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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

346–348

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Eurich, Johannes, Kaufmann, Dieter, Keller, Urs, u. Gerhard Wegner [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ambivalenzen der Nächstenliebe. Soziale Folgen der Reformation. Hrsg. im Auftrag d. Sozialwissenschaftlichen Instituts u. d. Diakoniewissenschaftlichen Instituts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 240 S. m. Abb. = Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg, 60. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-05692-7.

Rezensent:

Christoph Sigrist

Im Nachklang des Gedenkens an die reformatorischen Aufbrüche vor 500 Jahren reflektieren die Aufsätze dieses Bandes eine zentrale Frage der Diakonie. Diakonie, verstanden als helfendes Handeln im Kontext von Kirche und Gesellschaft, begründet und motiviert durch die jüdisch-christlich geprägte Tradition, nimmt den Zu­sam­menhang zwischen theologischer Grundentscheidung (Rechtfertigungslehre) und sozialer Tätigkeit von Christen oder Kirchen in den Fokus. »Führt der Zuspruch der Liebe Gottes ›automatisch‹ zur Nächstenliebe?« So spitzen die Herausgeber die Grundfrage zu, die an einer Tagung im Februar 2018 in Heidelberg, organisiert von den relevanten Trägern der Diakonie in Deutschland, un­ter dem Titel »Ambivalenzen der Nächstenliebe« breit diskutiert wurde.
Um es vorwegzunehmen: Der Band mit den vierzehn Beiträgen hat es in sich und regt die Lesenden theologisch wie diakonisch ungemein an, selber an den historischen Zusammenhängen, der Frage nach den Ressourcen diakonischen Handelns heute und der Praxisrelevanz reformatorischer Botschaft weiterzudenken. Es liegt weniger ein Sammelband einer Tagung vor, sondern ein inspirierendes Buch der Diakonie, das die Ambivalenzen der Nächstenliebe, die schon in reformatorischer Zeit mit der Verschärfung im Umgang mit Armutsbetroffenen aufscheint, in aktuelle Debatten der Diakonie zieht. Wie sollen diakonische Werke, Kirchen und Christen angesichts ihrer Spannung zwischen Eigennutz und Nächstenliebe in einer pluralen Gesellschaft helfen? Das inspirierende Potential wird durch die unterschiedlichen Perspektiven der Autorinnen und Autoren angereichert und verwandelt die Lektüre zum herausfordernden und spannenden Dialog mit ihnen. Ich möchte einige wenige Perlen präsentieren.
Mit Blick auf die historischen Zusammenhänge diskutiert u. a. Bernhard Schneider die spätmittelalterliche reformatorische Verankerung der Armenfürsorge, indem er die bis heute spürbaren konfessionalistischen Übersteuerungen freilegt: Es geht nicht darum, aus katholischer Perspektive die Zerstörung einer funktionierenden Armenfürsorge durch die Reformatoren zu behaupten oder mit evangelischem Pathos die Überwindung der kaputten Armenhilfe durch den Beginn eines modernen Armenwesens zu proklamieren. Die Reformation nimmt die Entwicklungen von Kommunalisierung, Bürokratisierung und Disziplinierung der Armen im ausgehenden 15. Jh. auf und führt sie im 16. Jh. mit den gesellschaftlichen Transformationen zusammen weiter. Die Armenfürsorge ist nicht exklusiv reformatorisches Erbe, gehört jedoch zum konstitutiven Element der reformatorischen Aufbrüche. Philipp S. Gorski beleuchtet den Aspekt der Disziplinierung und Effizienz und legt die Langzeitwirkung der unterschiedlichen, konfessionellen Zugänge durch die Bildung des Wohlfahrtstaates hindurch in die Neuzeit offen. Dabei bringt Gorski die grundlegende Ambivalenz zwischen dem Prinzip der Barmherzigkeit und der Pflicht zur Arbeit und Bildung auf den Punkt: Katholiken lösen diese Ambivalenz zugunsten der Barmherzigkeit, Calvinisten zu Gunsten der Arbeit, und Lutheraner suchen das Gleichgewicht in dieser Ambivalenz. Eine erhellende Einsicht für viele aktuelle kirchliche und diakonische Debatten!
Treten die Ressourcen diakonischen Handelns heute in den Vordergrund, beleuchtet Frank Nullmeier die starke Normativität der Nächstenliebe mit einem Begriff, den er von Jürgen Habermas und Hans Joas entlehnt: Efferveszenz meint einen Zustand des Aufbrausens oder der kollektiven Erregung, von dem Körper, Geist und Seele intensiv und affektiv erfasst werden. In solchen Augenblicken werden außeralltägliche und außergewöhnliche Ereignisse und Räume offengelegt. Rituale, Festtage und Feiern stellen solche Außeralltäglichkeiten her, in denen diakonischer Zusammenhalt normativen Charakter bekommt. Nächstenliebe, stabilisiert in solchen inszenierten Veranstaltungsorten und -zeiten, zieht den Alltag ins Außeralltägliche hinein und ergießt sich in einer Kultur der Wertschätzung.
Die Anziehungskraft solcher diakonischer Orte sieht Gert Pickel nach wie vor in Kirchen. Empirische Daten lassen den Schluss zu, dass Angehörige christlicher Kirchen sich sozial engagierter zeigen als andere. Pickel interpretiert diesen Unterschied einerseits als Konsequenz des christlichen Menschenbildes. Anderseits eröffnen Kirchen mit ihren Räumen und Institutionen Gelegenheiten zu sozialer Vergemeinschaftung wie auch pro-sozialem Handeln. Kirchen wie auch diakonische Organisationen, so die weiterführenden Überlegungen von Anika Christina Albert und Johannes Eurich zu netzwerkbasierter Solidarität im Wohlfahrtspluralismus, bieten sich als strategische Netzwerkpartnerinnen und -partner für das Gemeinwesen dar. Neben dem Netzwerk von Freiwilligen besitzen Kirchgemeinden und Werke Räume in Stadtteilen, die für netzwerkbezogene Arbeit solidarischen Handelns wichtig sind. Mehr noch: Durch dieses Sozialkapital, religiös be­gründet und motiviert, gelingt es Kirchen und Wer-ken, Solidarität zu stiften und Themenanwältinnen für vulnerable Menschen und Gruppen zu werden. Dies gelingt, wenn an ihren kirchlichen Orten und Wer-ken Erfahrungsräume erschlossen werden, wo einzelne individuelle und kollektive Netzwerke zu einem großen Netzwerk basaler Formen sozialer Be­ziehungen geknüpft werden können.
Solche Räume sorgender Gemeinschaft sind in der diakoniewissenschaftlichen Reflexion und diakonischen Praxis hochaktuell und stellen eine der großen Herausforderungen der 2020er Jahre für die Praxisrelevanz reformatorischer Botschaft dar. Neben anderen Aspekten nimmt Ulrich Lilie diese Perle im Ge­spräch mit Andreas Schröer auf, Präsident der Diakonie Deutschland, indem er den Finger auf die »Sozialräume vor der Kirchentür« legt. Die Orientierung im Sozialraum bekommt für das kirchliche und dia-konische Arbeiten große Bedeutung. Damit nimmt Lilie das Programm der Sozialraumorientierung von Theodor Strohm von 1998 mit seinem Weckruf »Wichern drei« auf und misst den Caring communities – Netzwerken, die über kirchliche und diakonische Akteure hinausgehen und Digitalisierungsprozesse als Transformationen von Teilhabe und Chance nutzen – höchste Priorität zu.
Dass der Königsweg des unauflöslichen Miteinanders von Eigeninteresse und Nächstenliebe zur Begründung sozialer Pra-xis oder Schaffung von Solidarität führt, sind die Herausgeber des Bandes überzeugt. Dass damit gegenüber Luther und seiner Rechtfertigungslehre »eine deutliche Aufwertung des fleischlich-menschlichen äußeren Menschseins« einhergeht, freut die reformiert geprägte Seele aus der Schweiz besonders. Sind gar die Am-bivalenzen der Nächstenliebe Ausfluss der Ambivalenz eines christlichen Menschenbildes, das den Fokus zu lange auf die Sündhaftigkeit des Menschseins legte? Gilt es heutzutage nicht vielmehr, über die deutliche Aufwertung des fleischlich-menschlichen äußeren Menschen hinaus das gute, schöpferisch, kreative Potential helfenden Handelns an und für sich freizulegen, nicht nur des äußeren Menschen, sondern des ganzen Menschen mit seinem Glauben und seinem Handeln, seinen Überzeugungen und seinen Initiativen?