lebewesen argumentiert.
Neben den Positionen eines (modifizierten) Anthropozentrismus und einer würdetheoretischen Tierrechtsbegründung kommen solche Beiträge zum Tragen, die den moralischen Subjektstatus von der Lebenswelt her begründen und damit, wie Theißen in seiner Einleitung anmerkt, »den methodischen Weg der traditionellen Statuskriterien verabschieden« (13 f.). Für eine solche Alternative stehen exemplarisch die Beiträge von Markus Mühling (»Kriterien für die Beurteilung des moralischen Status von nichtmenschlichen Tieren. 13 Thesen zur Tierethik«), der den mo­ralischen Subjektstatus von Mensch und Tier über deren gemeinsames Eingebettetsein in eine geteilte Lebenswelt begründet, sowie von Martin Wendte (»›Warum machen Sie es nicht weg?› Theologische Reflexionen auf Schwangerschaft mit einem Down-Syndrom-Kind in der Gesundheitsgesellschaft«), der die exkludierenden Tendenzen des gegenwärtigen Gesundheitsbegriffs hinterfragt und einen alternativen, lebensweltlich grundierten Gesundheitsbegriff, in­spiriert von den biblischen Wundergeschichten, ins Zentrum seiner Überlegungen stellt. Eine ähnliche Hinterfragung zentraler Begriffe, und im Zuge dessen eine Grundlagenkritik an ratiozentrisch orientierten Ethiken, unternimmt sehr instruktiv der Beitrag von Hans-Martin Rieger »Selbstbestimmung in der gerontologischen Ethik. Ein ethischer Orientierungsbegriff auf dem Prüfstand«. Rieger setzt mit einer präzisen Differenzierung der Begriffe »Autonomie«, »Selbstbestimmung« und »Selbstverantwortung« ein, um am Beispiel der gerontologischen Ethik zwischen einem unbedingt-kategorialen Autonomiebegriff und einem empirisch-situationssensiblen Begriff der Selbstbestimmung zu unterscheiden. Für letzteren nimmt Rieger eine Verschiebung von körperlicher und geistiger »Selbstkontrolle« hin zu einem graduierbaren, leiblich-relationalem Verständnis von Selbstbestimmung vor.
Bei der hier angedeuteten Perspektivenvielfalt scheint immer wieder fraglich, inwieweit der Begriff »Unmündigkeit« als einigendes Band tatsächlich geeignet ist: Erstens legt er eine nicht unproblematische (vgl. den Beitrag von Polke) Strukturanalogie zwischen Tieren, Kindern, Menschen mit gesundheitlichen, alters- und schließlich auch einkommensbedingten Einschränkungen nahe, die bei Käfer über die in allen Fällen geteilte »Schutzunfähigkeit« (19) begründet wird. Sind aber nicht die mit den jeweiligen Gruppen verbundenen Fragestellungen so verschiedene – in der Tierethik wird vor allem die Frage diskutiert, ob Tieren überhaupt moralischer Subjektstatus zukommt, und wenn ja, wie sich dieser begründen lässt, während in den Beiträgen zu Kindern und sozial ausgegrenzten Gruppen der Schwerpunkt auf der (pädagogischen) Realisierung desselben liegt –, dass der Sammelbegriff über eine Formel nicht hinausreicht? Zum anderen drängt sich bisweilen die Frage auf, ob die Rede von der »Unmündigkeit« (oder auch »Unfähigkeit«) nicht dazu tendiert, bestimmte Dichotomien zu reproduzieren, die der Sammelband eigentlich überwinden will.
Diesen kritischen Anfragen zum Trotz ist der Projektgruppe jedoch vor allem ein sehr instruktives und anregendes Werk gelungen, das dringende Probleme aktueller Gerechtigkeitsethik in verschiedenen Perspektiven aufarbeitet und große Anschlussfähigkeit für die innertheologische und außertheologische Diskussion bietet.