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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

421–422

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Ziethe, Carolin

Titel/Untertitel:

Auf seinen Namen werden die Völker hoffen. Die matthäische Rezeption der Schriften Israels zur Begründung des universalen Heils.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XIII, 479 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 233. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-059499-7.

Rezensent:

Heiko Wojtkowiak

Carolin Ziethe legt eine umfassende Studie zur matthäischen Schriftrezeption im Zusammenhang mit dem Thema eines universalen Heils vor. Es handelt sich hierbei um die leicht überarbeitete Fassung einer im Wintersemester 2016/17 an der Universität Heidelberg angenommenen Dissertationsschrift (Erstgutachter Matthias Konradt).
Die Studie führt zwei für die Matthäusforschung zentrale Fragen zusammen: 1. die Frage nach Matthäus’ konkretem Verständnis der Heilsmöglichkeit für die Völker und deren Verhältnis zur Erwählung Israels, 2. die Frage der matthäischen Schriftrezeption (vgl. 13). Zielsetzung ist es, aufzuzeigen, wie Matthäus auf die Schriften des nachmaligen Alten Testaments Bezug nimmt, um auf diese Weise die Heilsteilhabe von Menschen aus den Völkern theologisch zu begründen. Dabei steht der inhaltliche Aspekt der Bezugnahmen im Zentrum, während formale Fragen der matthäischen Schriftrezeption (konkrete griechische oder hebräische Vorlage, formale Kontexteinbindung von Zitaten) nur am Rande behandelt werden. Z. untersucht, welche alttestamentlichen Vorstellungen von Matthäus rezipiert werden und in welcher Form diese Rezeption geschieht. Als Rezeptionsformen unterscheidet sie »autorisierende/legitimierende« (29 [Begründung der matthäischen Position mit der rezipierten Vorstellung]), »reakzentuierende« (29 [Begründung mit der rezipierten Vorstellung bei gleichzeitiger Akzentverschiebung z. B. auf einen Nebenaspekt]), »transformierende« (30 [Begründung unter partieller theologischer Neu­ausrichtung]) und »negierende Rezeption« (30 [Abgrenzung gegen eine Position aus den Schriften]). Der Blick auf die Rezeption von Vorstellungen bedeutet, dass nicht allein Zitate, sondern umfassend potentielle terminologische und inhaltliche Anspielungen (insbesondere motivgeschichtliche Berührungen) untersucht werden.
Der Untersuchung der Schriftrezeption im Matthäusevangelium vorangestellt ist ein Überblick über alttestamentliche Vorstellungen einer Heilsteilhabe der Völker (33–77; u. a. universales Weltgericht, Rolle der Tora für die Völker, Völkerwallfahrt). Es folgen sieben Kapitel, in denen jeweils die mögliche Rezeption einer dieser Vorstellungen bei Matthäus untersucht wird (78–330). Hieran schließt sich ein Kapitel zur christologischen Begründung der Heilstabe der Völker an, wobei auch hier die Frage maßgeblich ist, inwiefern diese mittels Schriftbezügen grundgelegt wird (331–365). Es folgt ein Fazit zu den theologischen und schrifthermeneutischen Aspekten, welche sich aus der Untersuchung ergeben (366–380).
Z.s Studie stellt eine weitgehend vollständige Darlegung der potentiellen Schriftbezüge zum Thema Heil für die Völker dar. Dabei werden diese jeweils kritisch diskutiert unter den Gesichtspunkten der Plausibilität des Vorliegens eines Bezugs und dessen Relevanz für das Verständnis des betreffenden Matthäustextes. So wird für Mt 8,11 f. (Kommen der Vielen von Osten und Westen) untersucht, inwiefern Bezugnahmen auf die Vorstellung von Abraham als Vater vieler Völker (130–152), auf das Motiv der Völkerwallfahrt (165-168) und dasjenige eines Völkermahls (196–200) vorliegen. Hinsichtlich des Motivs der Völkerwallfahrt verdeutlicht Z. insbesondere an Mt 2,1–12 (Besuch der Magier), wie dieses von Matthäus rezipiert, dabei jedoch derart transformiert wird, dass das Ziel der Wallfahrt nun nicht mehr der Zion ist, sondern Christus selbst als Verkörperung von »Gottes Mit-Sein« (177 unter Verweis auf 1,23 [Jesus als Immanuel] und 28,20 [Zusage des Mit-Seins Jesu in Ausweitung auf die Völker]; vgl. auch 156–164). Geht es hierbei um die Rezeption einzelner Vorstellungen und Motive, so werden als Schriftzitate ausführlich die Rezeption von Jes 8,23–9,1 in Mt 4, 12–16 (235–258), Jes 42,1–4 in Mt 12,18–21 (265–288) sowie Jes 56,7 und Jer 7,11 in Mt 21,13 (168–175) diskutiert.
Durch diese breite und umfassende Untersuchung sowohl der expliziten als auch nur der anklingenden und oftmals umstrittenen Bezugnahmen auf die Schriften kommt dieser Studie, unabhängig davon, ob man Z.s durchweg sorgsam abwägenden Einschätzungen zur Rezeption einer Vorstellung bzw. eines konkreten Textes oder Motivs im Einzelfall folgt, eine große Bedeutung für weitere Studien zum Matthäusevangelium zu. Z. bietet eine Art Kompendium der matthäischen Schriftrezeption zum Thema Heil für die Völker und der diesbezüglichen Forschungsdiskussion.
Inhaltlich wird durch Z.s Untersuchung deutlich, wie umfangreich Matthäus die von ihm vertretene Ausweitung des Heils auf die Völker mit der Schrift begründet. Z. sieht hierdurch ein »intertextuelle[s] Netz« (379) aus Schriftverweisen, welches »ein durchdachtes und kohärentes Ganzes« (379) darstelle, entstehen. Bedeutsam für Matthäus’ Schrifthermeneutik allgemein ist die Beobachtung, dass an keiner Stelle eine explizit negierende Rezeption einer Vorstellung erfolgt (vgl. 377). Z. sieht hierin eine große Nähe zu Matthäus’ Umgang mit den Geboten: »[…] Stellen der Schriften können zueinander in Konkurrenz treten und müssen dann ge­wichtet werden« (377). Dies geschieht beim Thema des universalen Heils nicht durch ausdrücklichen Widerspruch, sondern durch Nichtberücksichtigung ein solches Heil ablehnender Positionen.
Hinsichtlich der umfangreichen, von Matthäus intendierten Intertextualität, welche Z. feststellt, ergibt sich jedoch eine methodische Anfrage: Positiv ist, dass Z. kritisch revidierend die Kriterien zur Identifizierung von Zitaten und Anspielungen von Richard B. Hays und Leroy A. Huizenga aufnimmt (u. a. Häufigkeit der An­spielung auf einen Text und historische Plausibilität [22–28]). Hierdurch erhält die Studie eine sorgfältige methodische Grundlage. Allerdings wird bei diesen Kriterien nicht berücksichtigt, wie mit Anspielungen umzugehen ist, die Matthäus weitgehend unverändert aus dem Markusevangelium übernimmt, so dass unklar ist, ob er diese erkannt hat. Dies wäre aber relevant angesichts der These, mit den zahlreichen Schriftbezügen liege ein »durchdachtes und kohärentes Ganzes« (379) und damit eine intendierte Intertextua-lität vor. Inwiefern lässt sich aber in Mt 20,28 bei der Rede von der Lebenshingabe »für Viele« ein von Matthäus intendierter Bezug zu Jes 53 sehen (vgl. 338), obwohl Matthäus diese Stelle fast wörtlich aus Mk 10,45 übernimmt? Liegen in Mt 26,28 tatsächlich drei intendierte Bezüge auf bundestheologische Stellen (Ex 24,8; Sach 9,11; Jer 31,31–34) vor (vgl. 372), obwohl die Rede von »meinem Blut des Bundes« ( τὸ αἷμά μου τῆς διατήκης/to haima mou tes diathekes) exakt Mk 14,24 entspricht? Hier wäre es notwendig, ein diachrones Kriterium einzuführen. Infolgedessen würde »das intertextuelle Netz« (379) an Einzelpunkten wahrscheinlich weniger dicht erschei­nen, zugleich würde eine solche methodische Schärfung jedoch die spezifisch matthäische Begründung des Heils für die Völker aus den Schriften noch präziser hervortreten lassen.
Dieser methodischen Anfrage eingedenk handelt es sich bei Z.s Studie um ein inhaltlich, aber auch stilistisch gelungenes Werk. Im Anhang findet sich ein umfangreiches Stellenregister zu den be­handelten kanonischen und außerkanonischen Texten (445–479).