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Ausgabe:

Mai/2020

Spalte:

387–388

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Bröning, Michael, u. Michael Wolffsohn [hrsg. v. R. Bingener]

Titel/Untertitel:

Stadt, Land, Volk. Ein Streitgespräch über die Zukunft der Demokratie.

Verlag:

Leipzig: edition chrismon 2019. 168 S. Kart. EUR 14,00. ISBN 978-3-96038-194-5.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Von Platon bis Martin Buber, von Hans Castorp bis zum Milgram-Experiment hat sich immer wieder erwiesen, wie sehr Dialog und Streitgespräch zur Erkenntnis beitragen können, bei den Beteiligten wie auch bei ihren Zuhörern oder Lesern.
Der FAZ-Redakteur Reinhard Bingener hat zwei Menschen in ein Gespräch über die Zukunft unserer Demokratie gebracht, die prägnant denken und formulieren: den Sozialdemokraten Michael Bröning und den Liberalkonservativen Michael Wolffsohn. Die beiden widmen sich gemeinsam, kontrovers und konstruktiv den großen Themen der Zeit: den Folgen der Globalisierung, der »Epochenfrage Migration«, dem nötigen Maß an Wir-Gefühl und Solidarität in den westlichen Gesellschaften, der Zukunft unseres po­litischen Systems, den Aufgaben des Staates und der Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt.
Im Gespräch erweist sich, wie eng viele Veränderungen und Probleme miteinander verknüpft sind, die uns heute bewegen: die Globalisierung, der relative politische Bedeutungsverlust des Wes­tens, die Marktgläubigkeit und Selbstgefälligkeit seiner Eliten, die Ungleichheit von Vermögen, Einkommen und Lebenschancen, die fahrlässig verursachte Spaltung zwischen Stadt und Land, die in­nenpolitische Polarisierung und Radikalisierung in vielen Ländern und die Entfremdung in den transatlantischen Beziehungen. Zu­gleich zeigt sich: Die Fehlentwicklungen sind durchaus nicht von quasi naturgesetzlicher Unabwendbarkeit, sondern lassen sich be­arbeiten und korrigieren.
Die Diskutanten kommen politisch, philosophisch und religiös von unterschiedlichen Grundpositionen her. Das erweist sich als fruchtbar, schon weil es sie zur gemeinsamen Arbeit an beiderseits verwendeten Begriffen wie etwa »Volk«, »Nation« und »Heimat« zwingt. Beide argumentieren im guten Sinne undogmatisch, sie denken ersichtlich »ohne Geländer« (Hannah Arendt) und kommen dadurch nicht selten zu Befunden, die quer zum politischen Mainstream und zum weithin herrschenden Harmoniebedürfnis stehen. So sind sie sich zum Beispiel weitgehend darüber einig, dass ein Sozialstaat ohne Grenzen nicht funktionieren kann, dass Grenzen sich selbstverständlich schützen lassen (was Türen und Tore nicht ausschließt) und dass der Verzicht auf eine Grenzziehung nach außen zur soziokulturellen Abschottung innerhalb eines Landes und zur Erosion des Wir-Gefühls führt. Auch hinsichtlich der Fragen, wie eine faire Migrationspolitik des Westens aussehen sollte und was von Zuwanderern erwartet werden darf, führt das Gespräch zu erhellenden Befunden. Sehr viel weniger Einigkeit herrscht bei anderen Themen, zum Beispiel hinsichtlich der Be­deutung und des Wertes der Vereinten Nationen. Auch dieser Dissens ist aber aufschlussreich, denn er führt vor Augen, wie sich über eine solche Institution und ihre Möglichkeiten mit plausiblen Argumenten radikal unterschiedlich denken lässt. Und langweilig wird es nie: Sind tatsächlich die Grünen mit ihrer »Mischung aus Wohlstandssattheit, Naturromantik und Idealismus […] zweifellos die deutscheste aller deutschen Parteien«?
Natürlich hat der pointierte Dialog auch etwas von einem Hu­sarenritt. Die behandelten Themen rechtfertigen schließlich je für sich dicke Bücher, mehrtägige Kongresse und ganze Forschungs-institute. Und solche Bücher, Kongresse und Institute gibt es ja auch schon (was übrigens in dem von Herrn Bingener moderierten Streitgespräch immer wieder anklingt, denn Herr Bröning und Herr Wolffsohn flechten durchaus Tipps für weitere Lektüre ein). Das Streitgespräch der beiden will das alles auch gar nicht ersetzen. Es leistet etwas Anderes, Eigenes: Zwei kluge Köpfe widmen sich unaufgeregt und produktiv Fragen, die uns alle angehen und die viele von uns beschäftigen, und sie zeigen dabei zugleich, wie uns sachlich ausgetragene Kontroversen gedanklich weiterbringen. Das Gespräch nachzuerzählen würde die Mitschrift verdoppeln. Man greife zum Original.