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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

295–297

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Veltri, Giuseppe

Titel/Untertitel:

Alienated Wisdom. Enquiry into Jewish Philosophy and Scepticism.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XXII, 372 S. = Studies and Texts in Scepticism, 3. Geb. EUR 86,95. ISBN 978-3-11-060339-2.

Rezensent:

Micha Brumlik

Spätestens mit dem Erscheinen von Jürgen Habermas’ »Auch eine Geschichte der Philosophie« werden Genealogien philosophischen Denkens erneut diskutiert – sei es auch nur in Form dessen, was heute nicht mehr »Geistesgeschichte«, sondern »intellectual history« heißt. Dabei geht es um eine klassische Fragestellung der Philosophie, nun aber auf sie selbst angewandt: um die Frage nach der Beziehung von Genesis und Geltung.
Mit der hier angezeigten Monographie hat Giuseppe Veltri, seines Zeichens Professor für Jüdische Philosophie und Religion sowie Direktor des Maimonides Zentrums für Advanced Studies an der Universität Hamburg, ein weiteres Zeugnis seiner exzellenten und singulären Kenntnis italienisch-jüdischer Philosophie vorgelegt. Diese geistige Strömung jedenfalls ist wenig bekannt: nicht nur deswegen, weil die Philosophie der Renaissance hierzulande noch immer im Schatten des tranzendentalen »Idealismus« steht, sondern vor allem auch deshalb, weil die ganz eigene Geschichte des italienischen Judentums und seiner Repräsentanten hierzulande so gut wie unbekannt ist. Das gilt insbesondere für die philosophischen Vertreter dieses Judentums: Männer wie Leone Ebreo (1460–1521), Simone Luzzatto (1582–1683) aber auch für eine Frau, die Dichterin Sara Sophia Sullam (1592–1641).
V.s weit ausholender Studie, überreich mit Verweisen auf einschlägige internationale Forschungsliteratur belegt, geht es um mindestens (!) drei Themen: erstens um die Frage, was genau eigentlich jüdische Religionsphilosophie ist und sein kann, zweitens, ob sich eine eigene Tradition jüdischen Skeptizismus nachweisen lässt, sowie drittens um die Klärung des von ihm selbst entwickelten Konzepts einer »entfremdeten Philosophie«.
Tatsächlich: Skeptisches Denken im Geiste der pyrrhonischen Skepsis war im Judentum der Antike allemal verbreitet und fand seinen Niederschlag sogar in der hebräischen Bibel, wie das Buch »Kohelet« (Prediger Salomo) unmissverständlich beweist. Diese Grundlegung eines jüdischen Skeptizismus sollte bis in die Neuzeit nicht vergessen werden, wie V. beweist. Als Spezialist zumal für das Werk von Simone Luzzatto stellt sein Buch vor allem eine Einführung in dessen Schaffen und sein Hauptwerk »Socrate, ovvero, Dell’humano sapere: esercitio seriogiocoso«, Venedig: Ap­presso il Tomasini, 1651« – das V. selbst 2018 unter dem Titel »Socra tes, or on Human Knowledge« erneut herausgegeben und kommentiert hat.
Dass es tatsächlich so etwas wie einen jüdischen Skeptizismus gegeben hat, wird mindestens dann deutlich, wenn der Blick auf den zumal in den letzten Jahren immer stärker beachteten Philo von Alexandrien fällt, einen Philosophen, der nur der bekannteste unter den jüdischen Neuplatonikern des 1. Jh.s war und inzwischen als Begründer einer noch-nicht-christlichen Trinitätstheologie gilt. Auf jeden Fall kann V. zeigen, dass der Begriff einer »Jü-dischen Religionsphilosophie« vergleichsweise späten Alters, des 19. Jh.s, ist, mehr noch: dass die Bestimmung des Judentums als »Religion« so gut wie nie von Juden selbst betrieben wurde. In diesem Sinne wurde die Zurechnung jüdischen Denkens zur Skepsis gleichwohl schon früher von einem bisher weitgehend unbekannt gebliebenen Orientalisten Johannes Frischmuth (1619–1687) vorgenommen – einem Autor, den V. ausführlich vorstellt. Frischmuths entscheidende Abhandlung dazu – aus dem Jahre 1658 – ist dem vorliegenden Band in voller Länge im lateinischen Original beigegeben.
Die Schwierigkeit jedenfalls, zu bestimmen, was genau jüdische (Religions)philosophie ist, beginnt mit der noch grundlegenderen Schwierigkeit, zu bestimmen, was überhaupt »Judentum« sei: Herkunftsgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft, Ethnie, Konfession oder Kultur. Sodann wirft sich die Frage auf, ob »jüdische Philosophie« jüdisch ist, weil die Autoren Juden und Jüdinnen sind, die behandelten Themen der jüdischen Tradition oder Geschichte gelten oder der Gang der Argumentation in einem noch zu klärenden Sinn jüdisch ist.
V. jedenfalls lässt keinen Zweifel daran, dass es vor allem christliche Autoren waren, die das Judentum als »Religion« festschrieben – seit der Reformation allemal als eine Religion, die vor allem dem Buchstaben des Gesetzes und damit vor allem Riten zugewandt gewesen sei. Entsprechend läuft V.s Geschichte jüdischer Philosophen auf deren Auseinandersetzung mit antiker Philosophie und Christentum hinaus und zeigt damit, dass mittelalterlich jüdische Philosophen das Judentum als universale Philosophie präsentierten, jüdische Autoren der Renaissance es hingegen in seiner besonderen Eigenart darstellten, während jüdische Denker des 18. und 19. Jh.s – beispielhaft Moses Mendelsohn – diese Besonderheit als System entfalten wollten; ein Unterfangen, das schließlich zu einer »Dogmatisierung« des Judentums und seiner Akademisierung in der »Wissenschaft des Judentums« geführt habe.
In den Ausläufern der Renaissance freilich, vor allem im Venedig des 17. Jh.s, als der dortige Oberrabbiner Simone Luzzato sein Sokratesbuch schrieb, ging es um die Frage, ob und wie sich Juden zu den zeitgenössischen früh aufgeklärten Philosophien ihrer Umwelt verhalten sollten. Dass es dabei immer und wieder um die Haltung zu Aristoteles ging, versteht sich beinahe von selbst – stritten etwa jüdische und nichtjüdische Autoren darüber, ob das Judentum den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch anerkenne: Haben doch mindestens die Rabbanim des Talmud darauf bestanden, dass dieselben Bibelstellen radikal unterschiedlich und entgegengesetzt gedeutet werden können.
Nicht zuletzt aber waren prominente Autoren wie der Autor des »Socrate«, Simone Luzzatto, mit ihrem Beharren auf einem jüdischen Skeptizismus auch Aufklärer, die sich deutlich gegen jede Form eines paganen und auch christlichen Antijudaismus wandten. Luzzatto jedenfalls propagierte – auch und gerade in politischer Hinsicht – ein Abrücken von vorschnellem Urteil, setzte sich ein für das Vermeiden übereilten Einverständnisses sowie für ein konsequentes Befürworten des »Nicht Sicheren«, sondern nur »Wahrscheinlichen«; allesamt Haltungen, die alleine politischen Frieden und Toleranz garantieren können.
Mehr noch, Autoren wie Luzzatto waren auch politisch und ökonomisch engagiert: In einer weiteren Schrift, dem »Discorso circo il stato de gli Hebrei« aus dem Jahre 1638 – Spinoza publizierte seinen »Theologisch-politischen Traktat« erst 1670 – empfiehlt Luzzatto, dem Niedergang Venedigs durch eine Stärkung der jüdischen Kaufmannschaft entgegenzuwirken, und wurde damit zu einem frühen Vorläufer jüdischer Emanzipationsbestrebungen.
Zum Nachteil der überaus gelehrten Studie erläutert V. das für seinen Argumentationsgang zentrale Konzept der »entfremdeten Philosophie« erst in der Endbetrachtung seiner Studie. Was die Geschichte des jüdischen Skeptizismus mit »Entfremdung« zu tun hat, entfaltet V. allzu spät, wenn auch in einer begriffsgeschicht-lich wohl informierten Passage: »The attempts of the Jewish intel-lectual class towards cultural emancipation were always destined to fail: the dominant culture had not only alienated them from their own tradition, but had also reserved for them a redemption in the form of a Hegelian Aufhebung in which the age of Spirit is identified with the age of Christianity.« (283)
Vor dem Hintergrund der Geschichte des Christentums erweist sich die zu wenig beachtete Geschichte des jüdischen Skeptizismus, des Erbes der hellenistischen Philosophie seit Philo, somit als ein Element der Aufhebung der Entfremdung.
Das in der Vielschichtigkeit seiner Argumentation und seiner Materialien nicht immer gut überschaubare Werk empfiehlt sich gleichwohl allen, die sich mit der gänzlich zu Unrecht unbekannten jüdischen Philosophie der italienischen Renaissance vertraut machen wollen, sowie einem Lesepublikum, das schon immer wissen wollte, was genau »jüdische« Philosophie ist. Freilich sei nicht verschwiegen, dass das Studieren dieses an Informationen so reichen Buches einen erheblichen Aufwand an Zeit, Mühe und Ge­duld erfordert. Dazu bereit zu sein, bringt jedoch erheblichen Lohn ein: einen frischen Blick sowohl auf die Philosophie der Neuzeit als auch auf die Geschichte des Judentums.