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Ausgabe:

April/2020

Spalte:

283–285

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Khalil, Mohammad Hassan

Titel/Untertitel:

Jihad, Radicalism, and the New Atheism.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2017. IX, 202 S. Kart. £ 19,99. ISBN 978-1-108-43275-7.

Rezensent:

Julia Gerlach

Ausgangspunkt des Buches ist ein Gefühl, das eine ganze Generation von Muslimen geprägt hat. Ihr Schlüsselerlebnis waren die Bilder der einstürzenden Hochhäuser in New York und die Diskussion in den Medien, die auf die Anschläge des 11. September 2001 folgten. Für viele Muslime war diese Zeit von einem Dilemma geprägt: Sie fragten sich, ob diese Anschläge tatsächlich mit dem Islam vereinbar waren, wie es die Attentäter behaupteten. Sie hatten den Koran bislang als heilige Schrift verstanden, war er in Wirklichkeit eine Anleitung zum Bombenbau? Viele Muslime – unter ihnen viele Jugendliche – begann en in dieser Zeit, sich intensiver mit ihrer eigenen Religion zu beschäftigen, schlugen in Koran und Hadith-Sammlungen nach, suchten nach Antworten auf die Frage nach dem Zusammenhang von Islam und Gewalt. Zu den eigenen Fragen kam die Stimmung der Medien in der westlichen Welt und in den westlichen Gesellschaften allgemein. Auch hier dominierte die Meinung, dass der Islam eine gewaltgeprägte Religion sei. Die Ansage des damaligen US-Präsidenten George Bush, dass alle, die sich nicht klar auf die Seite der USA stellten, als Feinde betrachtet würden, und die damals viel diskutierten Thesen von Francis Fukuyama vom »Kampf der Kulturen« prägten die Stimmung. Erschwerend kam hinzu, so die Ausgangsbeobachtung des Autors Mohammad Hassan Khalil, dass die öffentliche Debatte nicht unbedingt von Experten und Islamwissenschaftlern geprägt wurde, sondern vor allem von populärwissenschaftlichen Autoren und Aktivisten. In den USA werden diese oft als »New Atheists« bezeichnet. K. beschäftigt sich vornehmlich mit der Debatte in den USA. Im deutschen Zusammenhang, der allerdings anders gelagert ist, würde man von Islamkritikern sprechen. Beiden gemein ist ein sehr negatives, textnahes Islamverständnis, das den Islam als ge­waltorientierte, intolerante und undemokratische Religion darstellt.
Die Generation 9/11 sieht sich in der Zwickmühle zwischen radikalen Muslimen und radikalen Islamkritikern. Genau dies war damals Ausgangspunkt einer neuen islamischen Jugendbewegung (Pop-Islam), die sehr fromm und zugleich darauf bedacht war, das Bild eines friedlichen Islam zu verbreiten. K. liefert ihnen (nachträglich) Argumentationshilfe. Im ersten Teil seines Buches analysiert er detailliert und zugleich gut verständlich die maßgeblichen Gelehrtenmeinungen zum Thema Islam und Gewalt. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass gemäß Mehrheitsmeinung der Islam keine gewaltverherrlichende Religion ist und dass zum Dschihad nur unter sehr bestimmten Bedingungen und von besonders qualifizierten Personen aufgerufen werden kann. So erklärt er auch, dass Selbstmordattentäter bis vor 50 Jahren in der muslimischen Welt weitgehend unbekannt waren.
Im zweiten Teil seines Buches untersucht er das Islambild von Usama Bin Laden. Er nimmt dessen Argumentation unter die Lupe und zeigt auf, wie dieser sich von der Mehrheitsmeinung der Gelehrten unterscheidet und wo sich Argumentationslücken auftun. Kurz geht K. auch auf die Unterschiede zwischen der islamischen Argumentation von Bin Laden und den Vertretern des IS ein. Hierbei wird deutlich, dass beider Positionen Minderheitenpositionen sind und den Vertretern selbst die Brüchigkeit mancher ihrer Argumentationsketten bewusst zu sein scheint.
Im dritten Teil kommt er zu den Vertretern des sogenannten »New Atheism«: Sam Harris, Aysaan Hirsi Ali und Richard Dawkins. Er weist nach, dass diese mit sehr ähnlichen Methoden an den Islam herangehen, wie die von Bin Laden und Co. Sie picken Zitate auf und nehmen sie wörtlich, statt Koranstellen in ihren Kontext zu stellen, so, wie es die Herangehensweise der etablierten Gelehrten ist. So kommen sie zu einem ähnlichen Islam-Verständnis. K. weist zudem nach, dass sie in vielen Fällen fehlerhafte und als tendenziös bekannte Koranübersetzungen verwenden. Vor allem bestätigten sie gegenüber einem breiten westlichen Publikum, dass der »wirkliche« Islam von den Radikalen und nicht etwa von den moderaten islamischen Intellektuellen oder etwa die Jugendlichen, die sich durch öffentliche Aktionen darum bemühen, den Radikalen etwas entgegenzusetzen, repräsentiert wird.
K. hat ein spannend geschriebenes, sehr informatives Buch vorgelegt. Es beschreibt eine Debatte und ein Lebensgefühl, das eine Generation geprägt hat. Es ist eine Diskussion, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends in den USA geführt wurde. Es gibt Parallelen zum Diskurs in Deutschland, aber auch viele Unterschiede: Während »New Atheists« Religion insgesamt in Frage stellen, geht es Islamkritikern nur um den Islam. Die Frage nach der Rolle der Gewalt im Islam ist weiter aktuell, stellt sich jedoch heute etwas anders: Die radikal-islamischen Akteure sind andere und vor allem ist die Lage in der islamischen Welt eine andere.