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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

397–400

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Opferkuch, Stefan

Titel/Untertitel:

Der handelnde Mensch. Untersuchungen zum Verhältnis von Ethik und Anthropologie in den Testamenten der Zwölf Patriarchen.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XII, 377 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 232. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-11-057990-1.

Rezensent:

Jan Dochhorn

Umfängliche paränetische Passagen sind typisch für die Testamente der zwölf Patriarchen (Test XII), eine Schrift, die Stefan Opferkuch ohne nähere Angaben dem frühen Judentum zuordnet, er­klärtermaßen unter Nichtberücksichtigung der literarkritischen Problematik (vgl. die etwas kryptische Formulierung: »der fraglichen Überlieferung zum Trotz soll dabei der vorliegende Endtext der Test XII betrachtet« werden, 20). Um Ethik und Anthropologie der Test XII herauszuarbeiten, analysiert O. zunächst – nach einem Forschungsüberblick (Teil 1) – mehrere ihrer Paränesen im Einzelnen (Test Ruben und Test Juda zur Trunksucht und zur Sexualität, Test Simeon, Test Gad, Test Dan zu Neid, Zorn und Hass, Test Issachar, Test Sebulon und Test Joseph zu diversen Tugenden; Teil 2), skizziert sodann eine Gesamtschau ihrer Anthropologie (Teil 3) und erörtert abschließend systematisch das Verhältnis von Anthropologie und Paränese in den Test XII (Teil 4). Speziell in Teil 2 werden Einzelexegesen vorgenommen, in denen sogar textkritische Fragen berücksichtigt werden. Biblische und parabiblische Hintergründe werden dabei gleichermaßen namhaft gemacht wie pagane. Bei Ersteren weist O. exegetische Arbeit sowohl mit der Septuaginta als auch mit hebräischer Textüberlieferung auf, und neben Torareferenzen bestimmen vor allem Hinweise auf das Proverbienbuch das Bild. Von den parabiblischen Texten scheinen insbesondere das Jubiläen- und das Sirachbuch relevant. Was die paganen Hintergründe betrifft, werden durchgehend griechische und lateinische Autoren angeführt, und hier vor allem Belege aus der philosophischen Tradition: Neben Cicero und Seneca begegnet immer mal wieder Plutarch. Konkrete Abhängigkeiten werden hier nicht aufgezeigt, wohl aber wird eine Belesenheit des Autors der Test XII in entsprechender Literatur angenommen. Es entsteht das Bild eines Schriftstellers, der in jüdischer und hellenistischer Literatur gleichermaßen zuhause war. Es wird aber nicht versucht, ihn religionsgeschichtlich näher zu kontextualisieren. O. beschränkt sich darauf, etwas wie eine synchron angelegte Gesamtschau von Ethik und Anthropologie in den Test XII zu erheben, und dies geschieht meinem Eindruck nach, ohne dass den Texten Zwang angetan wird.
Ein Kernelement dieser Gesamtschau ist eine Kategorisierung anthropologischer Aussagen der Test XII mit Hinblick auf ihre Relevanz für die Ethik, die sich im Schlussabschnitt findet (Teil 4). Unterschieden werden 1) »implizite anthropologische Sachverhalte«, 2) »indirekt paränetische anthropologische Sachverhalte« und 3) Sachverhalte der Anthropologie, die explizit relevant sind für die Paränese. Im Einzelnen unterschieden werden 1a) ein durchgehender Dualismus zwischen Gott und Beliar, in den der Mensch hineingestellt ist, 1b) die Konzeption eines menschlichen Personzentrums ( διάνοια, διαβούλιον, νοῦς, ψυχή), das sich entweder der einen oder aber der anderen Seite zuneigt, 1c) eine Handlungstheorie, der zufolge Selbstkontrolle entscheidend ist für das Tun des Guten bzw. das Vermeiden des Bösen, 2a) der Tun/Ergehens-Zusammenhang, 2b) die Einwohnung Gottes oder Beliars bzw. seiner Geister im Menschen als Folge oder Begleitmoment entsprechenden Tuns, 3) explizite Theorien über das anthropologische Profil von Lastern (etwa Neid, Trunksucht), und zwar immer dann, wenn diese nicht explizit von der Tora verboten werden.
Ich werde nachfolgend zunächst einige der oben aufgelisteten Kategorien erörtern, die mir besonders interessant erscheinen:
Ad 1a) O. stellt in Abrede, dass in den Test XII ein radikaler Dualismus vorliege; angemessener erscheinen ihm Begriffe wie relativer Dualismus und ethischer Dualismus (263–267). Meines Erachtens liegt er hier richtig: Gott und Beliar sind keine Prinzipien wie etwa in Varianten der zarathustrischen Religion Ahura Mazda und Angra Mainyu. Gerade deshalb hätte O. darauf verzichten sollen, Beliar immer wieder als Widersacher Gottes zu bezeichnen. Wohl zutreffend hebt er hervor, dass in den Test XII Gott und Beliar auch in eschatologischer Hinsicht nicht gleichberechtigt seien: Der Weltprozess hat keinen offenen Ausgang (264). Als Kontrast nennt er die Kriegsrolle in Qumran (ebd.), was er meines Erachtens besser unterlassen hätte: Auch hier sehe ich ein von Gott her bestimmtes und damit gerade nicht radikal-dualistisches Endzeitgeschehen: Wenn einmal die Rotten Beliars erfolgreich kämpfen, dann aufgrund der Geheimnisse Gottes (vgl. 1Q M 16,11).
Ad 1c) Das Ethos der Selbstkontrolle identifiziert O. etwa in der »Affektparänese gegen Neid, Zorn und Hass« (250). Er benennt stoische Parallelen als Hintergründe (251), sieht aber auch, dass den Test XII zufolge der sich selbst nicht mehr beherrschende Neider, Zürner und Hasser von den Geistern Beliars fremdbestimmt wird (ebd.). Gehen hier in den Test XII hellenistische Philosophie und eine – von der Henochüberlieferung vorbereitete oder verstärkte – Dämonologie nebeneinander her? Meines Erachtens wird hier eine religionsgeschichtliche Fragestellung berührt, die einmal umfassend untersucht werden müsste. Wie sicher ist es eigentlich, dass die Stoa hier älter ist als das, was sich in orientalischen Parallelen findet, etwa in den Test XII?
Ad 2b) Zu Aussagen über eine Einwohnung Gottes im Menschen vermisst O. passgenaue Parallelen: Neutestamentliche Texte und Belege bei Diogenes und Laertius und Seneca, die er eingehend erörtert, sind ihm nicht ähnlich genug (268–273); Einwohnung Beliars sieht er in den Test XII eher selten konzeptualisiert (289–290); mit Hinblick auf Beliars Geister diskutiert er unter anderem, inwiefern bei ihnen überhaupt an personal zu verstehende Mächte gedacht ist (291–296). Meines Erachtens gehören die hier angesprochenen Vorstellungen in den Zusammenhang einer pneumatologischen bzw. dämonologischen Herleitung menschlichen Handelns, die auch in Apc Mos 15–30 zum Tragen kommt (der Teufel als eigentliches Subjekt der Vergehen von Schlange, Eva und Adam) sowie in Röm 7,7–25 (die Sünde als in den Menschen eindringende und ihn dann kontrollierende Macht). Es gehört zu dieser Handlungstheorie, dass die Menschen verantwortlich sind für ihr Tun, unangesehen seiner Verursachung durch Fremdmacht: Es ist ihr eigenes Tun, das denn auch in psychologischen Kategorien beschrieben werden kann. Psychologie und Dämonologie stehen hier nebeneinander.
O. hält sich zurück bei Fragen diachroner Textanalyse und der Religionsgeschichte, aber diese drängen sich auf – nicht zuletzt aufgrund seiner Ergebnisse:
1. Wer ist Autor dessen, was O. untersucht, im Ganzen wie im Einzelnen? Es gibt in den Test XII einen christlichen Einschlag, aber O. behandelt sie als frühjüdische Schrift. Meines Erachtens sind sie in der Tat eine solche – aber eben abgesehen vom christlichen Einschlag. Dies jedoch bedeutet: Vom Autor kann man nicht so ohne Weiteres aufgrund eines Endtextes reden, denn in diesem gibt es neben dem Autoren noch mindestens eine weitere Stimme.
2. Und der Endtext – was ist das eigentlich genau? Der Archetyp? Dieser ist ein hypothetisches Manuskript, das Interpolationen und Fehler enthielt. Ein um Fehler bereinigter Archetyp? Auch bei diesem handelt es sich um einen hypothetischen Text, den es einmal gegeben haben muss, als die vorhergehende Interpolationsarbeit abgeschlossen war. Und dann: Gab es einen, gab es mehrere Interpolatoren; sind diese nur christlich?
3. Gehen wir einmal von einem um Fehler und Interpolationen bereinigten Text aus: Welchen Anteil hat der Autor eines Gesamtwerks Test XII an diesem und wie viel geht auf ältere Quellen zu­rück? Wir wissen von einer Weiterverarbeitung des Aramäischen Levi-Dokumentes (ALD) in Test Levi. Hat es irgendeine Bedeutung, dass Test Levi in O.s Werk keine so große Rolle spielt? Ist vielleicht die Paränese der Test XII mitsamt ihrer Anthropologie typisch für die Gesamtkomposition und nicht so sehr für ihre Quellen (wie viele gab es)?
4. Die paränetischen Themen bestimmen nicht zuletzt die Superscriptiones der einzelnen Testamente: Hat dies etwas mit einer Autorenabsicht zu tun oder eher mit einem Interesse der Re­zipienten? Textkritik und Kompositionskritik greifen hier ineinander.
5. Wie ist ein Autor historisch zu verorten, der sich so zwischen Judentum und Hellenismus bewegt wie laut O. derjenige, der hauptsächlich die Test XII hervorgebracht hat? Meine Vermutung: Er gehört zur Frühgeschichte der griechisch-jüdischen Literatur in Palästina, geht anderen Werken voraus, die ähnlich konturiert sind (Test Job, Apc Mos, Vit Ad, Ass Mos, Test Abr, Hist Melch, Paulus).
6. Inwieweit ist pagane Umwelt bei einem Werk wie den Test XII notwendig eine griechische oder griechisch-römische? Gab es nicht auch eine ägyptische, iranische, phönizische, pagan-aramäische Geisteswelt? Man blickt tendenziell nach Westen, wenn man als Neutestamentler oder Judaist mit jüdischen Parallelen fertig ist, als käme außerjüdischer Einfluss immer von da. Warum zitiert man etwa, wenn es um Weisheitliches in frühjüdischen Parabiblica geht, Werke von Plutarch eher als beispielsweise die zarathustrische Weisheitsschrift Dādestān ī Mēnōg ī xrad (auch: Mainyo i Khard), in der man mitunter erheblich Älteres (aus der Avesta-Literatur) zu erwarten hat als bei Plutarch?
Der vorhergehende Fragenkatalog lässt sich – jetzt einmal abgesehen vom besprochenen Werk – ungezwungen als Plädoyer für Diachronie und Religionsgeschichte verstehen. Ich bemerke einen Rückgang historischen Interesses in dem, was man früher als Geis-teswissenschaften bezeichnet hat. Das Konzept »Geisteswissenschaften« war verbunden mit einem tief verankerten Wissen um das Gewordensein von Geistigem, das man wohl überwiegend der Romantik verdankte: Das ist kulturelles Erbe – nach wie vor der wichtigste Ausgangspunkt von Innovation.