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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

393–395

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Hong, Jonathan

Titel/Untertitel:

Der ursprüngliche Septuaginta-Psalter und seine Rezensionen. Eine Untersuchung anhand der Septuaginta-Psalmen 2; 8; 33; 49 und 103.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 356 S. m. 22 Abb. u. 32 Tab. = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 224. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-17-036436-3.

Rezensent:

Holger Gzella

Beim Psalter prallen die unterschiedlichen Trends der gegenwärtigen Septuagintaforschung hart aufeinander: Verfechter einer me­chanischen Transformation des hebräischen Textes in griechische Formen und Vokabeln führen das recht hohe Maß der Entsprechungen auf Wortniveau ohne erkennbares exegetisches Programm an, während das Erspüren eines theologischen Eigenprofils aus sporadischen, subtilen Abweichungen vom erwarteten Schema die Übersetzung in die Auslegungsgeschichte mit ihren sich wandelnden theologischen Voraussetzungen hineinnimmt. Welchen Standpunkt man auch wählt, ohne eine zuverlässige Textgrund-lage, die bewusste oder unbewusste spätere Änderungen nach Möglichkeit ausschließt, ist alles auf Sand gebaut. Doch die An­sprüche sind in den neunzig Jahren seit der Göttinger Standardausgabe von Rahlfs durch hebräische Funde aus Qumran mit teils eigenem Texttyp und griechische aus Oberägypten deutlich ge­wachsen. Jonathan Hong verfolgt nun in seiner von Siegfried Kreuzer betreuten Wuppertaler Dissertation das Ziel, in diesem Lichte neue Kriterien für eine Rekonstruktion des griechischen Originalwortlautes an fünf besonders gut bezeugten Psalmen beispielhaft zu erarbeiten.
Die Einleitung (11–39) zeichnet zunächst die Editionsgeschichte nach. Der Grundlage der frühmodernen Ausgaben im Codex Vaticanus stellte Paul de Lagarde einen rekonstruierten, »freieren« Text entgegen, während für seinen Schüler Rahlfs gerade in der Nähe der alten Zeugen, wie besonders des Vaticanus, zur masoretischen Gestalt das (ebenfalls eklektisch erstellte) Original hindurchschimmerte. Indes geht H. davon aus, dass ebendiese Nähe schon das Ergebnis einer von Rahlfs ausgeschlossenen, aber auch in der griechischen Zwölfprophetenrolle aus Na ḥal Ḥever jetzt bereits für das 1. Jh. v. Chr. belegten frühen hebraisierenden Revision sein könne. Also fänden sich im davon unberührten Antiochenischen Text neben sekundären möglicherweise auch ursprüngliche Ab­weichungen von MT. Dieser Ausgangspunkt wird eingebettet in die prägnant dargestellte Diskussion über den historischen Kontext des griechischen Psalters, der wohl um die Mitte des 2. Jh.s v. Chr. und vielleicht in Alexandrien (was aber unbeweisbar bleibt) sowie aufgrund einer von MT geringfügig verschiedenen Vorlage entstanden sei. Die Beobachtungen zur widersprüchlich beurteilten Übersetzungstechnik berücksichtigen auch die als Motor der Bedeutung oft sinnentscheidende Wiedergabe der Verbalformen. Im Anschluss werden die einzelnen Revisionen in der Überlieferung charakterisiert.
Nach einer Synopse der verwendeten griechischen und hebräischen Textzeugen samt lateinischen, koptischen und syrischen Brechungen sowie der griechischen und lateinischen Zitate (40–65) appliziert H. (66–329) seine Methode auf die Beispieltexte Ps 2.8. 34(33).50(49) und 104(103). Die Lesungen entstammen meist dem Apparat von Rahlfs, bei den dort noch nicht bekannten Zeugen deren Standardausgaben und bei der Peschitta der BHS. In Einzelfällen wurden Faksimiles des Vaticanus, Alexandrinus und Sinaiticus sowie die DJD-Photos der Fragmente vom Toten Meer verglichen. Jedes Kapitel ist schematisch aufgebaut mit Bemerkungen zu Einleitungsfragen des hebräischen Originals, kritischer Einzelanalyse jedes griechischen Verses und seiner Rekonstruktion im Spiegel aller Textzeugen bis zum 5. Jh. n. Chr.
Zu einem radikal neuen Text führt die Stichprobe nicht, die durch Fettdruck markierten Unterschiede zu Rahlfs sind allesamt Kleinigkeiten wie in Ps 2,9 der nach u. a. Offb 2,27 alte und mit der hebräischen Konsonantenschreibung kly gut vereinbare Pl. skeuē »Gefäße« anstelle des Sg., der dann eine frühe Anpassung an die masoretische Lesetradition wäre. Doch tis statt ti in 8,5 und hapasas statt pasas in V. 6 als ursprünglich müssten besser erhärtet werden. Schwer zu objektivieren sind auch in 34,1 vorangestelltes psalmos, in 3 vermeintlich älteres Fut. Pass. epainethēsetai statt epainesthēsetai (solche Formen sind aber schon klassisch belegt: Schwyzer I, 761) und 6 proselthete statt koiné-typischem proselthate (ebd., 753), Zusatz pantes in 10, Dat. tē kardia statt bedeutungsgleichem adverbialen Akk. in 19, umgekehrte Wortstellung am Anfang von 21 und Konj. Aor. plēmmelēsōsin statt Ind. Fut. in 23; thlipseōn »Bedrängnisse« in 5 statt paroikiōn »Fremdheiten« wäre vereinfachende Angleichung an V. 7.18.20. In 50,4 entspricht der dem Inf. diakrinai hinzugefügte Artikel (so auch zu 104,21) dem im Psalter häufigeren Gebrauch, aber ist er darum primär? Allfälliges agrou »des Feldes« in 10 (analog zu 104,20) wie in 11 statt seltenem drymou »des Waldes« wie in MT lässt sich besser als sekundär erklären als andersherum, ähnlich Sg. moichou statt Pl. in 18 und Harmonisierung mit der 1. Pers. durch mou am Ende von 23; wie bei 34,5 gilt: lectio difformis a loco parallelo praestat conformi. Beim Zusatz des Pronomens sou in 15, dem seltenen Kompositum ekdiēgē statt Simplex in 16, zweimal Pl. statt Sg. in 19, dem ergänzten Objekt tas hamartias sou »deine Sünden« am Ende von 21 und der verstärkten Negation ou mē in 22 scheint dem Rezensenten eine Entscheidung über ihr Alter unmöglich. Bei Ps 104 sind im­merhin in V. 1 megaloprepeian (megaloprepeia in der Rekonstruktion ist ein Druckfehler) statt euprepeian, in 4 pyros phloga statt pyr phlegon, in 5 ho themeliōn statt ethemeliōsen, in 17 seltenes katoikia statt oikia und in 31 der Pl. tous aiōnas statt Sg. gut möglich, die anderen Vorschläge betreffen meist Einzelheiten der Kongruenz (vor allem beim Ntr. Pl.). Verwirrend ist zudem, dass bei Ps 34,1 tēn opsin und apenanti ohne Fettdruck in der Rekonstruktion stehen, während laut Kommentar to proso-pon und enantion gemäß Rahlfs ursprünglich seien; ebenso errusato statt eso-sen in 7, parelabe »nahm an« statt parembaleikuklo- »wird sich rings um … lagern« (ebenso die Übersetzung) in 8, epelpizei statt elpizei in 9 und Artikel tēn in 16. Bei 104,27 sei laut Kommentar eis eukairon originaler Wortlaut, aber eis fehlt in der Rekonstruktion.
Man vermisst insgesamt klare textkritische Grundsätze, um dem Zirkelschluss der Abwertung früher Zeugen als hebraisie-rende Anpassungen wegen erwünschter, doch im Einzelfall nicht immer hinreichend begründeter Aufwertung des Antiochenischen Textes zu begegnen. Kumulativ hätte diese Hebraisierung freilich nach Ockham den Vorteil einer einheitlichen Erklärung vieler gemeinsamer Unterschiede in den großen Kodizes und somit auch bei Rahlfs; sie stellt damit eine ernstzunehmende Hypothese dar. Die Ausführungen zum Verhältnis von hebräischer und griechischer Fassung sowie den internen Varianten sind aber auch dann erhellend, wenn es keinen Anlass gibt, vom Standardtext abzuweic hen. Wohlbekanntes hätte gestrafft werden können und eine Endkorrektur hätte dem Manuskript gutgetan, doch manche Beobachtungen zu subtilen Akzentverschiebungen fügen sich zu gelungenen Gesamtinterpretationen, wie z. B. die Befreiung von Fremdmächten in Ps 2 oder die Eschatologisierung in 50, so dass H.s Arbeit über ihre textgeschichtliche Zielsetzung hinaus einen le­senswerten Beitrag zur Deutung des Septuaginta-Psalters liefert. Ob aus den hier nicht berücksichtigten vielen jüngeren Handschriften noch bislang unentdeckte ursprüngliche Lesungen erhoben werden können, würde nur eine äußerst aufwendige, doch nicht sehr aussichtsreiche systematische Erforschung des gesamten Materials klären.