Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2020

Spalte:

353–355

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Dragutinovi, Predrag

Titel/Untertitel:

Interpretation of Scripture in the Orthodox Church. Engaging Contextual Hermeneutics in Orthodox Biblical Studies.

Verlag:

Belgrad: Christian Cultural Center »Dr. Radovan Bigovic«, Biblical Institute of Faculty of Orthodox Theology, University of Belgrade 2018. 114 S. Kart. ISBN 978-86-85273-44-5.

Rezensent:

Cosmin Pricop

Im Rahmen des Christian Cultural Center »Radovan Bigovic« und des Biblical Institute of Faculty of Orthodox Theology erschien 2018 in Belgrad das vorliegende Buch, dessen Autor, Predrag Draguti-novi, Professor für Neues Testament an der Orthodox-Theolo-gischen Fakultät der Belgrader Universität (Serbien) ist.
In der kurzen Einführung liest man als erste Information, dass D. durch von ihm selbst gehaltene biblisch-hermeneutische Vorträge zu diesem Buch angespornt wurde. Darüber hinaus erfährt man, welches Ziel er mit der Veröffentlichung dieses Buches anstrebt: Er wolle damit keine ausführliche Erörterung der allgemeinen orthodoxen Bibelhermeneutik unternehmen, sondern lediglich einerseits ein Zeichen setzen hinsichtlich der Herausforderungen eines unreflektierten Gebrauchs der Kirchenväter (genauer: der patristischen Exegese der Bibel) in der orthodoxen Bibelwissenschaft, und andererseits ein Zeichen setzen, um die kreative und dialogische Begegnung zwischen der orthodoxen und der westlichen Bibelwissenschaft hervorzuheben. Anders gesagt: Das Buch, so D., stellt eine Einladung an die orthodoxen Bibelwissenschaftler dar, die eigene Rolle in den jeweiligen Kontexten zu durchdenken und Verantwortung für die zukünftige exegetische Tätigkeit in den jeweiligen Kirchen und Fakultäten zu übernehmen (2).
Das Buch wurde sogar mit zwei Vorworten versehen, von Professor Korinna Zamfir aus Klausenburg (Cluj-Napoca, Rumänien) und von Prof. John Fotopoulos vom Saint Mary’s College (Notre Dame, USA). Es ist in sechs Kapitel strukturiert. Eine bibliographische Liste und eine kurze Biographie D.s beschließen den Band.
Das erste Kapitel, »The Contextual Interpretation of Scripture: Introductory Remarks«, fungiert, soweit erkennbar, trotz seiner Kürze als theoretischer Ausgangspunkt für die nachfolgenden hermeneutischen Erwägungen. D. beachtet die kontextuelle Hermeneutik und folgt darin dem Muster von Rüssen (16).
Das zweite Kapitel, »The Eastern Orthodox Context. A Brief Overview«, thematisiert die zwei wichtigsten Aspekte einer möglichen orthodoxen kontextuellen Bibelhermeneutik: »the patristic heritage and the focus on worship« (23). In Bezug auf die patris-tische Bibelexegese, die er im Rahmen eines Unterkapitels (»The Patristics as Mediator of the Biblical Message: Scripture in Theol-ogy«) untersucht, äußert D., sie bewirke indirekt, dass der direkte Zugang zum Bibeltext verhindert wird (»instead of the direct work on the text, Orthodox biblical scholarship has often reduced itself to the description of interpretation and effects of biblical texts by the patristic authors«, 28). Daher müsse die orthodoxe Bibelwis-senschaft das breite Spektrum der patristischen Bibelauslegungen neu bewerten und erwägen. Der Gottesdienst (»worship«) als zweites Charakteristikum einer orthodoxen Bibelhermeneutik wird im zweiten Unterkapitel (»Worship as Mediator of the Biblical Message: Scripture in Faith«) untersucht, indem D. über »Formative Uses of the Scriptures«, »Arriving Directly at the Matter of the Text (Identification)« und »Closeness and Distance to the Biblical Text« handelt. Am Ende des zweiten Kapitels schlussfolgert D., dass sowohl die patristische Exegese als auch die im Rahmen des Gottesdienstes durchgeführte liturgische Vermittlung des biblischen Textes die direkte Begegnung der Orthodoxen mit dem Bibeltext blockiere. Deswegen sei auf die historisch-kritische Methodik der Exegese zu rekurrieren. Damit leitet er über zum dritten Kapitel: »The Non-Reception of Historical-Critical Methodology in Orthodox Biblical Scholarship«. Wie der Titel ersichtlich macht, geht D. von der Überzeugung aus, dass innerhalb der biblischen Studien oder Exegese orthodoxer Provenienz bisher keine tatsächliche Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methodik geführt wurde. Diese Zurückhaltung lässt sich nach D. anhand zweier im orthodoxen Umfeld geäußerter Vorbehalte erklären: a) die historisch-kritische Methodik gehöre überwiegend in das akademische Milieu und bleibe dem eigentliche Kirchenleben fern; und b) die historisch-kritische Methodik sei gefährlich für die Lehre der Kirche (46–47). Darüber hinaus stelle die historisch-kritische Methodik für die heutige orthodoxe Bibelexegese eine Herausforderung dar hinsichtlich der Notwendigkeit, eine neue Terminologie bzw. Methodologie zu erarbeiten und die dogmatische Herangehensweise zu nuancieren.
Im vierten Kapitel, »The Perspectives of Biblical Hermeneutics in Eastern Orthodox Theology: Two Inputs for the Future«, präsentiert und diskutiert D. zwei Initiativen, die für die zukünftige Profilierung orthodoxer Bibelhermeneutik von großer Bedeutung sind: a) das Eastern European Liaison Committee, gegründet 1995 in Prag und auf die Unterstützung der osteuropäischen Bibelwissenschaftler fokussiert, und b) die Begegnung und Auseinandersetzung des berühmten Schweizer Neutestamentlers Ulrich Luz mit der orthodoxen Bibelhermeneutik (57–74).
Das fünfte und letzte Kapitel, »Proposals for the Future«, bietet Vorschläge für die zukünftige Arbeit orthodoxer Bibelwissenschaft. Die zwei wichtigsten seien genannt:
– Die notwendige und selbstverständlich an das orthodoxe Milieu angepasste Rezeption der historisch-kritischen Methodik: »However, for the Orthodox biblical scholarship is more urgent to adopt and apply historical criticism.« (80) D. ist der Auffassung, es sei nicht nötig, seitens der orthodoxen Theologie eine typisch or­thodoxe exegetische Methodik zu entwickeln, sondern es sei nur die aktuelle Methodik durch die orthodoxe Bibelhermeneutik zu rezipieren: »I see the future of the Orthodox biblical scholarship in a creative reception of the present-day methodology through an Orthodox hermeneutics.« (79)
– Die Entwicklung eines neuen biblisch-patristischen Paradigmas, wonach die orthodoxen Bibelwissenschaftler den Mut, die Freiheit und die Verantwortung haben sollen, in der heutigen Zeit so Theologie zu treiben, wie die Kirchenväter es in ihrer Zeit taten (83).
D.s Buch schafft Voraussetzungen für eine notwendige Untersuchung in der und für die Landschaft der orthodoxen Bibelwissenschaft. Initiativen wie diese signalisieren eine wünschenswerte Dynamik in der neueren Generation orthodoxer Bibelwissenschaftler, die sich einerseits der Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methodik bewusst sind und andererseits die kritische Analyse des patristischen und liturgischen Erbes nicht als Mangel an Pietät ansehen. Zugleich wird auch die überwiegende Neigung orthodoxer Bibelwissenschaftler zu hermeneutischen Diskursen statt zur exegetischen, die angesprochenen hermeneutischen Prinzipien anwendenden Konkretheit bestätigt. Trotz der etwas verstreut zu findenden und sich zum Teil wiederholenden Gedanken und Erwägungen (was vielleicht der Tatsache geschuldet ist, dass dem Buch mehrere Aufsätze zum Thema Hermeneutik zugrunde liegen) gelingt es D., eine kohärente Perspektive zu schaffen. Es bleibt allerdings zu fragen, ob die Anziehungskraft der historisch-kritischen Methodik vielleicht für manche Vertreter der orthodoxen Bibelwissenschaft zu unwiderstehlich erscheint, so dass sie möglicherweise vorschnell bereit sind, diesbezügliche, inzwischen allgemein anerkannte Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, während ähnliche Erschwernisse in der patristischen und liturgischen Exegese mit höchster Akribie sanktioniert werden.
Schließlich ließe sich fragen, ob die patristische Exegese und der Gottesdienst für eine orthodoxe Bibelhermeneutik nur deshalb von Bedeutung sind, weil beide ausschließlich Texte vermitteln. Inwiefern der biblische Text als letzte Instanz im Rahmen einer orthodoxen Bibelhermeneutik gilt, sollte also meines Erachtens noch weiter diskutiert werden.