Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2020

Spalte:

307–309

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Scornaienchi, Lorenzo

Titel/Untertitel:

Der umstrittene Jesus und seine Apologie – Die Streitgespräche im Markusevangelium.

Verlag:

Göttingen u. a.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 460 S. = Novum Testamentum et Orbis Antiquus/Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 110. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-59368-4.

Rezensent:

Reinhard von Bendemann

Die Arbeit wurde im Wintersemester 2013/14 vom Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Lorenzo Scornaienchis Gegenstand sind die unter dem Label Streitgespräche (resp. »Konfliktszenen«; »controversy stories« o. ä.) subsumierten Texte, die der Evangelist Markus in zwei narrativen Verbünden planvoll auf den Galiläa- und den Jerusalemteil seiner Erzählung verteilt hat (Mk 2,1–3,6; 11,27–12,38). Einerseits soll dabei die literarische Leistung des Evangelisten gewürdigt werden, in dessen Werk die Streitgespräche erstmals im Frühchristentum extensiv genutzt (nach S. sogar »in das literarische Panorama des Frühchristentums eingeführt« [65.388]) werden. Andererseits geht es S. darum, und hier zeigt sich, dass die Arbeit im Kern vorrangig älteren diachronen Fragestellungen der Synoptikerforschung verpflichtet ist, »Polemik« als ein wesentliches Integral der Verkündigung des historischen Jesus zu begreifen. Überlieferungskritisch stellt sich damit durchgängig die Frage, wie und in welcher Gestalt das »polemische« Erbe Jesu den Evangelisten Markus erreichte und wie er es als profilgebendes Element in seiner Jesusgeschichte eingesetzt hat. Die These lautet (u. a. im Anschluss an ältere Einsichten R. H. Gundrys und H. N. Roskams), dass Markus das überkommene aggressiv-prophetische Potential der ältesten Jesustradition in den Streitgesprächen abgefedert und abgemildert habe zuguns-ten eines insgesamt kommunikativ »fairen« und damit auch einer griechisch-römischen Leserschaft kommunikablen Bildes Jesu als »Lehrer«, der dialektische Gespräche führen kann. Jesu Sprechen erscheine vor dem Hintergrund kaiserzeitlicher Sprachethik ge­genüber seinen jüdischen Gesprächspartnern »sehr kontrolliert« (405). Jesus trete mit modestia für eine humanere Observanz der Toragebote ein und weiche Polemiken aus bzw. lenke diese auf eine höhere Ebene um.
Nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick (20–64) und einer Fokussierung der notorisch umstrittenen Formfrage (65–106; die formgeschichtlichen Grenzziehungen zur »Chrie« u. a. bleiben auch nach S. letztlich unklar [89–93]) entfaltet S. seinen eigenen Neuansatz. Mit Recht wird festgestellt, dass in Entsprechung zu einer in der Forschung lange vorherrschenden Vernachlässigung von Gerichtskonzeptionen in der ältesten Jesustradition auch die »polemischen« Dimensionen der Verkündigung Jesu wenig Beachtung fanden. Der Begriff »Polemik« verdankt sich christlich-konfessionellen Auseinandersetzungen des 17. Jh.s und ist insofern belastet. Weiter führt die literaturgeschichtliche, linguistische und rhetorische Analyse von Formen des verbalen Angriffs, in denen Person und Sache schwer kontrollierbar zusammengebracht werden (vgl. R. Specht u. a.), die in ihrer Ambivalenz jedoch gleichwohl im Diskurs wie normative Argumente fungieren können (107–176). Nach S. sind die Streitgespräche allerdings »keine typisch polemischen Texte« (107). Der Evangelist Markus habe die sperrigen Kontroversstoffe als Apophthegmata neu organisiert und zum integralen Bestandteil einer apologetischen Erzählung gemacht. In Hinsicht auf die »philosophisch-inhaltliche Normierung« (134–142) liegt in der Arbeit ein Fokus auf der Annäherung der Streitgespräche an die sokratische Tradition und ihre antik-philosophischen Derivate. Der Zugang bedingt damit eine weitgehende Konzentration auf die Logien-Überlieferung. In der Frage, welche aktuelle Bedeutung einzelne in den Streitgesprächen verhandelte Themen (Sabbat; Fastenbräuche; Ehescheidung; Auferstehung; Steuerzahlung; Speise- und Reinheitstora) für die Gegenwart der Markus-leserschaft haben könnten, ist S. mit guten Gründen zurückhaltend (vgl. 155 f.). Ob man Mk 2,1–3,6 von 11,27 ff. in dem Sinn diffe renzieren darf, dass es im ersten Fall um einige »Prinzipien der jüdischen Religion« (288), dagegen in Jerusalem vor allem um die ἐξουσία Jesu gehe (vgl. 306), ist im Licht der in den Eingangskapiteln des Mk betonten hoheitlichen Souveränität Jesu – die bereits hier bestritten wird (schon 2,1–12) –, fraglich; nach S. muss Markus den »vollmächtigen« Jesus insgesamt von dem Vorwurf der Magie/ Zauberei abgrenzen; Markus habe darum ἐξουσία im Sinne charakterlich-bildungshafter auctoritas reinterpretiert (337). Den Rahmen des Galiläa- und des Jerusalem-Zyklus setzt der Blasphemie-Vorwurf, der auch sonst bei Markus zur Geltung kommt (vgl. Mk 2,7; 14,64; 3,28 f.; 7,22; 15,29). Schon die galiläischen Streitgespräche (177–304) heben oft metaphorisch an und haben gleichnishaften Charakter. Mk 2,1–12 zeigt nach S., dass der markinische Jesus an einer griechisch kommunikablen »Kultur der Vergebung« partizipiere (194); Jesu Stellungnahme zur Fastenfrage sei bei Markus Bestandteil der Apologie gegen den Vorwurf einer nicht-asketischen Haltung (227). Auch die Sabbat-Kontroversen seien bei Markus auf die Erzeugung eines Bildes Jesu »nach außen« abgestimmt; Jesus vertrete hier innerhalb des möglichen Spektrums eine humane Position (238.253). In den Jerusalemstreitgesprächen (305–387) sei eine Steigerung der Konfliktträchtigkeit erkennbar; die »Attacken gegen die Person Jesu« seien in Jerusalem »viel verfänglicher«, als die in Galiläa (306), indem die »Gegner […] Dilemmata oder Rätsel« formulieren, die die »Positionierung Jesu in der Politik der Zeit« betreffen und eine – so oder so – kompromittierende Antwort un­ausweichlich werden lassen (307). Methodisch stehen bei S. insgesamt zwei Perspektiven in Spannung: Die intendierte literaturgeschichtliche Interpretation sowie das Anliegen, zugleich dem »po­lemischen« Potential der ältesten Jesustradition auf die Spur zu kommen und die Streitgespräche »auf Situationen und Begebenheiten im Leben des historischen Jesus zurückzuführen […]« (60).
Hier seien mit Blick auf die Seite der literarischen Inszenierung einige Rückfragen notiert: Die »extrakommunikative« (248 u. a.) Orientierung des zweiten Evangeliums, d. h. die Annahme, Markus habe durch sein Werk apologetisch »eine Reterritorialisierung des frühen Christentums im großen Kontext des römischen Reiches« erreichen wollen (76; vgl. 408), wird behauptet, nicht aber bewiesen (ein Problem bleibt Mk 7,3 f.). Die Behauptung, Jesus solle als griechischer Lehrer für ein nichtjüdisches Publikum präsentiert werden, führt in der Arbeit zu einer starken Relativierung der einzelnen angesprochenen jüdischen Gruppierungen (vgl. 262) und immer wieder zu gezwungen wirkenden exegetischen Entscheidungen. S. sieht selbst, dass Mk 3,22–30 der einzige wirklich dialektisch aufgebaute Kontroverstext ist (271). Insbesondere die sorgfältige Abstimmung der Streitgespräch-Stoffe auf biblische Prätexte steht einer derartigen Kommunikabilisierung »nach außen«, die zugleich auch »normativ« sein soll, im Weg. Die These, Markus distanziere Jesu Rede von aggressi-veren Sprachformen prophetischer Rede, wie sie sich insbesondere in der Spruchquelle Q finden, bzw. er korrigiere ein entsprechendes Bild, sieht etwas Richtiges. Allerdings ergibt sie sich auch durch die getroffene begrenzte Textauswahl und unterschätzt insgesamt doch den offense, der im zweiten Evangelium von Jesus gegenüber jüdischen Adressaten ausgeht. Im Ergebnis lässt die postulierte apologetische Situation und lassen die postulierten rhetorischen Strategien Jesu die im Zusammenhang der Streitgespräche erzählten Konflikte freundlicher und quasi »aufgeklärter« erscheinen, als sie bei Markus tatsächlich sind. Ein ganz wesentlicher Grund liegt darin, dass S. narratologische Fragestellungen nahezu völlig ausblendet. Damit kommt kaum in den Blick, wie »offensiv« schon die erzählerische Konstruktionen jüdischer Gruppen bei Markus angelegt ist, wie diese – oft gegen die erzählerische Logik – quasi omnipräsent Jesus auflauern, wie sie – anders als die Jünger – vom Erzähler in ihren Herzen behaftet werden, wie ihre Positionen vom Erzähler vielfach planvoll verkürzt, beschnitten und verzerrt werden, so dass der markinische Jesus quasi offene Türen einrennen kann (siehe bei S. selbst auf 231–238; vgl. zu Mk 7,1–23: 280–304), und wie vielfältig auch die Techniken des Gegenangriffs Jesu gestaltet werden. Allein die prophetische Gerichtsansage im Gleichnis in Mk 12,9 konterkariert die von S. postulierte Fairness und Kontrolliertheit; ein Mittel, das kaum als »fair« qualifiziert werden kann, ist auch die moralische Diskreditierung der »anderen«, die vielfach an die Stelle einer inhaltlichen Auseinandersetzung tritt (vgl. Mk 7,6; 10,2–12; 12,38–40 u. a.). Zu wenig beachtet wird zudem, dass die Gegenpolemik bei Markus dort besonders scharf wird, wo die Jünger mit betroffen sind (vgl. Mk 3,22 im Kontext des 3. Kapitels). Die Hauptanfrage muss sich auf S.s These richten, dass die Streitgespräche bei Markus als »kleine Prozesseinheiten« (157) eine Art proleptische Apologie Jesu bilden und somit den Prozess Jesu in Mk 15,1–5 vom Erweis der Unschuld entlasten sollen (390 f.). – Ein entsprechender Bezug der Streitgespräche ist (trotz Mk 3,6) auf der literarischen Ebene kaum schlüssig herzustellen; der markinische Jesus wird in den Streitgesprächen nicht als »unschuldig« im Sinne derjenigen Vorwürfe präsentiert, die bei Markus prozessrelevant sind. Insbesondere ist der Tempel als Thema, auf das sich das Falschzeugnis im Prozess Jesu richtet, in den untersuchten Streitgesprächen nicht verankert (allenfalls in Mk 2,24 f.; den Wechsel des Hohepriestersnamens in Abiathar hält S. jedoch nicht für signifikant; 244). Zudem sind die dezidiert jüdisch gestalteten Themen kaum dazu geeignet, Jesus gegenüber einer (postulierten) breiteren römischen Leserschaft, die hier »Aufruhr« assoziieren könnte, in ein überzeugendes Licht zu setzen.
Die Bewährung der von S. herangezogenen Polemik-Forschung ge­lingt damit am markinischen Text nur teilweise. Gleichwohl handelt es sich um ein die Streitgespräch-Forschung weiterführendes Buch. Die von S. herausgearbeiteten vielfältigen eristischen Techniken helfen, die markinischen Episoden in ihrer strategischen Logik und ihren sprachlichen Bauformen besser zu verstehen; und im Bereich des Analogischen ist es wichtig und richtig, für Markus auch die griechisch-römische Antike im Blick zu behalten.