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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

297–298

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Wallmann, Johannes

Titel/Untertitel:

Martin Luthers Judenschriften. 2., durchges. u. erw. Aufl.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2019. 213 S. = Studienreihe Luther, 18. Kart. EUR 12,95. ISBN 978-3-7858-0718-7.

Rezensent:

Konrad Hammann

In diesem für ein breites Lesepublikum gedachten Buch gibt der Doyen der neuzeitlichen protestantischen Kirchenhistoriographie einen instruktiven Überblick über die sogenannten Judenschriften Luthers und deren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte innerhalb des Protestantismus vom 16. bis zum 20. Jh. Johannes Wallmann war der Erste, der vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im 20. Jh. schon vor vier Jahrzehnten die Dringlichkeit der Aufgabe erkannt hat, in die Untersuchung von Luthers Voten zu den Juden auch die Wirkung und Aufnahme seiner Judenschriften in den verschiedenen Ausformungen des neuzeitlichen Protestantismus mit einzubeziehen.
Ein wichtiges Motiv für seine einschlägigen Arbeiten zu diesem Thema – nämlich frühe, lebensgeschichtlich prägende Erfahrungen mit Judenchristen und Juden in seiner Berliner Bekenntnisgemeinde während des Dritten Reiches – nennt W. im Vorwort (vgl. 17 f.). Dort und im Nachwort gibt er auch als einen Anlass seines öffentlichen Engagements für die unvoreingenommene Wahrnehmung der tatsächlichen Wirkung von Luthers Ju­denschriften einige die historischen Zusammenhänge verzerrende Äußerungen von leitenden Persönlichkeiten wie auch einer Synode der EKD im Jahr 2015 an (vgl. 11.19.208).
In Luthers Haltung zum Judentum macht W. drei Phasen aus. In der ersten Phase, die in der ersten Psalmenvorlesung 1513–1515 zu erkennen ist, teilt der Wittenberger Theologieprofessor noch die mittelalterliche Judenfeindlichkeit. (Wie es zu dem christlichen Antijudaismus im Mittelalter kam, zeichnet W. in einem knappen einleitenden Kapitel nach, das die Voraussetzung für seine Analyse und Einordnung von Luthers Judenschriften bildet.) Etwa zeitgleich mit der Absage an die mittelalterliche Papstkirche vollzieht sich bei Luther der Übergang in eine neue Phase, in der er die mittelalterliche Judenfeindschaft überwindet und zu einer erstaunlich judenfreundlichen Haltung findet. Seine Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei aus dem Jahr 1523 dokumentiert diesen zweiten Abschnitt in seiner Stellung zu den Juden. Demgegenüber fällt der Reformator in der dritten Phase mit seinen späten judenfeindlichen Schriften von 1543 wieder zurück in die mittelalterliche Judenfeindschaft, nein: Er verschärft sie noch durch seine Aufforderung an die zeitgenössische Politik, völlige Intoleranz ge­genüber den Juden zu zeigen.
In diesem Kontext schlägt W. vor, von Luthers Judenschriften nur diejenige von 1523 als »reformatorisch« zu betrachten und im Hinblick auf seine Publikationen den Begriff des Reformatorischen lediglich seinen auf eine universale Kirchenreformation abzielenden Schriften von 1520–1523 vorzubehalten (vgl. 34–36). Darüber wird man gewiss diskutieren können. Ob sich aber daraus wirklich so einfach der Schluss ziehen lässt, die »antijüdischen Spätschriften Luthers« gehörten »nicht zu seinen reformatorischen Schriften« (37)? W. bietet jedenfalls luzide Analysen der Judenschriften und einiger weiterer, nur wenig bekannter Voten Luthers zu den Juden. Er führt den Judenhass des späten Luther weniger auf dessen Enttäuschung über die ausbleibende »Zuwendung der Juden zum Evangelium« (36) zurück als vielmehr auf die Furcht, angesichts des nahe bevorstehenden Jüngsten Tages könnten das Evangelium und der christliche Glaube schweren Schaden nehmen, wenn man die Juden und ihren Glauben weiterhin dulde (vgl. 36.87.89 u. ö.).
Bei der Untersuchung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte unterscheidet W. zwischen dem Altprotestantismus, d. h. der lutherischen Orthodoxie des späten 16. und 17. Jh.s, und dem Neuprotestantismus, der bei ihm merkwürdigerweise vom Pietismus bis zum Protestantismus des 20. Jh.s reicht. Hatte man sich in Theologie und Kirche vom 17. bis in das späte 19. Jh. vor allem an Luthers früher Schrift Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei orientiert, seine antijüdischen Spätschriften aber bewusst oder unbewusst dem Vergessen anheimfallen lassen, reaktivierten erst Ende des 19. Jh.s Antisemiten und Vertreter der völkischen Bewegung sowie im Dritten Reich einige Nationalsozialisten und radikale Deutsche Christen insbesondere Luthers Schmähschrift Von den Juden und ihren Lügen aus dem Jahr 1543. Eine direkte Verbindungslinie von Luthers antijüdischen Streitschriften zum eliminatorischen Antisemitismus des späten 19. Jh.s oder gar zum rassischen Antisemitismus der Nationalsozialisten – dies zeigt W. überzeugend – lässt sich allerdings nicht ziehen.
Unabhängig von diesem Ergebnis seiner verdienstvollen Studie steht aber weiterhin die Frage im Raum, inwieweit der in der ge­samten Neuzeit offenkundig in allen Konfessionen anzutreffende traditionelle christliche Antijudaismus den oder einen Nährboden für den rassischen Antisemitismus des 20. Jh.s bildete.