Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2020

Spalte:

344–346

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Neulinger, Michaela

Titel/Untertitel:

Zwischen Dolorismus und Perfektionismus. Konturen einer politischen Theologie der Verwundbarkeit.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. 380 S. = Gesellschaft – Ethik – Religion, 15. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-506-79230-3.

Das Ziel der Autorin Michaela Neulinger besteht darin, eine »Politische Theorie der Verwundbarkeit« zu entwickeln, »um den Beitrag von Religionsgemeinschaften, Glaubenden und Theologie zum Gemeinwohl zu bestimmen« (25). »Wie können in einem religiös pluralen Europa säkulare und religiöse Sphären in Beziehung gesetzt werden, so dass erstens das freie Ausüben religiöser Anschauungen garantiert ist und zweitens die Grundlagen für ein friedliches, demokratisches Zusammenleben sichergestellt sind.« (76) Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Dissertation einer jungen Theologin, die ausgezeichnet und mit sehr viel Beifall aufgenommen wurde. Ihre Grundtendenz lässt sich am besten mit einem Zitat von Simone Weil wiedergeben:
»Die Religionen, die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen. Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.«
Auf eine kurze Einleitung (1.) folgt eine epistemologische Grundlegung (2.), die sich auf rein theologische Aspekte beschränkt und in deren Zentrum das Zweite Vatikanum steht. Ihre Zusammenfassung lautet: »Gott ist, wo das Leben ist, wo der Raum zur Entfaltung offen ist, der Mensch in all seiner Verwundbarkeit und Verwundung sein darf und zugleich aufgehoben ist hin auf die verheißene Vollendung« (58) und wo Zweifel sein darf.
Das Säkulare (3.) führt sehr allgemein in die Problematik ein und versucht, die wichtigsten Grundbegriffe bereitzustellen.
Danach (4.) stellt N. mit Talal Asad einen islamischen Religionsphilosophen vor, der im deutschsprachigen Raum leider noch nicht hinreichend bekannt ist. Sein Grundgedanke widerspricht dem Anspruch der säkularen freiheitlichen Rechtsstaaten, die Rahmenbedingungen für Religionsfreiheit und friedliche Koexistenz zu sichern. Tatsächlich würden sie »Religionen ausschließen, die der europäisch-aufgeklärten, viel zu eng gefassten und mit normativen Ansprüchen beladenen Definition von Religion zu widersprechen scheinen« (76). Nicht zuletzt ist »das absolute Bekenntnis zum Staat« (130) nicht mit ihnen allen und insbesondere nicht mit dem Islam vereinbar. Damit haben wir den Ausgangspunkt des »Dolorismus« erreicht. Dieses Kunstwort führte der französische Schriftsteller Paul Souday ein; seine Bedeutung lässt sich am besten mit »Kult des Leidens« wiedergeben.
Postmodern gibt es natürlich keine endgültige Antwort (mehr) auf die Frage: Was ist Religion? Aber um uns verständigen zu können, benötigen wir einen gemeinsamen Arbeitsbegriff. Der europäische Vorschlag dafür ist nach Meinung Talal Asads zu eng, weil er viel zu stark dem Christentum verhaftet bleibt.
Des Weiteren spielt die Gewalt bei Talal Asad eine sehr große Rolle, die im abendländischen Religionsbegriff kaum gesehen wird, aber unbedingt zu berücksichtigen ist. Konkret zeigt sich das beispielsweise einerseits in der Geschichte von Kolonialismus und Mission, andererseits in der Inquisition und dem (zeitweiligen) Zwang zur Beichte. Aber es geht Talal Asad nicht nur um Fehler in der Vergangenheit, sondern vielmehr darum, dass ein Religionsbegriff, der ohne Gewalt auszukommen glaubt – worin sich Talal Asad zufolge (nur) der Zeitgeist spiegelt –, widersprüchlich ist.
Wichtig ist noch, wie massiv Talal Asad auf die Bedeutung des Schmerzes und der Verwundbarkeit des Menschen hinweist, die ihm zufolge ebenfalls unterbelichtet ist. Wieder versucht er eine Balance zu finden zwischen den Erfahrungen der Moslems im Abendland auf der einen und prinzipiellen Überlegungen zur Religion auf der anderen Seite.
In den Teilen 5 bis 9 stellt N. Talal Asads Überlegungen zeitgenössischen Ansätzen der (politischen) Theologie gegenüber und findet dabei viele Berührungspunkte. Teil 10 wendet sich systematischen Reflexionen zur Verwundbarkeit – von der Krippe bis zum Kreuz – als theo-politischer Kategorie zu, und 11. enthält die zugehörigen »praktischen Entfaltungen«. Insgesamt handelt es sich um eine sehr gut lesbare Darstellung, mit überraschend vielen Gedanken, die uns nicht unbedingt selbstverständlich sind.
Der entscheidende Grundgedanke, der das gesamte Buch durchzieht, besteht in der Verwundbarkeit des Menschen. Religion ließe sich von daher als das Annehmen-Können der eigenen Verwundbarkeit verstehen, weil sich der Glaubende dennoch in der Liebe und Barmherzigkeit Gottes geborgen weiß. Wir neigen jedoch eher dazu, die eigene Verwundbarkeit zu verdrängen und diejenige des Gegenübers auszunutzen. Hier ergibt sich neben den politischen Konsequenzen – auch für N. – eine Möglichkeit, unmittelbar an die Philosophie von Emmanuel Levinas anzuknüpfen.
Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für unser Selbst- oder Subjektverständnis sind beträchtlich: Traditionell denken wir Subjekte von ihrem Körper her. Da diese absolut getrennt voneinander sind, sind gesunde erwachsene Subjekte autonom; sie stehen auch im übertragenen Sinne auf eigenen Beinen und benötigen die anderen Subjekte nur zum Tausch; wohl dem, der etwas zu bieten hat. So wird die gegenwärtige Bedeutung der Ökonomie verständlich; sie ist die Wissenschaft von dem Einzigen, was uns verbindet. Das Hinzufügen einer Psyche oder Seele zum Körper ändert daran gar nichts, denn damit wird die Individualität der Körper lediglich noch potenziert. Natürlich »ist der andere wie ich«; aber das führt nicht unbedingt zur Nächstenliebe, sondern möglicherweise dazu, dass wir dann eben beide sehen müssen, wo wir bleiben, und vielleicht nicht einmal im gleichen Boot sitzen, sondern gegeneinander rudern.
Diesem autarken Menschenbild stehen unsere Verletzlichkeit und Endlichkeit gegenüber. Ich bin ebenso auf die Rücksicht des Anderen angewiesen und von ihr abhängig wie er der meinen be­darf. »Herodesstrategie« bedeutet, die eigene Verwundbarkeit verbergen zu wollen, indem wir anderen Wunden zufügen. »Wer hingegen die Macht aus Verwundbarkeit und damit Hingabe wagt, der kann Leben gewinnen. Wie Gott in der Krippe Verwundbarkeit wa­ge, so seien auch Menschen dazu aufgerufen, diesen Schritt zu gehen und dadurch gestärkt zu werden« (225). Die gesamte Kenosis von der Inkarnation bis zum Kreuz kann als umfassende Bewegung verstanden werden, deren Konsequenzen für eine enge Verknüpfung von Theologie und Politik diskutiert werden. Dabei wird zum einen deutlich, »daß auch Religionen« – embodied practices für Talal Asid – »den Versuchungen von Perfektionismus, Macht und Homogenität erliegen und damit ins Totalitäre abgleiten können« (319), womit wir das zweite Stichwort des Titels erreicht haben.
Zum anderen gilt es erstens, das Verhältnis von Macht, Verwundbarkeit und Liebe in der Gottesrede näher zu differenzieren. Dies führt zweitens zu einer näheren Reflexion auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Unsere Annahme durch Gott erfolgt drittens auf intensivste Art und Weise in der sich in Jesus Christus ereignenden kenotischen Liebe. Diese zielt nicht auf Perfektion, die Versuchung der Moderne, die in totale Kontrolle und Unterwerfung mündet, sondern auf Annahme, die den Einzelnen zur je eigenen Vollendung führt.