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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

292–295

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

[Alexander, Philip S.]

Titel/Untertitel:

Jewish Education from Antiquity to the Middle Ages. Studies in Honour of Philip S. Alexander. Ed. by G. J. Brooke and R. Smithuis.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2017. X, 461 S. = Ancient Judaism and Early Christianity, 100. Geb. EUR 173,00. ISBN 978-90-04-34775-5.

Rezensent:

Beate Ego

Der von George J. Brooke und Renate Smithuis herausgegebene Sammelband zu Ehren von Philip S. Alexander ist dem Thema »Bildung« im Judentum in der Zeitspanne vom Frühjudentum bis zum Mittelalter gewidmet. Nach einer knappen Zusammenfassung der einzelnen Beiträge durch die Herausgeber, die übergreifende Themen benennt (z. B. die Quellenfrage, die Einbindung der Bildungskonzepte in den jeweiligen kulturellen Kontext, der Beziehung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Fragen des Curriculums oder Lernmethoden sowie Genderfragen, 1–10) bietet der Band insgesamt 15 Aufsätze, welche die Thematik »Lernen und Bildung« aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Exemplarisch sollen hier einige der Beiträge in den Vordergrund gestellt werden, die einerseits insbesondere für die Beschäftigung mit dem antiken Judentum und der neutestamentlichen Überlieferung von Bedeutung sind sowie andererseits ausgesprochen innovativen Charakter haben.
Die ersten beiden Aufsätze fokussieren die antikjüdische hebräischsprachige Überlieferung. So gibt George Brooke, »Aspects of Edu­cation in the Sectarian Scrolls from the Qumran Caves« (11–42), zunächst einen großen Überblick über das Thema des Lernens, wie es aus einigen »sectarian compositions« aus Qumran erschlossen werden kann. In diesem Kontext unterstreicht Brooke die große Bedeutung von Bildungsprozessen in der Gemeinschaft und macht deutlich, dass im Anschluss an eine »Eingangskatechese« das lebenslange Lernen eine konstitutive Praxis in deren Leben darstellte. Da die Texte ganz unterschiedliche Arten des Schreibens bezeugen, ist anzunehmen, dass mit unterschiedlichen Methoden gelernt wurde. Wenn in Qumran auch Bildungsprozessen eine große Bedeutung zukam, so kann die Anlage selbst aber doch nicht nur als eine Schule klassifiziert werden. Vielmehr ist von einer Multifunktionalität der Siedlung auszugehen und es ist zu beachten, dass andere Aktivitäten wie die Herstellung von Töpferware eine wichtige Rolle für das Leben der Bewohner spielten.
Seán Freynes Beitrag »Could Jesus Really Read? Literacy in Roman Galilee« (43–62) befasst sich mit der jüdischen Alphabetisierung im römischen Galiläa. In diesem Kontext versucht der Autor den historischen Kontext Jesu in ein bestimmtes Gesellschaftskonzept einzuordnen, um herauszufinden, welche Auswirkungen sein häusliches Umfeld und seine Erziehung haben könnten. Unter Berücksichtigung verschiedener Möglichkeiten, von der gebildeten und ungebildeten Elite Jerusalems bis hin zu den ungebildeten und gelegentlich gebildeten einheimischen galiläischen Dorfgruppen, schlägt er vor, dass der historische Jesus, wie sich aus Mk 6,3 ableiten lässt, höchstens die Lesefähigkeit eines Handwerkers und sicher nicht die eines Schreibers hatte; es kann aber vermutet werden, dass er durchaus eine weiterführende »Ausbildung« in den Traditionen Israels nach den mündlichen oder schriftlichen Quellen erhalten hat (wahrscheinlich von Johannes dem Täufer, dem Sohn eines Jerusalemer Priesters).
Weitere Studien wenden sich griechischsprachigen Texten zu. So betrachtet Tessa Rajak in »Paideia in the Fourth Book of Maccabees« (63–84) einen Text aus der griechischsprachigen jüdischen Diaspora, der Interessen an Gesetz und Tugend kombiniert. Sie verweist auf die elementare Bedeutung, die dem Thema »Lernen« in 4Makk zukommt (»Thus, the book, in its current form, draws to a close with an act of pedagogy«, 63). Vor dem Hintergrund der Annahme, dass das Buch im späten 1. bzw. im frühen 2. Jh. n. Chr. in Antiochia entstanden ist und sowohl mit der späten Sophistik (»Second Sophistic«) als auch mit Märtyrertraditionen des frühen Christentums in Berührung kam, kommt sie zu dem Schluss, dass 4Makk einerseits auf die Verfolgungen im Zusammenhang mit den jüdischen Revolten des späten 1. und frühen 2. Jh.s n. Chr. reagiert und andererseits »the atmosphere and taste of the ›Second Sophistic‹ in the cities of the eastern Roman Empire« (71) reflektiert, wobei eine doppelte Funktion deutlich wird: »Above all, however, 4 Maccabees capitalizes on the capacity of its Janus-faced paideuein/didaskein language both to link its core readership with the world in which it was embedded and to assert an individual identity« (81).
Eine Kontextualisierung der neutestamentlichen Überlieferung erfolgt in den Beiträgen von William Horbury and Loveday Alexander. So gibt William Horbury in seinem Artikel »Pedagogues and Primary Teachers, from Paul to the Mishnah« (95–127) einen Überblick über die Schulbildung im antiken Judentum. Hierzu sammelt er die entsprechenden Belege aus den verschiedenen zeitgenössischen jüdischen Quellen (u. a. von Philo und Josephus, der qumranischen Gemeinschaftsregel, sowie aus Mischna und Tosefta) sowie die Hinweise bei Paulus in 1. Korinther-, Galater- und Römerbrief. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Entwicklung der Elementarschulbildung aufzeigen, welche die rabbinischen Belege in eine lange Traditionslinie stellt. Alexander wiederum fragt in ihrem Beitrag »Anecdotal Evidence: Memory, Tradition and Text in Early Christianity and the Hellenistic Schools« (201–235) nach dem Zusammenspiel von Mündlich- und Schriftlichkeit. Eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielten die sogenannten Apomnemoneuta, Sammlungen von Anekdoten, die im Schulunterricht sowohl die Grundlage von sprachlichen Übungen als auch von moralischer Unterweisung bildeten (z. B. Xenophons Apomnemoneuta oder Lukians »Leben des Demonax«). Anekdoten entstanden auf der Basis von Erinnerungen, wurden verschriftlicht und er-fuhren dann im Unterricht eine »Re-oralisierung« bzw. eine »Re-textualisierung«. Dieser Bereich öffnet für Alexander ein Fenster in die Überlieferung der Evangelien, da hier ein ähnlicher Prozess für die Verschriftlichung anzunehmen ist und auch diese Texte dann später im Unterricht verwendet werden konnten (s. z. B. Clemens von Alexandria, Adumbrationes ad 1Petr 5,13). Allerdings sind die Evangelien in ihrer Gesamtgestalt weitaus stärker durchkomponiert, als dies bei den Anekdotensammlungen der Fall ist.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit Lernprozessen in der Epoche des rabbinischen Judentums. So stellt Alexander Samely in »Educational Features in Ancient Jewish Literature: An Overview of Unknowns« (147–200) literarische Formen zusammen, deren »Sitz im Leben« auf konkrete Lehr- und Lernsituationen zurückgeführt werden kann (z. B. direkte Anreden, systematischer Aufbau eines Abschnittes, Fragen oder Dialoge), und zeigt zudem, dass als Organisationsprinzip einer »map of Knowledge« ältere Texte aus der Tradition dienten; diese autoritativen (oder sogar heiligen) Texte fungierten als eine Art Referenzsystem, das Orientierung gab und deshalb die literarische Produktivität der Rabbinen leitete. Robert Hayward dagegen behandelt in seinem Beitrag »The Aramaic Targum and its Ancient Jewish Scholarly Environment« (128–146) ein geradezu klassisches Thema aus der Targumforschung, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Schule und Synagoge als »Sitz im Leben« der Targumliteratur. Der Autor argumentiert auf der Basis des einschlägigen Quellenmaterials, dass die Targumliteratur nicht nur liturgisch eingebunden war, sondern auch einen Teil der Lehre im Bet Midrasch darstellte.
Weitere interessante Beiträge wenden sich der Spätantike und dem Mittelalter zu. Auch hier gibt es in dem Band viel Interessantes zu entdecken: So verweist Gideon Bohak auf Lernpraktiken in magischen Texten (»A Jewish Charm for Memory and Understanding«; 324–340). Ein Pergament-Fragment aus dem 11. Jh. belegt die Idee eines magisch gesteigerten Lern- bzw. Gedächtnisvermögens, denn der Codex enthält mehrere divinatorische Texte, darunter ein Rezept für »das Öffnen des Herzens« und zwei »gegen das Vergessen« (326 f.). Bohak zeigt, dass neben oder als Teil der rabbinischen Lernkultur immer wieder solche »magischen Rezepte« verwendet wurden, um das Erinnerungsvermögen zu verbessern, und erläutert, wie diese »Rezepte« sowohl mündlich als auch schriftlich über die Generationen hinweg übermittelt wurden. Ein ganz neues Feld eröffnet schließlich der Beitrag von Colette Sirat, »Entering the Field of Philosophy: Provence, Mid-Fourteenth Century« (398–411). Die Autorin widmet sich der Frage, wie Juden Kenntnisse der griechischen Philosophie und Wissenschaften erworben haben könnten, wenn dieselben nur auf Arabisch oder Latein erhalten waren, also in Sprachen, welche die meisten Juden in Europa nicht beherrschten. Sie schlägt vor, dass ein Studium der externen Wissenschaften erst nach Ab­schluss einer religiösen Grundausbildung in Bibel, Talmud, hebräischer Grammatik und Literatur aufgenommen wurde. Bis zur zweiten Hälfte des 15. Jh.s fand in Spanien das philosophische Studium durch Selbststudium und wenn möglich unter der Anleitung eines Gelehrten statt. Diese These wird durch zahlreiche hebräische Ma­nuskripte gestützt, die für den fortgeschrittenen Schüler be­stimmt waren (z. B. MS Paris, BnF, hébreu 1005, fols 1–71).
Weitere Beiträge, die hier nicht im Einzelnen referiert werden können, beschäftigen sich u. a. mit dem Bildungskonzept Ephrem des Syrers (6. Jh.) (Sebastian Brock, »God as the Educator of Human-ity«; 236–251), mit der Rolle, die der Liturgie in Bildungsprozessen zukommt (Stefan Reif, »Liturgy as an Educational Process in Talmudic and Medieval Judaism«; 252–268), mit dem Hebräischunterricht im Mittelalter (Geoffrey Khan, »Learning to Read Biblical Hebrew in the Middle Ages: The Transition from Oral Standard to Written Standard«; 269–295), mit einem Glossar, das beim Verständnis schwieriger Wörter im Talmud hilfreich ist (Judith Olszowy-Schlanger, »Glossary of Difficult Words in the Babylonian Talmud [Seder Mo‘ed] on a Rotulus«; 296–323) sowie den Lernmöglichkeiten für Frauen (Renate Smithuis, »Preaching to his Daughter: Jacob Anatoli’s Goad for Students [Malmad ha-talmidim]«; 341–397).
Der Band schließt mit einer vollständigen, chronologisch sortieren Liste der Veröffentlichungen von Philip S. Alexander sowie einem Autoren- und einem sehr umfangreichen Quellenregister. Da das Thema der antiken und mittelalterlichen Bildungsdiskurse in den letzten Jahren zunehmend in das Interesse der alttestamentlichen bzw. judaistischen Forschung getreten ist, kommt diesem Band eine wichtige Bedeutung zu. Die Artikel beziehen sich in der Regel nämlich nicht auf spezielle Fragen, sondern stecken das Thema in einem größeren Kontext ab, so dass sie – nicht zuletzt auch in Verbindung mit den ausführlichen Bibliographien am Ende eines jeden Beitrags – geradezu als ein Kompendium zu der Thematik betrachtet werden können. Insbesondere ist auch die Kohärenz des gesamten Bandes hervorzuheben, insofern sich die Artikel gegenseitig ergänzen und insgesamt das Feld in seiner Breite abdecken. Während einzelne Arbeiten einen guten Überblick über den aktuellen Forschungsstand geben (z. B. Brooke und Horbury), bringen andere dezidiert neue und wichtige Impulse in die Erforschung der Thematik ein (so insbesondere u. a. Samely, Hayward, Bohak oder Sirat).
Man würde es sich wünschen, dass noch mehr Festschriften eine so gewichtige Stimme in der Forschungslandschaft haben, wie sie hier durch dieses Werk gegeben wird.