Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

414–416

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rahmsdorf, Olivia L.

Titel/Untertitel:

Zeit und Ethik im Johannesevangelium. Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics, X.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIII, 501 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 488. Kart. EUR 99,00. ISBN 978-3-16-156875-6.

Rezensent:

Udo Schnelle

In dieser in Mainz angefertigten Dissertation (bei R. Zimmermann) stellt sich Olivia L. Rahmsdorf der in der Forschung bisher noch nicht wirklich erörterten Frage nach dem Zeitverständnis im 4. Evangelium und seinen Verbindungen/Konsequenzen für die Ethik. Zunächst wird in einem Forschungsüberblick das Zeitverständnis im Johannesevangelium in den Blick genommen. Nach kurzen Bemerkungen zu diachronen Ansätzen werden jeweils der narratologische, zeitgeschichtliche, pneumatologische, christologische und eschatologische Ansatz mit ausgewählten Autoren und Autorinnen dargestellt, um dann den ethischen Ansatz als forschungsgeschichtliches Desiderat für das Zeitverständnis in Position zu bringen. Es geht um das Verhältnis und die Bewertung von Erzählfiguren und Zeitmodellierungen im Rahmen der narrativen Inszenierung. Ein zweiter Forschungsüberblick befasst sich mit der Wende in der neueren Johannesforschung hin zur (impliziten) Ethik und betont, dass in den vorliegenden narrativ-ethischen Ansätzen die Handlungen und Interaktionen zwischen den Figuren in ihrer jeweiligen zeitlichen Verfasstheit bisher noch nicht wirklich in den Blick genommen wurden. Da ein Erzählverlauf niemals atemporal sein kann, ist von einer Reziprozität von Narrativität und Zeitlichkeit auszugehen und für die Exegese fruchtbar zu machen. »Eine systematische, theoretische Zusammenschau von Zeit, Ethik und Erzählung im JohEv sowie eine konkrete, exegetische Analyse der dargestellten Zeitkonflikte bzw. des Zeitverhaltens der Figuren lässt die gegenwärtige Johannesforschung noch ermangeln.« (57)
Dieser Aufgabe widmet sich die Vfn., indem sie in einem ersten Schritt auf der Theorieebene das Verhältnis von Zeit, Erzählung und Ethik ausführlich erörtert. Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass Zeit zu den grundlegenden Variablen einer Erzählung gehört, so dass gefragt werden kann, welche Modulationen von Zeit einem Erzähler überhaupt zur Verfügung stehen und wie er sie konkret umsetzt. Hier ist die Interaktionsanalyse von grundlegender Be­deutung, d. h., welche Figurenhandlungen werden ausgelöst und wie werden die sich anschließenden Interaktionen zeitlich struk turiert. Für die Schnittpunkte von Zeit und Ethik ist sodann bedeutsam, was unter ›Ethik‹ verstanden wird. »Unter Ethik verstehen wir die reflexive Durchdringung von Lebensweisen hinsichtlich ihrer leitenden Normen mit dem Ziel der Bewertung« (67). Eine so verstandene Ethik zeigt sich im Johannesevangelium als implizite Ethik und die Vfn. stellt es sich zur Aufgabe, im Rahmen der Figureninteraktionen die handlungs- und verhaltenssteuernden Zeitnormen zu eruieren, um so ethische Zeitkompetenzen in den Texten des Evangeliums aufzuzeigen. »So wie der ethische Filter den Blick auf die Zeit im JohEv zu vertiefen verheißt, so soll auch umgekehrt der temporale Filter den Blick auf die Ethik im JohEv neu schärfen« (123). Dies soll in einem methodischen Dreischritt g eschehen, nämlich 1. Zeitverhalten (das Was des Geschehens); 2. Zeitinszenierung (das Wie der Geschehenskonfiguration) und 3. Zeitwahrnehmung und Bewertung (das Woraufhin der Geschehenskonfiguration).
Auf dieser Basis werden drei ausführliche Textanalysen durchgeführt. Den Anfang macht Joh 2,1–11(12): die Stunde des guten Weines. Das Zeitverhalten der auftretenden Akteure, die Zeitinszenierung mit ihren Orts- und Zeitangaben sowie die Zeitwahrnehmung und ihre Bewertung werden umfangreich und präzis herausgearbeitet. Im Mittelpunkt stehen dabei natürlich Jesus, seine Mutter, die Tischdiener und der Festordner, die jeweils unterschiedlich agieren und vielfältige Signale auf verschiedenen Ebenen aussenden. Was ist die ethische Bilanz einer solchen Textanalyse? »Eine eindeutige Entscheidung, wessen Verhalten als richtig und wessen Verhalten als falsch zu beurteilen ist, serviert die Er­zählung dem Leser trotz vielfacher Zeitwahrnehmungsfilter und Bewertungsinstrumente nicht« (239). Auch Nachahmungsappelle fehlen. Dies weist nach Meinung der Vfn. darauf hin, dass Refle-xions- und Abwägungsprozesse ausgelöst werden sollen, die auf das Verständnis der in Joh 2,4 erwähnten »Stunde« Jesu zielen. Dieser Verweis auf die Stunde der Kreuzigung und Verherrlichung sprengt die Zeitordnung sowohl des Alltäglichen als auch des Außerordentlichen (einer Hochzeit) und zeigt, dass im drohenden Ende ein Neuanfang sichtbar wird. Als zweite Texteinheit wird Joh 4,43–54 analysiert: Leben über Ort und Zeit hinweg. Die Vfn. führt wiederum eine sehr tiefgehende Analyse durch, bei der die Figurenkonstellation sowie die verschiedenen Ebenen des Zeitbegriffes im Mittelpunkt stehen. Während der Königliche allein die ablaufende Lebenszeit seines Sohnes im Blick hat, will Jesus Glauben wecken; einen Glauben, der von keiner Zeitform oder -norm eingeschränkt werden kann. Jesus verfügt über eine Lebenskraft, die keinen örtlichen oder zeitlichen Beschränkungen unterliegt, und deshalb hat er auch keine Eile. Durch Jesu Verhalten treten dann aber Wunder und Glaube nicht in ein Konkurrenzverhältnis, sondern beides ereignet sich gleichzeitig. Eher kurz und summarisch wird am Ende der Exegese der Versuch gemacht, dem Verhalten Jesu und des Königlichen auch eine ethische Orientierung zuzuschreiben (Vertrauen, dass die Zeit in Gottes Hand liegt). Nach dem bewährten methodischen Muster wird als dritter Text Joh 11,1–12,1 einer ausführlichen Exegese unterzogen. Diese an Personen, Zeitebenen, außergewöhnlichem Verhalten, überraschenden Ereignissen, Erwartung und Dramatik reiche Erzählung erweist Jesus in einzigartiger Weise als Herrn über die Zeit. In den verschie­denen Inter aktionen werden den Lesern unterschiedliche Zeiterwartungen und Zeitnormen angeboten. »Für die ethische Orientierung und Reflexion des Lesers ist gleichsam entscheidend, dass die übrigen Figuren sehr ambivalent gezeichnet sind und sich deren jeweiliges Verhalten einer eindeutigen Einordnung in Gut und Böse sperrt« (359). Auch der Leser wird gefragt: »Glaubst du das«? Er kann sich an den Erzählfiguren orientieren und wird so zu einer Bewertung des Zeitverhaltens Jesu gebracht, das von Zeitverzögerung bis Herrschaft über die Zeit reicht. Auf die Exegesen der drei Schlüsseltexte folgen kurze Ausblicke auf weitere Zeitkonflikte im Evangelium: Joh 2,13–22; 5,1–18; 7,1–10; 8,2–11; 13,1–10.36–38 und 21,15–19; 18,1–19,16; 20,1–10. Im Anschluss werden dann die Ergebnisse formuliert: Danach zielt die johanneische Zeitinszenierung auf »einen neuen Kompass zur Orientierung in den Zeiten, nämlich die Liebe, die ins Ende und in die absolute Beziehungslosigkeit hineinreicht und diese und das Ende überwindet« (432). Für die Leser des Evangeliums ergibt sich daraus, dass sie weder Jesus noch die Erzählcharaktere einfach nachahmen können, sondern sie müssen einen eigenen Zugang zum Christusgeschehen und den mit ihm gebotenen Zeithorizonten zur Orientierung in ihrem Le­ben finden. Dafür öffnen die Geschehenskonfigurationen der Er­zählungen als Medium für die Einübung von Zeitkompetenz auch ethische Kompetenz, in­dem sie ethische Reflexionen auslösen und die für jeden Menschen begrenzte Lebenszeit in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die Orientierung an Jesus führt zu der Erkenntnis: »In der Verschwendung der eigenen Zeit für den Anderen entsteht eine neue Fülle der Zeit abseits linearer Zeitökonomisierungen und kalkulierter Einsparungen von Uhrenzeit« (447). Es gilt, die eigene Lebenszeit nicht zum Überholen der Anderen zu verwenden, sondern sie für die Anderen einzusetzen und hinzugeben.
Es gelingt der Vfn., mit einem breiten methodischen Instrumentarium und minutiösen Exegesen einen bisher wenig beachteten Aspekt johanneischer Theologie zu erhellen: die ethische Relevanz der Zeit.