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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

305–306

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Riley, Paul C. J.

Titel/Untertitel:

The Lord of the Gospel of John. Narrative Theory, Textual Criticism, and the Semantics of Kyrios.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XII, 223 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 478. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-16-156830-5.

Rezensent:

Predrag Dragutinovi

Schon aus dem Titel der hier zu besprechenden Monographie ist der Zugang ihres Autors Paul C. J. Riley zu einer spannenden Thematik der neutestamentlichen Wissenschaft zu ersehen. Auf die Grundfragen der Untersuchung – wie die Gottheit Jesu (»Jesus’ divine identity«) narrativ vermittelt ist durch das Wort kyrios und wie die Figuren der Erzählung sowie die Leser zur vollen Erkenntnis der wahren Identität Jesu kommen – wird methodologisch so eingegangen, dass R. narrative Kritik, Textkritik und Semantik als Methoden einsetzt. Die methodologische Grundentscheidung wird getroffen, indem R., C. Skinner folgend, die narrative Kritik der Textkritik voranstellt, in der Überzeugung, dass die Ergebnisse der narrativen Kritik die textkritischen Entscheidungen beeinflussen sollen (so zusammenfassend 191.194–195). Die semantische Analyse kann ihrerseits aufzeigen, wie das Wort kyrios auf verschiedenen Ebenen der Erzählung funktioniert, d. h., an verschiedenen Stellen ist die Bedeutung des Wortes kyrios unterschiedlich zu be­urteilen, und das Wort müsste dementsprechend übersetzt werden. Um die Funktion des Titels kyrios näher zu bestimmen, werden vier narrative Spezifika des Evangeliums betrachtet: 1.) nar-rative Struktur – R. liest das Evangelium nach Johannes als eine fortlaufende Erzählung vom Kapitel 1 bis zum Kapitel 21; 2.) Erzählfiguren (besonders das Motiv der Anerkennung); 3.) Ironie, die am Verstehen und Missverstehen der Identität Jesu durch die Erzählfiguren demonstriert werden kann); 4.) point of view des Erzählers (mit dem Schlüsselstellen 1,14 [»flesh-glory paradigm«] und 1,23) – der Erzähler ist der einzige, der kyrios im Sinne von »Lord« verwendet (6–15). Alle diese Momente helfen R., die Bedeutung des Wortes kyrios in der Erzählung zu bestimmen. Der nächste, textkritische Schritt, wird in der Untersuchung zehn Mal angewendet. Zwei Mal trifft R. eine Entscheidung, die von NA28 ab­weicht (4,1; 9,38–39a; 59–65.114–122). Die semantische Analyse wird aufgrund der Einsichten von Johannes P. Louw und Eugene A. Nida in ihrem Greek English Lexicon of the New Testament durchgeführt (wo vier Bedeutungen des Lexems zu finden sind: Anrede eines Mannes, einer der über die anderen herrscht, Besitzer und ein übernatürliches Wesen). Darüber hinaus wird auch der sogenannte »dynamic construal approach« angewendet, entwickelt von Alan Cruse, der davon ausgeht, dass Worte keine fest zugeordnete Be­deutung haben, sondern dass die Bedeutung aus kontextuellen Einschränkungen (»contextual constrains«) zu gewinnen ist (18–21.32–36). Mit diesen drei methodischen Schritten – »narrative theory, textual criticism and semantics« – sucht R. die Funktion und Bedeutung des Lexems kyrios im Johannesevangelium zu verstehen.
Im Unterschied zum Erzähler kennen die Erzählfiguren die göttliche Identität Jesu vor seiner Auferstehung nicht. Jedes Mal, wenn die Erzählfiguren Jesus als kyrios ansprechen, ist dieser Titel nicht als »Lord« zu übersetzen (das wird nur dem Erzähler vorbehalten, d. h. für seine Interpretation der Identität Jesu, Joh 1,23; 4,1; 6,23; 11,2; 12,13.38). An vielen anderen Stellen, wo die Anrede kyrios im Munde der Erzählfiguren begegnet, muss sie optional als »Sir«, »Master« oder »Owner« übersetzt werden (s. die Tabelle 192–193; in deutschen Übersetzungen wird kyrios stets mit »Herr« wiedergegeben). Erst die Auferstehungsgeschichte ab Kapitel 20 ermöglicht den Erzählfiguren, dass sie Jesus kyrios nennen, in dem Sinne, wie ihn bisher nur der Erzähler nennen konnte, nämlich kyrios mit der Bedeutung »Lord« (20,18.25.28). Das, was der Erzähler von Anfang an wusste, wohl aber auch seine Leserschaft, die den Prolog gelesen hat, begreifen nun die Erzählfiguren: Jesus ist »Lord«. Auf diese Weise wird die Anrede kyrios für die Christologie des Johannesevangeliums äußert wichtig, besonders als Mittel zur Hinführung zur Erkenntnis der göttlichen Identität Jesu.
R. sieht sein methodologisches Modell als geeignet auch für die Untersuchung anderer narrativer Texte des Neuen Testaments an, obwohl vieles, was man klassisch unter der johanneischen Frage unterbringt, damit nicht gedeckt wird (vor allem historische Themen). Ein Beispiel, wo man die diachrone Fragestellung (konkret Literarkritik) doch einsetzen könnte, ohne die Plausibilität des Modells in Frage zu stellen, ist die Sicht R.s zu Kapitel 21. Er be­trachtet das Kapitel 21 als eine narrative Einheit zusammen mit Kapitel 1–20 und liest den Text 1,1–21,25 als eine fortlaufende Erzählung (9.182–188). Das Kapitel 21 wird aber in der Forschung einstimmig als Nachtrag, als sekundärer Epilog, angesehen, der mit der Endredaktion des Textes verbunden werden kann. Dieses Kapitel ist auch wichtig, weil es dem ganzen Werk ein neues Gepräge verleiht. Das gilt auch für den Gebrauch der Anrede kyrios. Im Kapitel 21 kommen gerade Petrus (viermal) und der Erzähler (zweimal) zur Übereinstimmung (»Jesus is Lord«), während der Lieblingsjünger nur einmal in Retrospektive auf 13,25 Jesus wieder als kyrios (»Master«) anspricht. Das deutet darauf hin, dass hier der point of view doch etwas verändert wird und die Geradlinigkeit des Lesens der Geschichte hinterfragt werden muss. Es scheint, dass in Kapitel 21 der Titel kyrios einer Neuinterpretation von Joh 1–20 dient, die eher auf eine neue ekklesiologische Bestimmung des johanneischen Standortes zielt.
Abgesehen davon ist die vorliegende Studie ein gelungenes methodisches Experiment. Besonders die Ergebnisse, die zur Vorsicht beim Übersetzen der biblischen Texte mahnen, wenn man ihre intentio und ihren theologischen Ertrag beibehalten möchte, sind wertvoll und in mancher Hinsicht wegweisend. Auf jeden Fall hat R. erneut die Welt der johanneischen narrativen Theologie ans Licht gebracht und Impulse für weitere kreative Untersuchungen gegeben.