Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

440–442

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gerhardt, Volker

Titel/Untertitel:

Humanität. Über den Geist der Menschheit.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag (2. Aufl.) 2019. 320 S. Geb. EUR 32,00. ISBN 978-3-406-72503-6.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Mit der Monographie legt Volker Gerhardt eine philosophische Anthropologie vor, die ihre Grundlage in einem umfangreichen Diskurs unter vielfältigen Fragestellungen, Problemstellungen und unter Einbeziehung umfangreichen Hintergrundwissens aus parallelen Wissenschaftsbereichen hat. In seiner Analyse greift G. weit in die Kulturgeschichte aus und bezieht wichtige Lebensbereiche wie Politik, Technik und Wirtschaft ein.
In der Einleitung umreißt G. Ansätze und Problemstellungen und entfaltet sie in sieben Kapiteln, die in je zehn Unterkapitel gegliedert sind. Das Ausgangskapitel »Philanthropie. Im Menschen die Menschheit lieben« entwickelt bereits den engen Bezug zwischen Individuum und Menschheit bzw. den mit dem Selbstverständnis und der Selbstbestimmung des Menschen verbundenen Anspruch einer Verpflichtung der Menschheit auf die darin formulierten Ziele und Wesensmerkmale, was später unter anderem mit Bezug auf Kants kategorischen Imperativ näher ausgeführt wird. Dieser Ausgangspunkt der Studie wird dann durch die weiteren Kapitel verfolgt bis zum Zielpunkt im letzten, nicht nummerierten, als »Beschluss« bezeichneten Kapitel, in dem sich der Kreis schließt unter der dem Untertitel des Buches entsprechenden Überschrift »Über den Geist der Menschheit«.
G.s intensive Auseinandersetzung mit der Philosophiegeschichte seit der Antike, aber auch mit anderen Elementen der Kulturgeschichte sowie mit der Naturwissenschaft wird schon im 1. Kapitel deutlich, wenn er etwa entwickelt, dass es dem »genialen Biologen« Darwin nicht gelingt, »gar nichts zu glauben« (27), wenn er Erasmus und Melanchthon Luther positiv gegenüberstellt, die Verachtung Nietzsches für den Humanitätsbegriff »pennälerhaft« nennt und den Begriff der Humanität in der Auseinandersetzung mit dessen Philosophie argumentativ rettet. Der Glaube als die Herausforderung an den Intellekt angesichts der immer größeren Menge an Wissen ist ein wesentlicher Aspekt des Kapitels »Homo quaerens. Der Mensch als Problem an sich selbst«. »Selbstbewusste Mitmenschlichkeit« beschreibt G. als »notwendige Implikation des menschlichen Problembewusstseins« (57). Die Entfaltung dieser Gedanken führt zu dem Kapitel »Animal sociale cum rationale. Bewusstsein verbindet«. Hier wie auch in weiteren Kapiteln vergleicht G. auch Mensch und Tier. Bei allem spürbaren Respekt gegenüber der Kreatur behauptet er dennoch deutlich die Distanz zwischen beiden, wenn sein leiblicher Vernunft-, Seele- und Geistbegriff, den er unter anderem durch eine positive Nietzscherezeption entwickelt, die Haltung zu den Tieren auch deutlich von anderen Traditionen (vor allem Descartes etwa) abhebt. Manchmal wünschte man sich bei diesen Vergleichen etwas stärkere wissenschaftliche Absicherung.
So wie G. bereits in den ersten Kapiteln die Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur, das Verständnis des Menschen als Teil der Natur betont, Vernunft, Seele und Geist nicht als dualistisches Gegenüber versteht, entfaltet er im 4. Kapitel die Zusammengehörigkeit von »homo sapiens und homo faber«, die sich schon allein aus der Funktion der Technik, die bereits in der Steinzeit bei der Herstellung von Werkzeugen eine Rolle spielt, für die Entwicklung der rationalen Fähigkeiten ergibt. Homo faber und homo sapiens stehen in evolutionärer Verbindung. G. wirkt damit auch der Abwertung handwerklicher Fähigkeiten in geistesgeschichtlicher Tradition entgegen. Um die Gleichzeitigkeit im Werden von homo faber und homo sapiens zu belegen, greift G. weit in die Kulturgeschichte zurück und geht dabei auch auf das Alte Testament ein. Hier verfährt er zum Teil etwas ungenau (139 f.), wenn er z. B. eine »handwerkliche Tätigkeit« des Schöpfers erst bei der Erschaffung der Frau aus der Rippe des Mannes beschrieben sieht, nicht schon bei der Formung des Menschen aus Ackerboden, die Gott sozusagen als Töpfer zeigt, und dem Einblasen des Lebensodems (Gen 2,7). Er spannt den Bogen an der Stelle jedoch weit über die Schöpfungsgeschichte hinaus. Den Anteil der Technik bei der Bildung des Menschen hält er für unterschätzt in der Geistesgeschichte. Interessant in diesem Kapitel ist auch der Vergleich der Ansätze von Ernst Cassirer und Ernst Kapp.
Von den homines faber et sapiens kommt G. dann im 5. Kapitel auf den homo ludens. Schillers Bestimmung aus den Briefen zur ästhetischen Erziehung: »Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«, stellt er voran. Die Rolle des Spiels für die kulturelle Vervollkommnung des Menschen entfaltet G. parallel zur Rolle der Fähigkeit des Negierens und seiner Zusammengehörigkeit mit der Kreativität. Insofern stehen Spiel und Kunst in enger Verbindung und das Spiel hat eine wichtige Funktion im Aufbau der Kultur. Kultur und Geist bleiben an das Gelingen sozialer und technischer Kooperation gebunden, die Bildung der Kultur bleibt eine Form der Natur. Frei von der Diskriminierung anderer Lebewesen be­stimmt G. das Spiel als das, was den Menschen letztlich vom Tier unterscheidet. Dabei nimmt er in Anspruch, dass seine Qualifizierung durchaus eine »zukunftsoffene Kontinuität im Übergang von den Tieren erkennen lässt« (199), insofern alle Säuger, insbesondere Primaten, zwar spielen, aber nur der Mensch beherrscht es wirklich unter Einsatz all seiner Möglichkeiten.
Homo faber, homo sapiens und homo ludens werden im 6. Kapitel ergänzt durch den »homo publicus, Öffentlichkeit als Instanz der Menschheit«, wobei die Bildung des Begriffs der »Menschheit« den homo publicus, die Publizität des Individuums bereits voraussetzt. Als homo publicus ist der Mensch eben auch ein homo politicus, Gesetzgebung und deren Notwendigkeit für die soziale Existenz des Menschen sind in diesem Zusammenhang benannt. Die Zusammengehörigkeit von subjektivem und objektivem Bewusstsein unter Bezug auf Aristoteles’ Unterscheidung wird in einem schlüssigen philosophischen Gedankengang entfaltet. Als etwas kühn empfindet der Rezensent einige Aussagen des 8. Abschnitts dieses Teils (226–230), überschrieben mit »deus absconditus – mundus publicus«. Mit deus absconditus meint Luther die dunkle, abgewendete und unbegreifliche Seite Gottes, dessen Existenz er jedoch nicht in Frage stellt, während G. den in der theologischen Fachsprache ebenso verwendeten Begriff eher für die spekulative Qualität des Gottesbegriffs in den Religionen verwendet. Auch dass es im Hebräischen ursprünglich für Wissen, Glauben und Vertrauen nur ein Wort gebe, kann der Rezensent so nicht nachvollziehen, ist doch die semantische Differenz zwischen jad‘ und ’mn im Alten Testament deutlich nachweisbar.
Im 7. Kapitel nähert sich G. sozusagen dem Ziel der Monographie, indem er Humanität als die Realität einer Idee bezeichnet und diesen Gedanken entwickelt. Sich den Glauben an einen Gott bewahrt zu haben, auch als »Grenzwächter des menschlichen Wissens«, hält G. für eine glückliche Seite des Menschen, wenngleich es philosophisch nicht zwingend ist. Die Zusammengehörigkeit von Mensch und Menschheit sowie von Technik, Gesellschaft, Kultur und Natur wird hier noch einmal breit entfaltet, um im zweiteiligen Schlusskapitel die Quintessenz aus dem Ausgeführten zu ziehen und unter den Begriff des Geistes zu stellen, dessen Zurückweisung in modernen philosophischen Konzepten G. widerspricht.
G. legt mit dieser Monographie ein lesenswertes und wichtiges Buch vor, das die philosophische Tradition auswertet und einen weiten Bogen zu anderen Wissensgebieten spannt. Wenn das auch manchmal etwas riskant scheint, ist es nach Auffassung des Rezensenten eine der Stärken des Buches.