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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

437–438

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Henrich, Rolf

Titel/Untertitel:

Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen.

Verlag:

Berlin: Ch. Links Verlag 2019. 384 S. m. 52 Abb. Geb. EUR 25,00. ISBN 978-3-96289-035-3.

Rezensent:

Markus Meckel

Es ist gut, wenn die Akteure des Jahres 1989/90 ihre Erinnerungen und ihre Sicht öffentlich machen. Angesichts der Dominanz westlicher Perspektiven auf die damaligen Ereignisse ist es gerade gut, wenn nicht nur Zeitzeugen, denn das waren ja gewissermaßen alle damals Erwachsenen, sondern auch ostdeutsche Akteure ihre Erfahrungen ins öffentliche Gespräch einbringen. Und da jeder seine eigene Geschichte mitbringt, ist es wichtig zu erfahren, wie der je Einzelne zu seinen Aktivitäten gefunden hat. Da ich selber mich dieser Aufgabe auch gestellt und meine Erinnerungen geschrieben habe, war das Lesen von Rolf Henrichs »Aufbruch aus der Vormundschaft« für mich eine besonders spannende Lektüre, werden hier doch die großen Unterschiede der Herkunft und des gesellschaftlichen Umfeldes spürbar, die es in der DDR eben auch gab. Der an Philosophie interessierte Jugendliche wählte durch den Rat einer wohlmeinenden Lehrerin das Jurastudium.
Im Studium an der Humboldt-Universität erhält H. den begehrten Fichtepreis. In seinem Kampfeseifer ist er auch bereit, für die Staatssicherheit zu arbeiten, ist für den Auslandsdienst vorgesehen und wird auf diesen vorbereitet. Doch will er hoch hinaus, große Aufträge erhalten und ist mit den Aufträgen, für die er vorgesehen ist, nicht zufrieden. Gerade auch diese Passagen sind von einer – wie ich finde – unangemessenen Schnodderigkeit geprägt. Sie soll vermutlich die nachträgliche Distanz deutlich machen, doch kann man hier wie oft in diesem Buch nicht unterscheiden, wo nachträgliche Bewertungen Darstellung und Stil prägen und was im jeweiligen Zeitraum selbst gedacht und wie bewertet wurde. Nach dem Dienst bei der NVA entscheidet er sich gegen die ursprünglich geplante Karriere bei der Akademie der Wissenschaften, er möchte aber auch auf keinen Fall Richter oder Staatsanwalt werden, sondern sucht die Tätigkeit als Rechtsanwalt, die mehr Unabhängigkeit verspricht. In der Kanzlei in Eisenhüttenstadt arbeitet auch seine Frau Heidemarie mit, bald finden sie als Heimstatt in der Nähe auf dem Land ein altes Haus, die Schleusenmeis-terei in Hammerfort, ein schöner und verwunschener Rückzugsort, der immer mehr auch für einen Freundeskreis zum Ort des Feierns und des Gesprächs wird. Zu den Freunden, die sich hier häufig einfanden, gehörten der Psychotherapeut Achim Maaz und seine Frau Bärbel, Erika und Ludwig Drees, der Kollege Reinhart Zarneckow sowie Künstler aus der Region.
Das Erscheinen von Rudolf Bahros »Die Alternative« beschreibt H. dann als den großen Wendepunkt in seinem Leben. Bis dahin noch regelrecht »staatsfromm« (159), hat ihn dieses Buch tief beeindruckt. Hier glaubte er eine Sichtweise zu finden, »die mir vielleicht helfen könnte, die uns bedrückenden Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen« (161). Sowohl die Krise im benachbarten Polen als auch die Gründung von KOR 1976 (dem Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) und der freien Gewerkschaft Solidarnosc 1980 werden erwähnt. Die Erfahrungen als Rechtsanwalt wie auch die intensive Beschäftigung mit Bahros Buch ließen in ihm langsam das Bedürfnis reifen, sich in Ergänzung zu Bahros ökonomischer Analyse kritisch mit den Themen Staat und Recht in der DDR zu befassen. Fast zehn Jahre Doppelleben waren die Folge: auf der einen Seite der unbescholtene Rechtsanwalt und Parteisekretär, der sich um die Mandanten kümmerte und im Kreis der Kollegen als verlässlich galt; auf der anderen Seite im stillen Kämmerlein die kritische Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit, im Lesen und Schreiben, sowie die Suche nach Austausch, so im Lesekreis von Wolfgang Strübing in Berlin-Köpenick, der stark von der Anthroposophie geprägt war.
Spannend zu lesen ist die Geschichte, wie es dann durch Freimut Duve zur Veröffentlichung im Westen kam. Die Folge der Veröffentlichung war der Verlust des Berufs, H. verlor die Lizenz als Anwalt, erstaunlicherweise wurde er nicht verhaftet. Nun wollte er sich politisch engagieren, hatte aber von Beginn an einen großen Widerwillen einerseits gegen die offiziellen Kirchen, dann aber auch und sehr pauschal gegen die Gruppen der Opposition, die sich im kirchlichen Umfeld den aktuellen politischen Herausforderungen stellten. Bis ins Sprachliche hinein prägt diese Aversion die zweite Buchhälfte. Dabei wird gleichzeitig deutlich, wie stark diese Aktivitäten im kirchlichen Raum die Ereignisse bestimmten. So war H. mit seinem Buch hauptsächlich in kirchlichen Kreisen unterwegs, um sein Buch vorzustellen und Vorträge zu halten. Anfang 1988 hatte H. Bärbel Bohley und dann auch Katja Havemann kennengelernt. Er berichtet davon, dass er mit diesen Ostern 1989 verabredet habe, im Herbst eine lan desweite demokratische Vereinigung zu gründen – das »Neue Forum«. Dieses sollte Menschen aus allen Berufsgruppen und Bereichen der Gesellschaft repräsentieren. Gerade von H. stammt die Zielsetzung, diese »politische Bewegung streng im formalen Rahmen der DDR-Gesetzlichkeit zu gründen« (257), um sich von der »dissidentischen Existenzform« vieler Oppositioneller abzugrenzen. Dass deren berufliche Situation als »Friedhofswärter, Postbote, Kirchendiener, Heizer« etc. auf staatlicher Ausgrenzung beruhte und nicht auf der »Arroganz« von Aussteigern, scheint ihm bis heute entgangen zu sein. Die Beschreibung der Entwicklung des »Neuen Forum« bis zum Januar 1990 gibt manche interessanten Einblicke in das Innenleben dieser Bewegung, die öffentlich stark durch die Person Bärbel Bohleys geprägt wurde, ihre fehlenden (demokratischen) Strukturen und mangelnde Programmatik.
H.s Tragik ist, dass »Der vormundschaftliche Staat« 1989 schon wenige Monate nach dem Erscheinen durch den Gang der Ereignisse überholt war und das »Neue Forum« sich, wie er selbst schreibt, schon im Januar 1990 überlebt hatte (330). Die Flucht jedoch in den Habitus der Überheblichkeit tut ihm nicht gut.