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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

339–341

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hack, Tobias

Titel/Untertitel:

Ermöglichte Vergebung. Zur bibeltheologischen Fundierung eines zentralen Begriffs christlicher Ethik. Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 408 S. = Freiburger theologische Studien, 185. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-451-38084-6.

Rezensent:

Wolfgang Vögele

Diese Freiburger Habilitationsschrift von 2017 entstand unter der Ägide des Ethikers Eberhard Schockenhoff. Tobias Hack hat sich vorgenommen, sich aus bibeltheologischer Perspektive mit dem Thema Vergebung zu beschäftigen, wobei von Anfang an zu fragen wäre, was unter »Bibeltheologie« zu verstehen ist. Als zweite wichtige Frage stellt sich sofort die Frage danach, ob die »bibeltheolo-gische« Durchdringung eines Themas als sozialethisch erschöpfend betrachtet werden kann.
H. konstatiert zunächst, dass die theologische Reflexion zur Vergebung durch eine Beschränkung auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ausgezeichnet war. Er will das Thema nun in interpersoneller Perspektive betrachten. Gerade aber bei seiner bibeltheologischen Verfahrensweise stellt sich heraus, dass biblisch Vergebung gerade nicht anders als unter Einbeziehung der Relation zwischen Gott und Mensch betrachtet werden kann. Und das wird sich als eine der Grundschwierigkeiten dieser Arbeit erweisen.
H. unterscheidet zunächst starke und schwache Vergebung. Letztere versteht er z. B. als ein bloßes Achselzucken aus Gleichgültigkeit (20). Danach definiert er Vergebung als eine moralische Reaktion auf ein Fehlverhalten im interpersonalen Bereich. Es handelt sich um einen kommunikativen Prozess, der zu unterscheiden ist von Entschuldigung, Versöhnung und Gnade (27 ff.). Verzeihung und Vergebung gebraucht H. deckungsgleich (31). H. möchte einzelne »Wesensmomente zwischenmenschlicher Vergebung« identifizieren und »lose Definitionselemente« von Vergebung aufzählen, weil eine konsistente Definition nicht möglich sei. In einer zweiten formalen Definition bezeichnet er Vergebung als die »Reaktion eines Geschädigten auf eine moralische Verletzung« (41). Für seine Arbeit verfolgt H. das Ziel, nicht einen »fest umrissenen Vergebungsbegriff«, sondern dessen notwendiges bibeltheologisches Fundament freizulegen. Es ist an dieser Stelle nochmals zu fragen, ob eine ethische Reflexion sich nicht mindestens zur Auf gabe stellen müsste, wenn nicht einen fest umrissenen Begriff, so doch mindestens Elemente eines theologischen Vergebungsbegriffs aufzulisten, die für die gegenwärtige philosophische, psychologische oder soziologische Diskussion über Vergebung anschlussfähig wären. Damit soll nicht die Notwendigkeit einer biblischen Fundierung bestritten werden, aber diese erscheint eher eine notwendige Voraussetzung als ein Untersuchungsmedium zu sein, innerhalb dessen Rahmen hinreichend über einen aktuellen Vergebungsbegriff zu schreiben wäre.
H.s Untersuchung ist so gegliedert, dass er in seinem Hauptteil (48 ff.) alt-, neu- und zwischentestamentliche Texte auf den Vergebungsbegriff hin untersucht. Davor geschaltet ist ein Kapitel zu definitorischen Fragen (11 ff.), dahinter steht ein Kapitel, in dem H. versucht, Konsequenzen aus seinen biblischen Erörterungen zu ziehen (357 ff.).
Die biblischen Schriften bringt H. so auf den Begriff, dass er Vergebung im Alten Testament als Narrativ, in den apokryphen Texten als Imperativ und in den neutestamentlichen Schriften als Zuordnung von Imperativ und Indikativ versteht. Er betont, dass es einer »grundlegenden Analyse des gesamten biblischen Ethos« (48) bedürfe. Was ist aber ist das biblische Ethos, wenn H. quasi im Voraus angekündigt hat, der gesamten Bibel liege kein einheitlicher Vergebungsbegriff zugrunde? Aus der Sicht evangelischer Ethik erscheint der Rekurs auf die biblischen Schriften als sinnvoll und notwendig, und es lässt sich eine gewisse Nähe zu dem, was in evangelischer Dogmatik biblische Theologie heißt (M. Welker u. a.), konstatieren. Auf der anderen Seite spürt man eine gewisse Distanz zur innerkatholischen Richtung autonomer Moral.
Für das Alte Testament untersucht H. vor allen anderen die Ge­schichten von Kain und Abel, Jakob und Esau, die Josefsnovelle und die Geschichten um David, Bathseba und den Propheten Nathan.
H. findet im Alten Testament kaum Stellen, die auf einen nur zwischenmenschlichen Begriff von Vergebung weisen. Stattdessen kommt er in seiner Analyse zu dem Ergebnis, es bestehe bei den alttestamentlichen Vergebungsstellen eine »klare Konzentration auf Gott« (119). Aus diesem Befund wären zwei Schlüsse zu ziehen. Entweder behauptet man, der Vergebungsbegriff könne nur unter Einbeziehung einer theologischen Dimension entwickelt werden. Oder man sagt: Für zwischenmenschliche Vergebung interessiert sich das »biblische Ethos« nicht, die Menschen sind darum frei, eigene zwischenmenschliche Vergebungskonzeptionen zu entwi-ckeln. H. geht – für das Alte, aber auch im übernächsten Kapitel für das Neue Testament – eindeutig den ersten Weg: »Der Gottesglaube bietet […] den grundlegenden Rahmen, innerhalb dessen Vermittlung und Klärung von Konflikten gelingen kann.« (129)
Innerhalb dieser Grundperspektive arbeitet H. eine Reihe von guten Beobachtungen heraus, etwa die Verschränkung von Opfer- und Täterperspektiven bei der Vergebung (152), die Nicht-Identität von Vergeben und Vergessen, Reue und Umkehr als Voraussetzungen von Versöhnung, den Zusammenhang von Versöhnungsbereitschaft und Selbstbegrenzung (157).
Im Teil über das Neue Testament (193–272) beschäftigt sich H. ausführlich mit der Vergebungsbitte im Vaterunser (206 ff.). Auch für das Neue Testament kommt H. zu keinem anderen Ergebnis als für das Alte. Es zeigt sich die zentrale Bedeutung des Gottesbezugs als vorauslaufendes Geschehen bei jedem zwischenmenschlichen Vergebungsakt, nämlich »die Erfahrung, selbst Vergebung empfangen zu haben, wofür die von Gott dem Menschen gewährte Vergebung als paradigmatisch gelten darf.« (276)
Teil 3 der Arbeit stellt nun einerseits eine Zusammenfassung der alt- und neutestamentlichen Thesen dar, auf der anderen Seite führt H. doch noch eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Philosophie und Theologie. Abschließend wird Vergebung konzipiert aus der Perspektive einer »triangulären Anordnung, die sich aus dem intersubjektiven Beziehungsgeflecht zwischen Gott, Täter und Opfer ergibt, wie es in den biblischen Schriften zugrunde ge­legt ist« (382).
In der Arbeit sind eine Reihe von klugen Beobachtungen und Reflexionen enthalten, so über Täter- und Opferperspektive, über die Unterscheidung von Täter und Tat. Mit der Konstatierung, dass ein Begriff zwischenmenschlicher Vergebung nur aus einer theologischen Perspektive heraus zu bestimmen ist, ist jedoch meines Erachtens die ethische Reflexionsarbeit erst zur Hälfte erledigt. Es wäre nun zu fragen, wie sich ein solcher biblisch fundierter zwischenmenschlicher Vergebungsbegriff verhält zu Instituten sozialer Konfliktbearbeitung, wie sie im Recht, in der Psychologie und in der Friedensforschung in den letzten Jahren entwickelt wurden. Dabei ist zu denken an die Mediation, an die zivile Konfliktbearbeitung, an die diversen Wahrheitskommissionen zur Aufarbeitung gesellschaftlichen Unrechts. Es wäre zu fragen, ob Psycho-logie und Recht Vergebungsformen entwickelt haben, an die der von H. ermittelte biblische Vergebungsbegriff anschließt, die er ergänzt oder denen er möglicherweise widerspricht. Oder eine an­dere Möglichkeit: Es wäre die Frage nach der Ermöglichung von Vergebung am Beispiel der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche zu klären. Erst solche Ergänzungen, die alle abzielen auf die Konfrontation des biblischen Befundes mit der gegenwärtigen Diskussionslage, würden die sozialethische Anlage der Studie vervollständigen.