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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

438–440

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Werner, Christian

Titel/Untertitel:

America First? Die US-Kirchen und ihre Haltung zum Zweiten Weltkrieg.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 256 S. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-05683-5.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

»America first!«, das haben in den USA schon viele gefordert, von Präsident Woodrow Wilson bis zum Ku Klux Klan. Der Appell, vor alles andere die Interessen Amerikas zu setzen, ist so kurz wie unbestimmt, denn diese Interessen sind vielfältig, gelegentlich gar widersprüchlich, und sie sind auf unterschiedliche Weisen gefährdet, weshalb sich fast immer mit guten Gründen darüber streiten lässt, wie man sie nachhaltig am besten schützt und durchsetzt. »America first« ist aktuell eine offiziöse Leitlinie der Regierung von Präsident Donald Trump. Das bedeutet aber nicht, dass seine Amtsvorgänger eine »America amongst other things«-Strategie verfolgt hätten.
Christian Werner hüllt seine Untersuchung ein in Betrachtungen zur Wahl von Donald Trump, zu möglicherweise auch christlich angehauchten Motiven von dessen Wählerschaft und zu dem Umstand, dass bis zum Angriff auf Pearl Harbor und der deutschen Kriegserklärung gegen die USA (beides Dezember 1941) Isolationis-ten wie Charles Lindbergh unter dem Slogan »America first« forderten, die USA sollten sich aus den europäischen und asiatischen Kriegen strikt heraushalten und sich ausschließlich aufs eigene Wohlergehen konzentrieren. Diese Betrachtungen wirken jedoch ein wenig wie Tangenten an das gedankliche Zentrum des Untersuchungsgegenstandes. Im Kern geht es in der Studie nämlich um Fragen, wie sie jüngst in Filmen wie Hacksaw Ridge und Ein verborgenes Leben verhandelt worden sind: Welche Haltung sollen Christenmenschen und ihre Glaubensgemeinschaften zum Dienst mit der Waffe und zum Krieg einnehmen?
Die amerikanischen Kirchen haben diese Fragen im 20. Jh. um­fassend erkundet und gründlich ausgelotet. Es war ein von Zweifeln, Zerrissenheiten und Schmerzen erfüllter Prozess. Die Kirchen wurden dadurch innerlich verändert, und ihr Verhältnis zum eigenen Staat und ihre Position in der Gesellschaft wandelten sich. Sie trugen im Zuge ihrer Debatten zu den Planungen für die Gründung der Vereinten Nationen bei, und sie hielten und knüpften transatlantische Verbindungen, die auch in die Fundamente der Nachkriegsordnung eingingen und wie nur je Aufmerksamkeit und Pflege verdienen.
Untersucht werden vier Kirchen: die Katholiken, Methodisten, Mennoniten und südlichen Baptisten. Sie waren im Untersuchungszeitraum unterschiedlich groß (von 20 bis 25 Millionen Katholiken bis zwischen 50.000 und 300.000 Mennoniten), und ihre Weltsicht und inneramerikanische Stellung wurde durch unterschiedliche historische Erfahrungen und divergierende Glaubensgewissheiten geprägt (um bei den zwei Beispielen zu bleiben: Die Katholiken waren verdächtig, potentiell ultramontan und entsprechend »unamerikanisch« zu sein, verfügten aber über eine ausgefeilte Bellum-iustum-Lehre und sahen es auf dieser Grundlage als religiös unproblematisch an, die USA mit der Waffe zu verteidigen; die Mennoniten hingegen waren zwar bereit, ihre seit dem Ersten Weltkrieg leicht anstößigen deutschen Wurzeln zu schwächen, bestanden aber selbst für den Verteidigungsfall auf Gewalt-, ja Widerstandslosigkeit als christlichem Gebot).
Die Katholiken, Baptisten und Methodisten hatten den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg bejaht und die Kriegsanstrengungen aus voller Überzeugung unterstützt. In der Nachkriegszeit machte sich bei ihnen Ernüchterung breit, denn trotz hohen Blutzolls und hoher materieller Kosten war das Ziel, allen Krieg ein für alle Mal zu überwinden, offensichtlich nicht erreicht worden. Europa blieb ein Krisenkontinent, und in den USA mehrten sich Stimmen, das Land sei 1917 von profitgierigen Finanz- und Indus-triekreisen in den Konflikt verstrickt worden. Darum erstarkten in den drei Kirchen pazifistische und isolationistische Strömungen. Die Mennoniten hatten im Weltkrieg auf ihren pazifistischen Überzeugungen beharrt, mussten aber erleben, dass sie zu wenig Zugang zu politischen Entscheidern hatten, um auch nur die Voraussetzungen für einen zivilen Ersatzdienst zu schaffen.
Die politischen Entwicklungen zwischen den Weltkriegen und vor dem erneuten Kriegseintritt der USA stellten alle Kirchen vor die Aufgabe, sich über die tatsächliche Lage klar zu werden, die eigenen Positionen zu den Themen Krieg, Neutralität und Intervention zu überdenken und sich so zu organisieren, dass sie ihre Überzeugungen in der Welt besser vertreten konnten. Mit dem Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus wa­ren gottlose Ideologien an die Macht gekommen, die Christen und Juden verfolgten und das Völkerrecht mit Füßen traten. Immer drängender stellte sich den amerikanischen Christen und Kirchen die Frage, ob und wie die USA den Opfern helfen und den Tätern Widerstand leisten sollten und ob nicht am Ende auch die USA selber und ihre freiheitliche Ordnung in Gefahr geraten würden.
Die Studie zeichnet detailreich nach, wie sich die innerkirchlichen Debatten bis 1933 entwickelten, wie sich die Kirchen Klarheit über die kirchenfeindlichen Vorgänge in Hitlerdeutschland verschafften, wie der Kriegsausbruch 1939 den Meinungsstreit nochmals verschärfte und wie schließlich mit Pearl Harbor und der deutschen Kriegserklärung praktisch alle Debatten im tätigen Be­kenntnis zur Selbstverteidigung endeten – außer bei den Mennoniten, die kirchlicherseits am Gebot der Gewaltlosigkeit festhielten (was zu schweren Konflikten zwischen den Gemeinden und vielen Mitgliedern führte, die dennoch kämpften). In die Darstellung eingefügt sind biographische Skizzen über wichtige kirchliche Meinungsführer wie etwa Reinhold Niebuhr und Henry Smith L eiper. Auch ihre medialen Wirkungskanäle, von Rundfunksendern bis Zeitschriften, werden aufgezeigt. Es wird dargelegt, wie Präsident Roosevelt und die Kirchen ihren Dialog vertieften und welchen organisatorischen Beitrag die Kirchen im Bereich des Wehrersatzdienstes und bei der geistlichen Betreuung der US-Streitkräfte wie auch von Kriegsgefangenen leisteten.
Die Gliederung der Arbeit führt zu einer Reihe von Wiederholungen, und mitunter scheint sich die Untersuchung nicht strikt genug an das selbstgewählte Thema zu halten. Das schmälert aber nicht das Verdienst, einen für das amerikanische Selbstverständnis zentralen geschichtlichen Abschnitt aus einer neuen Perspektive beleuchtet zu haben. Die Studie ist überdies nicht allein von ho­hem historischen Interesse, denn sie zeigt, wie Fragen verhandelt wurden, die sich auch heute aufdrängen: Wie sollen Christen aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus umgehen mit Unterdrü-ckung, Aggression und Krieg? Welche Haltung und welches Handeln sollen sie diesbezüglich von ihren Regierungen verlangen? Was sind sie bereit zu opfern?