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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

355–356

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Jung, Pascale

Titel/Untertitel:

Anerkennung. Paul Ricœurs Beitrag zu einem ökumenischen Schlüsselbegriff.

Verlag:

Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag (Schwabenverlag) 2019. 308 S. = Kommunikative Theologie, 20. Kart. EUR 45,00. ISBN 978-3-7867-3171-9.

Rezensent:

Risto Saarinen

Paul Ricœurs spätes Buch Wege der Anerkennung (2005, deutsche Ausgabe 2006) hat in der systematischen Theologie der Gegenwart eine vielseitige Rezeption gefunden. Veronika Hoffmann (Skizzen zur Theologie der Gabe, 2013) hat Ricœurs Verständnis der Gabe auf inhaltliche Dogmatik angewandt. Beate Bengard (Rezeption und Anerkennung, 2015) untersucht Ricœurs Auffassung von der Anerkennung sowie seine ökumenischen Interessen. In meiner eigenen Studie (Recognition and Religion, 2016) werden Ricœurs begriffsgeschichtliche Ergebnisse erweitert und korrigiert.
J.s neues Buch erläutert zuerst Ricœurs Konzept der Anerkennung. Danach vergleicht J. dieses Konzept mit den Einheitsmodellen der ökumenischen Bewegung. Drittens will J. zeigen, wie Ri-cœurs Konzept der wechselseitigen Anerkennung als »Herzensprozess« für die Ökumene hilfreich sein kann. Viertens will sie darüber hinaus das Anerkennen als reflexiven Verstehensprozess zum Vorschein bringen. Die Arbeit wurde 2018 als Dissertation in der Ka­tholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen an­genommen. J.s Doktorvater Bernd Jochen Hilberath hat für das ge­druckte Buch ein Geleitwort verfasst.
Schon in ihren einleitenden Kapiteln weist J. darauf hin, dass der Begriff der Anerkennung zwar in der Ökumene extensiv gebraucht wird, aber ohne genaue Bestimmung des Inhalts eines Anerkennungsaktes. Für die unbestimmte Natur der Anerkennung sei die hegelianisch geprägte Begriffsgeschichte insofern verantwortlich, als die Anerkennung bei Hegel durch einen Kampf stattfindet, in dem die Beteiligten durch umstrittene Identitäten gekennzeichnet seien. Weil Paul Ricœur für eine friedliche Anerkennung plädiert, bei der Dankbarkeit und Liebe maßgebende Konstituenten sind, sei Ricœurs agapistisches Konzept nach J. auch ökumenisch fruchtbarer als der hegelianische Kampf.
J. zeigt, wie die Aspekte der Gabe, der Dankbarkeit, des Festes und der Erfahrung für Ricœurs Anerkennungsdenken unverzichtbar sind. Zwar sind auch Erkennen und Übersetzen wichtig, aber weil die Anerkennung des Anderen die Einzigartigkeit jedes interpersonalen Geschehens unterstreicht, bleiben die rationalen Verallgemeinerungen des Anerkennungsprozesses nur einseitige Verkürzungen. Deswegen plädiert J. für einen solchen Herzensprozess, durch den die ökumenischen Gaben im Geist der Liebe als einzigartige symbolische Taten verwirklicht werden können. So geht es um eine »emotional-emphatische Anerkennung, die auf Respekt und Dankbarkeit beruht und die nicht weniger ernst genommen werden darf als die Anerkennung auf der Grundlage des Rechts« (228).
J. analysiert unterschiedliche Gesten und Gaben, die die Kirchen in der konkreten Begegnung voneinander als Zeichen des Respektes empfangen haben. Diese mit zahlreichen Abbildungen illus-trierten Handlungsanalysen sind für die ökumenische Theologie besonders wertvoll, weil die konkreten symbolischen Gesten nur selten zu Gegenständen der akademisch-theologischen Analyse werden. Wenn zum Beispiel Papst Franziskus dem evangelischen Bischof einen Kelch als Gabe überreicht, konstatiert J., dass die Gabe des Papstes ein Signal dafür sei, dass auch die katholische Kirche das gemeinsame Abendmahl will. Zugleich habe der Papst mit diesem Akt »nicht die Theologie, sondern das Herz in den Mittelpunkt der Begegnung gestellt« (242–243).
Trotz wertvoller Handlungsanalysen bin ich nicht davon überzeugt, dass die Ökumene das bestehende Recht und die vernünftige Diskussion durch Gesten und Herzensprozesse ersetzen könnte. Die historischen Wurzeln des Anerkennungsbegriffs sind im Be­reich des Rechtes sowie in der philosophischen Debatte zu finden. Auch die theologischen Anwendungen des Anerkennungsdenkens müssen diese tatsächliche Begriffsgeschichte beachten. Als Herzensprozess bleibt die Anerkennung auch ihrerseits eine individualistische und sentimentale Verkürzung.
J. hat aber Recht darin, dass gerade Ricœurs Konzept eine solche subjektive und m. E. verkürzte Auffassung vom religiösen Verstehen leicht produziert. Wie besonders Beate Bengard (s. o.) gezeigt hat, verhält sich Ricœur skeptisch zu intersubjektiven Lehrgesprächen und konstatiert religiöse Erkenntnis beinahe als nicht-kommunikative Beleuchtung oder Konversion. Diese Seite betrachte ich aber eher als die ökumenische Schwäche von Ricœurs Anerkennungstheorie. Zugleich muss hinzugefügt werden, dass J. das ökumenische Anliegen Paul Ricœurs m. E. ganz richtig interpretiert. Für Ricœur ist Ökumene tatsächlich ein Herzensprozess, der nicht an sich ein Gegenstand des gemeinsamen Verständnisses sein kann.
Im letzten Kapitel, »Anerkennen als reflexiver Verstehensprozess«, diskutiert J. schließlich die kognitive Seite des ökumenischen Verstehens. Diese Seite kann J. nicht mehr mit Ricœur begründen, aber sie argumentiert, dass das Brennen des Herzes auch auf diesem kognitiv-rationalen Weg stets mitbeachtet werden muss. Die Notwendigkeit der persönlichen Umkehr und der Selbsthinterfragung sind Beispiele dafür, wie das Herz auch im rationalen Dialog seine Rolle als liebender Übersetzer erfüllen kann (274).
J. hätte die englische und französische Sekundärliteratur noch ausführlicher berücksichtigen können. Eine Reihe von Druckfehlern, z. B. bei ausländischen Namen, ist festzustellen. Insgesamt bietet aber das sympathische Buch eine willkommene Ergänzung zur ökumenischen Diskussion um Paul Ricœurs Denken.