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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

395–397

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Meyer-Blanck, Michael [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Säkularität und Autorität der Schrift.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 217 S. = Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, 45. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04172-5.

Rezensent:

Stefan Alkier

Der Band Säkularität und Autorität der Schrift geht auf eine Ta­gung zurück, die »auf Anregung und Einladung« der Theologischen Fakultät der Comenius-Universität Bratislava im September 2013 stattfand (10). Das Bachtinsche Konzept der Polyphonie, das in einigen Beiträgen kenntnisreich und differenziert für die Kanonfrage durchdacht wird, praktiziert der Tagungsband mit großem Ertrag selbst. Hier führen verschiedene Stimmen aus unterschiedlichen europäischen Kontexten einen offenen Dialog. Dass alle beteiligten Stimmen etwas zu sagen haben, das über ihren je eigenen Kontext hinaus relevant ist, macht den Band insgesamt lesenswert.
Schon das Vorwort (7–10) von Michael Meyer-Blanck sei allen Theologinnen und Theologen der Lektüre empfohlen. Er führt auf nur knapp vier Seiten substantiell in die Problemstellung des Bandes ein und macht damit auf ein wesentliches Problem gegenwärtiger Wissensbildung aufmerksam: »Damit bedeutet Säkularität das Schwinden klar erkennbarer Autorität zugunsten von impliziter Autorität. An die Stelle traditionaler Autorität tritt die untergründig wirksame […] Autorität.« (7) »Säkularität führt wissenschaftlich auf jeden Fall zu einer verstärkten Unkenntlichkeit von Autorität und damit zur Notwendigkeit einer Thematisierung von Autorität.« (10 f.) Die Konsequenz, die Meyer-Blanck aus dieser Einsicht zieht, ist wegweisend: »In Zeiten, da das in Geltung Stehende undeutlich und strittig geworden ist, müsste sich die Theologie eigentlich hauptsächlich mit dem Normativen befassen, also mit den Bedingungen und Inhalten dessen, was geglaubt werden kann und wie gehandelt werden kann.« (7 f.) Zu diesen Fragen liefern die folgenden Beiträge viele Anregungen.
Der Alttestamentler Dávid Benka führt in seinem Beitrag »Polyphonie des Textes und Autorität der Schrift« (11–29) wichtige Argumente dafür an, die Konzepte von Polyphonie und Dialogizität Michail Bachtins für ein kommunikatives Kanonverständnis zu berücksichtigen. Er unterscheidet davon das Konzept der Intertextualität, das Julia Kristeva auf der Grundlage Bachtins entwi-ckelte, und schlägt vor, den Begriff der Polyphonie für die Dialogizität von Stimmen innerhalb eines Textes zu reservieren und davon die Intertextualität als Dialogizität von Texten zu unterscheiden. Beide Konzepte aber tragen zum notwendigen »Zusammen-Denken« (26) bei, das Grundlage für die kommunikative Autorität (25) des Kanons sei. So könne der unproduktiven Tendenz historisch-kritischer Auflösung der Zusammenhänge der Schriften eine gleichermaßen diachronisch wie synchronisch argumentierende Al­ternative entgegengestellt werden.
Johannes Klein liefert mit seinem gleichlautenden Beitrag »Po-lyphonie des Textes und Autorität der Schrift« (30–41) eine »Re-sponse« zu Benka. Er weist daraufhin, dass die Bibel auch monologische Texte bzw. Textpassagen bietet, diese aber den polyphonen Ge­samtcharakter eher noch verstärken (vgl. 32). Trefflich stellt er fest: »Die Zeit, in der man vorschnell Widersprüche und literarkritische Hypothesen zugunsten monologischer Einheit in Form von Grundschichten und Grundschriften, die die mutmaßlich ältesten und dadurch als echt ausgezeichneten Gedanken repräsentieren, auflöst, dürfte vorbei sein« (34).
Friedhelm Hartenstein, problematisiert in seinem Beitrag »Autorität der Religionsgeschichte – Polyphonie der Theologien« (42–65) die Auffassung von der Ersetzung der Schriftautorität durch die Autorität der Religionsgeschichte insbesondere am Verhältnis von Religionsgeschichte und Theologie des Alten Testaments und zieht unter dem Titel »Geglaubte Geschichte verstehen« ein hermeneutisches Resümee. Er plädiert für eine Korrespondenzbeziehung von Religionsgeschichte und Theologie und sieht die »Aufgabe des Verstehens der Bibel als ein enzyklopädisches Band zwischen den Disziplinen der evangelischen Theologie« (57). Der reduktionistischen Auffassung von Reinhard G. Kratz, dass »das exegetische Geschäft ›dem Wesen nach ein historisches ist‹« (56), erteilt er eine klare Absage zugunsten der bleibenden theologischen Verantwortung aller Disziplinen evangelischer Theologie. Sein Lösungsvorschlag er­neuert die »Frage nach einer ›Mitte‹ des Alten Testaments« und resümiert im Stile einer textintentionalen Hermeneutik: »Die biblischen Texte […] wollten bereits in ihren ersten Kontexten als glaubwürdige Zeugnisse erfahrener Rettung gelesen werden.« (65) – Die Response darauf, »Autorität der Religionsgeschichte – Polyphonie der Theologien« (66–73) von Martin Prudky, gibt zu bedenken, dass sich der Begriff der Autorität selbst verschiebt, wenn man »Schriftautorität« durch »Autorität der (Religions-)Geschichte« (66) ersetzt. Er würdigt Hartensteins theologisches Interesse, moniert aber, dass dessen hermeneutisches Plädoyer »erneut ziemlich do­minant von einem Nachdruck auf ›historisches Verstehen‹ be­herrscht« (71) wird.
Wolfram Kinzig kann in seinem informativen Beitrag »Von der Verbalinspiration zur Verbalinspiration. Beobachtungen zur Ge­schichte der Schriftautorität in der Neuzeit« (74–113) aufzeigen, dass bis heute die als solche erst in der Moderne formulierte Inspirationslehre über die Konfessionen und geographischen Konfessionen hinweg von der großen Mehrheit christlicher Kirchen und Gruppierungen geteilt wird und der deutschsprachige aufgeklärte Protestantismus mit seiner Kritik daran eine exotische Minderheit darstellt. Er bringt kenntnisreich Vertreter und Kritiker dieser Lehre vom 16. Jh. bis zur Gegenwart zur Darstellung. Allerdings verzichtet er auf die Erwähnung von Johann Salomo Semler, dessen historisch-kritische Destruktion der Verbalinspiration im 18. Jh. maßgeblich zur Etablierung historisch-kritischer Exegese beigetragen hat. Sein Beitrag schließt mit einer gewichtigen Thesenreihe, aus der These 2 zitiert werden soll: »In der Verteidigung der Lehre von der Verbalinspiration ging es daher immer auch um einen Autoritätsanspruch. Beansprucht wurden und werden Monopole in der Bibelauslegung und der Dogmatik, dann aber auch in der Kontrolle geistlichen Lebens.« (103) – Der als Response abgedruckte Beitrag »Inspiration und Übersetzung« (114–121) von András Korányi geht kaum auf Kinzig ein, sondern schildert die komplexe Geschichte der ungarischen Károli-Bibel als Beispiel für das schwierige Verhältnis von Inspirationslehre und Bibelübersetzungen.
Wilfried Engemann wirbt in seinem Beitrag »Schriftautorität als Kommunikationsbegriff und hermeneutische Kategorie. An­merkungen zum Umgang mit der Bibel im Gottesdienst« (122–144) für ein antiautoritäres Verständnis von Autorität. Die biblischen Texte werden als »gültiges Muster für ein Leben aus Glauben«, als »Glaubenszeugnisse« (132) respektiert, die aus einer vergangenen und daher anderen Kommunikationssituation heraus formuliert wurden als die, in der sie nun gelesen werden. Sie entfalten Autorität nur in diesen neuen Kommunikationssituationen, indem in der Auseinandersetzung mit ihren Inhalten und Haltungen Leben in der Gegenwart besser verstanden und gestaltet werden kann. Schriftautorität wird damit zu einer Grundkategorie einer praktisch-theologischen Hermeneutik mit Relevanz für alle theologischen Disziplinen. »Die ideale Form der ›Anerkennung‹ der Autorität der Schrift ist ein Leben aus Glauben in Freiheit, Liebe und Gelassenheit.« (144)
Hans Weder wirbt in seinem Beitrag »Die Kirche als ›Geschöpf des Evangeliums‹ in neutestamentlicher Zeit« (145–162) für die Bilder der Gleichnisse, die er als »stillere Bilder« (161) beschreibt, die zu einer »Kultur der Wahrnehmung« (160) beitragen können. Die ausführliche Response darauf von Imre Peres (163–173) gibt kritische Anregungen dafür, wie »Kirche als Geschöpf des Evangeliums« in gegenwärtigen ostmitteleuropäischen Kontexten und insbesondere in Ungarn (vgl. 171) verstanden und gestaltet werden könnte.
Jan Roskovec, »Autorität der Schrift in post-Autoritärer Zeit und Gesellschaft« (174–186), möchte die Schriftautorität als eine »nicht-autoritäre[…] Autorität« auffassen und zugleich mit der historisch-kritischen Erforschung der Kanonbildung die Autorität der Kirche begründen. Die Response von Christian Danz (187–199) kritisiert konzeptionell, dass Roskovec »unterschiedliche Theoriedesigns« (195) verknüpft, ohne zu zeigen, wie diese ineinandergreifen könnten.
Elisabeth Gräb-Schmidt, »Autorität und Einsicht. Hermeneutik in der Moderne« (200–215), leistet einen wegweisenden Beitrag für eine plausible Verhältnisbestimmung von Historizität und Geltung. Damit gelingt es ihr, das Vorurteil in Frage zu stellen, die reformatorische Schriftlehre und kritische historische Forschung bildeten einen unvermittelbaren Gegensatz. Sie zeigt dagegen auf, dass Historizität und Geltung als produktive Spannung begriffen werden können, die das Verstehen der Schrift selbst als »Erprobung der Schrift hinsichtlich ihrer Erschließungskraft« in je verschiedenen kontingenten Kommunikationssituationen sehen lässt. Mit ihrem Denkansatz der Durchleuchtung produktiver Spannungen gelingt es, aus den vermeintlichen Dichotomien, die im Zuge der affirmativen Rede von der »Krise des Schriftprinzips« immer wieder angeführt werden, herauszuführen und sowohl das historisch Kontingente als auch die »Geltungskraft der Schrift« (214) besser zu verstehen und ganz nebenbei auch einen überzeugenden Ansatz der Verhältnisbestimmung von Schrift und Tradition zu formulieren. Überlieferung wird damit als »Kommunikationsgeschehen der Verkündigung, das sich selbst in die Tradition der Orientierung am sensus litteraris stellt« (208) bestimmbar. »Für diesen Geltungsanspruch der Tradition in der Verborgenheit ihrer Geschichte steht nun genau die Autorität der Schrift.« (215)