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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

400–403

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Wirth, Raimund

Titel/Untertitel:

Die Septuaginta der Samuelbücher. Untersucht unter Einbeziehung ihrer Rezensionen.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 271 S. m. 6 Tab. = De Septuaginta Investigationes, 7. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-53694-0.

Rezensent:

Siegfried Kreuzer

Diese Arbeit entstand ab 2006 auf Anregung von Anneli Aejmelaeus (Göttingen, später Helsinki) und wurde 2015 in Heidelberg als theologische Dissertation angenommen. Ihr Autor Raimund Wirth blieb aber, wie er im Vorwort (5) erklärt, ganz im finnischen Umfeld. Zielsetzung und Vorgangsweise werden in der Einleitung beschrieben:
»In dieser Arbeit wird untersucht, wie die hebräischen Samuelbücher im zweiten Jahrhundert vor Christus ins Griechische übertragen wurden. Wichtige Leitfragen sind: Wie wörtlich oder frei arbeitet der Übersetzer? Wie konstant oder variierend gibt er bestimmte syntaktische Strukturen wieder? […] Die für ausgewählte Phänomene vorgenommenen querschnittartigen Untersuchungen einer jeweils hohen Anzahl von Fällen führen zu statistisch abgesicherten Antworten auf solche Fragen. […] Wegen der besonderen Überlieferungssituation des Samueltextes im Kaige-Abschnitt (2Sam 10,6–24,25) ist es wichtig, auch die beiden großen Rezensionen der Samuelseptuaginta in den Blick zu nehmen, die Kaige- und die lukianische Rezension. […] Die so gewonnenen Kenntnisse sind grundlegend für eine seriöse textkritische Arbeit an den Samuelbüchern, insbesondere im Kaige-Bereich.« (11)
W. beruft sich ausdrücklich auf die von Ilmari Soisalon-Soininen (1917–2002) begründete Tradition der Helsinki-Schule, in der vor allem die Wiedergabe einzelner Elemente des Textes untersucht wird, und er bezieht sich vorwiegend auf Arbeiten aus dieser Schule. Er untersucht zunächst die Wiedergabe der Konjunktionen יכִ und וְ (Kapitel 2) und der Präpositionen בְ und כְ (Kapitel 3). Im Wesentlichen ergibt sich: »Im Vergleich zu anderen Büchern der Septuaginta gehört Samuel zusammen mit Könige und Richter in die Gruppe der wörtlichen Übersetzungen. […] Das gewonnene Bild der Arbeitsweise des Samuelübersetzers entspricht den Beobachtungen, die Seppo Sipilä [1999] für das Richterbuch macht.« (83 f.) In etwa dasselbe Bild der Übersetzungstechnik ergibt sich auch bezüglich der Verwendung der für das Griechische typischen Konstruktionen p articipium coniunctum und genitivus absolutus in Ka­pitel 4 (112–147).
Mehrmals spricht W. von »easy technique« (so erstmals S. 44 unter Bezug auf James Barr, The Typology of Literalism in Ancient Biblical Translations, 1979; dann: 51.60 f.84,.128.131.219.221), d. h. einfacher Übersetzungstechnik, bei der der Übersetzer standardmäßig bei einem Äquivalent bleibt. Allerdings arbeitet der Übersetzer keineswegs mechanisch, sondern er behält Kontext und Verständlichkeit im Blick (44.58). – Das alles ist gewiss richtig, aber auch nicht wirklich neu. Zugleich zeigt sich, dass die Untersuchung isolierter Partikeln und einzelner Verbformen bei allem anerkennenswerten Aufwand doch punktuell bleibt.
W. setzt folgendes Bild der Textgeschichte voraus: Der griechische Text der Samuelbücher ist in zwei großen Handschriftengruppen überliefert: dem Text des Kodex Vaticanus, der mit einzelnen Änderungen auch in der Handausgabe von Alfred Rahlfs als ältester Text wiedergegeben wird, und dem sogenannten lukianischen bzw. antiochenischen Text, der traditionell nicht nur als no­minell mit Lukian verbunden, sondern als von Lukian um 300 n. Chr. erheblich überarbeitet betrachtet wird. Die späteren Textzeugen sind weithin Mischtexte.
Im Kodex Vaticanus gibt es die Besonderheit, dass ab 2Sam 10 bzw. 11 ein stark isomorph hebraisierter Text vorliegt. Rahlfs hat im Wesentlichen diesen Text wiedergegeben. Durch die Funde aus Qumran und der Wüste Juda wurde dieser Text von Dominique Barthélemy (Les Devanciers d’Aquila, VTS 10, 1963) als eine jüdische Bearbeitung aus dem 1. Jh. n. Chr. (heute aufgrund des paläographischen Befundes: 1. Jh. v. Chr.) erwiesen und als Kaige-Rezension bezeichnet. Daraus ergeben sich drei Phasen der Textgeschichte: 1) die ursprüngliche griechische Übersetzung (Old Greek), 2) die Kaige-Rezension, die allerdings im Nicht-Kaige-Bereich kaum greifbar (bzw. nicht erhalten) ist, und 3) eine späte lukianische Bearbeitung um 300 n. Chr.
W. akzeptiert die von Dominique Barthélemy identifizierte Kaige-Rezension, er lehnt aber, so wie seine Mentorin, die damit verbundene Erkenntnis Barthélemys ab, dass der lukianische Text die ältere Vorlage des Kaige-Textes ist und somit den ursprünglichen Text der Septuaginta repräsentiert (wenn auch mit Verderbnissen infolge der Überlieferung): »c’est la vielle Septante, plus ou moins abâtardie et corrompue« (Barthélemy, 127). Barthélemy bezeichnet die Annahme einer lukianischen Rezension ausdrücklich als falsch (»La prétendue ›recension lucianique‹«; Barthélemy, 126–128). Diese Erkenntnis ist zwar bis heute umstritten, sie findet aber zunehmend Zustimmung, u. a. aufgrund der von Siegfried Kreuzer vorgelegten Textanalysen. W. wischt die Argumente rasch beiseite: »Eine Schwäche der Darstellung Barthélemys liegt in seiner Bewertung des lukianischen Textes der Samuel- und Königebücher, den er (abgesehen von hexaplarischem Einfluss) für identisch mit der ursprünglichen Übersetzung (Old Greek) hält« (15; der Verweis auf S. P. Brock, 1965, ist zu wenig Argument). Auf S. 232 wird Barthélemy, 1972, 73–81, fälschlich so zitiert, als habe er von einer lukianischen Rezension gesprochen. Er unterscheidet aber dort zwischen Rezension und Edition und spricht nur von einer Edition und von der Zuschreibung [!] des Textes an Lukian. Derselbe Verweis (27, Anm. 5) ist zumindest irreführend. Dass Kreuzer »ganz unterschiedliche Sachverhalte« untersuchte (15, Anm. 15), ist vielleicht gerade kein Argument gegen seine Ergebnisse. W. bezeichnet es als »grundlegenden methodischen Fehler«, dass Kreuzer (bei der Un­tersuchung des Beitrags von Sebastian Brock) davon ausgeht, dass der lukianische Text in den Kaige- und Nicht-Kaige Abschnitten die gleiche Charakteristik habe. Bei W. selbst kommt diese Annahme jedoch wiederholt vor (z. B. 211: »Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die lukianischen Rezensenten im Kaige-Bereich in grundlegend anderer Weise vorgegangen wären.«), und sie ist die Grundlage für seine Schlüsse aus dem Nicht-Kaige in den Kaige-Bereich (so S. 25 bei den Bemerkungen zur Methodik). Eine echte Auseinandersetzung mit den Argumenten von Barthélemy und den zahlreichen Textanalysen von Kreuzer (und einigen weiteren Autoren) findet nicht statt.
Das vorausgesetzte Bild der Textgeschichte wirkt sich insbesondere beim umfangreichsten Kapitel der Arbeit (Kapitel 5: »Tem-pora: Imperfekt und praesens historicum«, 148–218) aus. W. stellt zunächst fest, dass das Präsens historicum in den erzählenden Passagen von Samuel und Könige auffallend oft, nämlich mit ca. 10 % der Tempora vorkommt. Zum Vergleich greift er auf Karl Eriksson, Das Präsens Historicum in der nachklassischen griechischen His­toriographie, Lund 1943, zurück. Der Samuel-Übersetzer »imitiert den Gebrauch des praesens historicum, wie er sich bei den klassischen Historiographen findet.« (189).
Dagegen greifen »die lukianischen Rezensenten erheblich in den Gebrauch das praesens historicum ein. In 41 Fällen überführen sie es im Non-kaige-Bereich in den Aorist; einmal ins Imperfekt. Dem stehen 18 Fälle gegenüber, bei denen die Rezensenten ein anderes Tempus in [!] das praesens historicum ändern.« (201) W. be-zieht sich wieder auf die Historiker: Samuel (und Könige) haben eine erheblich höhere Dichte des Präsens historicum als die griechischen Schriftsteller (ein Beleg pro 145 Wörter gegenüber ca. 250 bei Herodot, Thukydides und Xenophon; Wirth, 198, Anm. 44). – Und das, obwohl der Übersetzer angeblich die Historiker imitiert hatte! Diese übergroße Zahl muss daher von der lukianischen Re­zension reduziert worden sein: »Für die Änderungen der präsentia historica durch die lukianischen Rezensenten lässt sich deutlich eine stilistische Motivation erkennen: Der sehr häufige, manieriert wirkende Gebrauch des praesens historicum wird auf ein erträgliches Maß reduziert.« (205)
Abgesehen von der Frage, ob sich ein Bearbeiter des biblischen Textes um 300 n. Chr. veranlasst sah, dem statistischen Wortgebrauch von Autoren zu folgen, die 700 Jahre vor ihm lebten, bleibt die Frage: Welches sind die Textzeugen für die angenommene ursprüngliche Übersetzung? Merkwürdig ist auch, dass die lukianische Rezension nicht nur »die manieriert wirkende hohe Dichte des praesens historicum […] reduziert«, sondern andererseits »auch neue praesentia historica ein[geführt]« haben soll (214), weshalb man nicht alle im lukianischen Text vorfindlichen praesentia historica der Old Greek zurechnen dürfe. – Woher weiß W. das? Was sind die Kriterien für diese Annahmen?
Da es keine Textzeugen für diese Old Greek gibt, kommt W. zur Frage nach »nicht handschriftlich bezeugte[n] praesentia historica« (210 f.) und plädiert für »Konjekturen als Option der Textkritik«, um die statistisch geforderte Zahl herzustellen, denn: »Verzichtet man aber generell auf Konjekturen dieses Typs, ist die Zahl der praesentia historica im Kaige-Bereich in der Summe deutlich zu niedrig im Vergleich zu der Anzahl, die Old Greek enthalten hat.« (213) »Für die Göttinger kritische Ausgabe stellt sich die Frage nach solchen Konjekturen sehr konkret.« (213) – D. h.: Die Rekonstruktion des ältesten Textes wird mit Konjekturen an die Theorie angepasst. Kann das die angekündigte Basis für »eine seriöse textkri-tische Arbeit an den Samuelbüchern« (11) werden? Die implizite Agenda ist, dass der lukianische/antiochenische Text nicht die Old Greek sein darf.
W. bleibt ganz seinem Umfeld verpflichtet. Das sollte man respektieren. Dass es aber andere Perspektiven gibt, zeigt sich etwa auch daran, dass die spanische Übersetzung der Septuaginta in den Geschichtsbüchern nur mehr den lukianischen (als den ältesten) Text wiedergibt.