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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

442–445

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kobusch, Theo

Titel/Untertitel:

Selbstwerdung und Personalität. Spätantike Philosophie und ihr Einfluß auf die Moderne.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XIII, 454 S. = Tria Corda, 9. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-155509-1.

Rezensent:

Johannes Zachhuber

Mit dem hier anzuzeigenden Werk legt Theo Kobusch, einer der gelehrtesten und kreativsten unter den deutschen Philosophiehis-torikern, so etwas wie eine Summe seiner jahrzehntelangen Arbeit vor. Diejenigen, die seinen zahlreichen Publikationen seit der Dissertation zu Hierokles von Alexandrien (1976) gefolgt sind, werden vielen bekannten Ideen wiederbegegnen. Insbesondere die Grundthesen der einflussreichen Monographie Die Entdeckung der Person (1997 in zweiter Auflage erschienen) werden im vorliegenden Buch vertieft und weiterentwickelt. Gleichwohl wird kein Leser die Lektüre dieses Buches beenden, ohne in vielfältiger Weise belehrt und angeregt worden zu sein.
Das Besondere an K.s Arbeit lässt sich als Schnittpunkt zweiter Einsichten beschreiben. Auf der einen Seite reiht K. sich ein in die wachsende Gruppe von Forschern, die in der Spätantike, grob gesagt also in den ersten acht Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, eine Epoche fundamentaler kultureller Weichenstellungen sehen, durch die die westliche Geschichte bis heute folgenreich geprägt ist. Diese Sichtweise kontrastiert mit der traditionellen Ansicht, am prägnantesten vielleicht ausgedrückt im Titel von Edward Gibbons berühmtem Werk The Decline and Fall of the Roman Empire, nach der die Spätantike eine Zeit des Niedergangs und Verfalls war. Die besonderen geistigen Leistungen dieser Zeit sind in den vergangenen Jahrzehnten von einer Reihe einflussreicher Gelehrter, unter ihnen Peter Brown, Richard Sorabji und Guy Stroumsa, systematisch herausgestellt worden. Dabei ist sicherlich nicht zufällig immer wieder auf den religiösen Bereich besondere Aufmerksamkeit gefallen. Ein herausstechender Aspekt der spätantiken Geschichte ist nämlich zweifellos der Siegeszug der sogenannten »abrahamischen« Religionen, der während dieser Epoche das Ende der jahrtausendealten paganen Religionen im Mittelmeerraum herbeiführte. Wie aber hing diese religionsgeschichtliche Transformation mit den ideengeschichtlichen Entwicklungen dieser Jahrhunderte zusammen? Hier setzt nun K.s zweites Interesse an, das durch seinen Gebrauch des (in Deutschland) eher ungebräuchlichen Begriffs einer christlichen Philosophie angezeigt ist. Worum es ihm also geht, ist der Nachweis, dass die Spätantike gerade dadurch wirkmächtig geworden ist, dass die neue Religion des Christentums ihr eigenes Denken ausgeprägt hat. Dieser so entstandene philosophische Ansatz ist, so K.s These, weitaus länger und weitaus intensiver wirksam geblieben, als uns das zumeist bewusst ist. Impulse der christlichen Philosophie finden sich insbesondere im Denken der Aufklärung und des deutschen Idealis mus, aber auch in einer Vielzahl anderer philosophischer Strömungen der Neuzeit. Ohne diese Impulse sind wir heute nicht in der Lage, unser eigenes Denken zu verstehen. Das zu zeigen ist letztlich das Ziel von K.s Werk.
Anders als in Deutschland ist der Begriff der christlichen Philosophie in Frankreich intensiv diskutiert worden. Bis heute wird er dort vor allem mit dem großen katholischen Philosophen Étienne Gilson verbunden. Für Gilson war die christliche Philosophie idealiter in Thomas von Aquin präsent, den er allerdings in einer Weise las, die durchaus offen war für modernes Denken, nicht zuletzt für die Philosophie Martin Heideggers. Sachlich war christliche Philosophie Seinsphilosophie, für die Gilson eine biblische Begründung in der Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14 fand und deshalb von Exodusmetaphysik sprach. K., der alles in allem völlig unpolemisch schreibt, grenzt sich von Gilsons Interpretation geradezu schroff ab. Sie sei, schreibt er (254), der christlichen Philosophie »angedich tet« worden. Christliche Philosophie im Sinne der Kirchenväter sei vielmehr eine maßgeblich praktische Angelegenheit gewesen. K. folgt hier der einflussreichen These Pierre Hadots, für den die antike Philosophie insgesamt »Lebensform« (manière de vivre) war, ein Denken eingebettet in existentielle Vollzüge und insofern auch nie wirklich von der Religion zu trennen. Es ist nun genau dieser praktische Ansatz, der, so K., auch für die christliche Philosophie charakteristisch ist und durch den sie bis in die Gegenwart hinein gewirkt hat.
Was bedeutet das im Einzelnen? K.s Buch bietet keine systematische Entfaltung dieser These, sondern, so könnte man sagen, Tiefenbohrungen, die sie an einzelnen Themen, Fragestellungen und Problemfeldern aufzeigen und eruieren. Das geschieht in siebzehn Kapiteln, aus denen das Buch fast ausschließlich besteht. Ihnen geht voran eine kurze Einleitung; eine Zusammenfassung gibt es nicht. Die Kapitel reichen von Abhandlungen zum Philosophiebegriff, zu dem Methodenproblem und dem Verhältnis von Glauben und Wissen zu thematischen Abrissen zur Frage der »Aufmerksamkeit« (nämlich auf sich selbst!) und des Verzeihens. In jedem Kapitel gibt es zwei Teile, von denen der eine spätantike Entwicklungen skizziert, während der zweite deren Wirkungsgeschichte enthält. Bedenkt man, dass diese Kapitel selten viel länger als zwanzig Seiten sind und dabei fast durchgängig höchst komplexe und vielschichtige Themen behandeln, ist klar, dass hier unvermeidlich mit relativ breitem Pinsel gemalt wird, was es ermöglicht, etwa die mittelalterliche und neuzeitliche Rezeption antiker Auffassungen von der theoretischen Subjektivität auf nur zehn Seiten darzu-stellen.
Der gedankliche Reichtum, der in diesen Kapiteln dem Leser vermittelt wird, kann in einer kurzen Rezension nicht wirklich gewürdigt werden. Immer wieder wird jedoch deutlich, worum diese diversen Aspekte spätantiken Denkens kreisen und was sie aus Sicht K.s zusammenhält. Von der fundamental praktischen Ausrichtung jener Philosophie war bereits die Rede. Damit hängt nun für K. zusammen eine besondere Sicht auf das Subjekt. Praktische Philosophie ist letztlich am Problem des Selbst orientiert, auf innere Erfahrung ausgerichtet und dort insbesondere auf das Phänomen des Willens. Denn hier kristallisiert sich das besondere Phänomen menschlichen Handelns als Praxis im Unterschied zum Ablaufen naturhafter Prozesse heraus. Ebendieser Nexus zwischen der Betonung des Praktisch-Moralischen einerseits, der menschlichen Subjektivität andererseits macht aber auch das neuzeitliche Denken aus; an genau dieser Stelle wird daher nach K. die bleibende Relevanz der spätantik-christlichen Philosophie evident.
Obgleich es K. primär um die Herausarbeitung der christlichen Philosophie und ihrer historischen Relevanz geht, hat er doch keineswegs das Bestreben, sie von der zeitgleichen nichtchristlichen Philosophie kategorisch abzusetzen. Vielmehr betont er die Parallelen zwischen christlichen Denkern wie Origenes, Gregor von Nyssa und Augustin auf der einen Seite und Neuplatonikern wie Plotin, Porphyrius und Proclus. Wenn überhaupt, grenzt er das spätantike Denken von der klassischen Philosophie insbesondere bei Aristoteles ab, aber auch hier entdeckt er insgesamt mehr Kontinuitäten als Brüche. Diese Tendenz zum Blick auf das Gemeinsame charakterisiert auch K.s Ausblicke auf die mittelalterliche und neuzeitliche Entwicklung. Nur gelegentlich werden Abgrenzungen vorgenommen, z. B. gegenüber einer theoretisch orientierten Scholastik, aber auch diese erscheinen selten scharf oder gar kategorial. Diese Fähigkeit zur Wahrnehmung von ideengeschichtlichen Kontinuitäten hat zweifellos etwas Bestechendes; in K.s Darstellung tritt sie jedoch in eine gewisse Spannung zu der gewissermaßen genealogischen Absicht seiner Argumentation. Denn die These, dass die christliche Philosophie von fundamentaler und bleibender Bedeutung für unser eigenes Denken sei, verliert ihren Sinn, wenn es überhaupt keine Brüche und Diskontinuitäten in der Philosophiegeschichte gibt. Wenn das christliche Denken einfach in einem breiten Strom antiker Philosophie schwimmt, in dem es zwar gelegentliche Präzisierungen oder Neujustierungen, aber keine Absagen und Neuanfänge gibt, was bedeutet es dann, der Epoche der Spätantike und insbesondere dem Christentum eine besondere Rolle in der westlichen Ideengeschichte zuzuschreiben? Hier muss wohl weiter an Präzisierungen gearbeitet werden.
K.s Buch ist souverän und klar geschrieben. Die beeindruckende Fülle antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Quellentexte, die auf breiter Basis in die Darstellung eingearbeitet ist, bringt es freilich mit sich, dass der Leser sich K. mitunter etwas ausgeliefert fühlt. Aber das ist ein Preis, den man vielleicht zahlen muss, um den Ertrag eines wissenschaftlichen Lebenswerkes auf 400 Seiten komprimiert zu erhalten. Wer die ausführliche Version möchte, kann auf den Seiten 430–434 der Bibliographie die beeindruckende Liste von K.s im Laufe der Jahrzehnte entstandenen einschlägigen Publikationen konsultieren. Was in diesem Buch vorliegt, ist der Ertrag eines reichen Forscherlebens, zu dem man K. nur gratulieren kann.