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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

260–262

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Schieder, Tobias

Titel/Untertitel:

Ethisch motivierter Rechtsungehorsam. Rechtsdebatten zu Widerstandsrecht, Gewissensfreiheit und zivilem Ungehorsam in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XI, 306 S. = Beiträge zu normativen Grundlagen der Gesellschaft, 3. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-155853-5.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Diese juristische Dissertation entstand innerhalb der Forschergruppe »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989« und wurde von Hans Michael Heinig (Göttingen) betreut. Sie widmet sich einem rechtssyste-matisch wie sozialethisch eminent wichtigen Thema, das Tobias Schieder historisch und gegenwartsbezogen beleuchtet.
»Vorwort« und »Einleitung« klären kontextuelle, begriffliche, dispositorische und methodische Vorfragen in wünschenswerter Klarheit. In den Kapiteln 1–3 untersucht der Vf. nacheinander die drei im Untertitel genannten Fälle von Rechtsungehorsam. Die rechtswissenschaftliche Wiederentdeckung des Widerstandsrechtes in der jungen Bundesrepublik Deutschland steht in enger Verbindung mit der Naturrechtsrenaissance, die wiederum als Reak-tion auf die historischen Erfahrungen mit dem nationalsozialis-tischen Unrechtsstaat zu sehen ist. Dabei spielte das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 nicht nur eine symbolische, sondern wegen der Beurteilung von Entschädigungsfällen auch eine un­mittelbar rechtliche Rolle.
Deutlich unklarer und umstrittener war die Frage, ob es ein Widerstandsrecht im Rechtsstaat geben und wer – im positiven Falle – dieses Recht legitimerweise ausüben kann. Ein »außerordentliches Selbsthilferecht« (64) sollte nicht begründet werden. »Der Widerstand sollte in geordneten rechtsstaatlichen Verfahren aufgehen.« (Ebd.) Zunächst blieb die Kodifizierung des Widerstandsrechtes auf Hessen beschränkt, erst 1968 wurde es im Zuge der Notstandsgesetzgebung in das Grundgesetz aufgenommen. In den Debatten diente als »historisches Leitbild […] der Generalstreik der Gewerkschaften zur Abwehr des Kapp-Putsches im Jahre 1920« (79). Angesichts der damaligen Studentenunruhen wurde zugleich klargestellt, dass das Widerstandsrecht nicht als Recht zur Revolution zu verstehen sei, sondern dass »das Schutzgut […] die freiheitlich-demokratische Grundordnung sein müsse« (ebd.). Dennoch ergeben sich aus Art. 20 Abs. 4 GG weitreichende, bis heute nicht wirklich gelöste Interpretationsprobleme: »Jenseits des offenen Putsches, der gewaltsamen Revolution und sonstiger offener Aktionen zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung war gar nicht so leicht zu bestimmen, wann die Schwelle zur Widerstandslage überschritten und insbesondere ob andere Ab-hilfe noch möglich ist.« (90).
Einen anderen historischen Weg nimmt die Interpretation der Gewissens- und Gewissensbetätigungsfreiheit. Der Vf. legt im zweiten Kapitel in erhellender Weise dar, wie in Rechtssetzung, Rechtsauslegung und Rechtsprechung die Gewissensfreiheit sukzessive von der Glaubens- bzw. Religionsfreiheit differenziert wird. Katalysatoren dieser Entwicklung waren die Aktualisierung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach der Wiederbewaffnung und die Urteile zu der Ersatzdienstverweigerung, ebenfalls aus Gewissensgründen. Mit der seit den 60er Jahren einsetzenden funktionalen Interpretation wurde das Gewissen von den nun nicht mehr als plausibel empfundenen, substantiellen Na­turrechtsvorstellungen abgelöst und für »letztlich jedes menschliche Verhalten« (190) geöffnet. Ernst-Wolfgang Böcken-förde (1930–2019) war durch seine Beiträge maßgeblich an der Etablierung der Gewissensfreiheit als ein eigenständiges Grundrecht beteiligt. Es wurde in den Debatten um Atomkraft, Abtreibung und Nachrüstung in Anspruch genommen, ebenso bei Fällen von Abgaben-, Steuer- oder Arbeitsverweigerung und Stromzahlungsboykott. Die damit befassten Gerichte reagierten unsicher und un­einheitlich. »Die Schwierigkeit bestand […] darin, dass die klassische […] Verhältnismäßigkeitsprüfung mangels Bestimmbarkeit des durch das Gewissen geschützten Freiheitsraums völlig abstrakt blieb. […] Die Gewissensfreiheit blieb so ein auf den Gewissenskonflikt zugespitztes, durchaus atypisches Grundrecht« (191 f.).
Die unter den Begriff »Ziviler Ungehorsam« versammelten Fälle, denen sich der Vf. im dritten Kapitel zuwendet, berühren wie die Sitzblockaden oder das Kirchenasyl Themen, die auch in der Theologiegeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt haben und bis heute spielen. Tatsächlich erreicht die rechtswissenschaftliche Debatte zu zivilem Ungehorsam einen kurzen Höhepunkt in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, dabei konnte man allerdings auf Urteile aus den 60er Jahren zurückgreifen. Das dem Rechtssystem gestellte Problem blieb am Ende ungelöst. In einem Fall ließ ein höchstrichterliches Urteil beim Protest gegen schwerwiegendes Unrecht eine Abwägung zugunsten einer Zulässigkeit von Aktionen zivilen Ungehorsams zu. In einem anderen Fall schob der Bundesgerichtshof der Abwägung einen Riegel vor, weil nur unter Würdigung der Protestziele eine rechtliche Bewertung möglich sei mit der Folge einer unzulässigen Parteinahme des Staates und nachgelagerter Rechtsunsicherheit. »Diese Gegenüberstellung löste auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu Sitzblockaden nicht auf. Der entscheidende Senat sprach sich zur Hälfte für die eine und zur Hälfte für die andere Ansicht aus« (254). Der Vf. resümiert: »Die Versuche, zivilen Ungehorsam rechtlich zu rechtfertigen, dürfen vorerst als gescheitert gelten« (277).
In der »Schlussbetrachtung« zieht der Vf. ein kluges Resümee, das für den theologischen Ethiker das auf den ersten Blick ernüchternde Resultat enthält, dass ethische und rechtliche Argumentationen, Problembeschreibungen und Lösungen methodisch und ma­teriell weit auseinander liegen. »Nicht ohne Weiteres ist jedenfalls eine ethische Argumentation […] tauglich, Anleitung für die Entscheidung konkreter Rechtsfragen zu liefern« (272). Die Transformation von ethischen Problemen in Rechtsfragen führt zu einer starken »Ausdifferenzierung in unterschiedliche Rechtsfiguren« mit dem Ergebnis, »dass sich die rechtliche Operationalisierung deutlich von den ethischen Theoremen zur Problemlösung unterscheidet« (ebd.). Insbesondere beim Strafprozess geht es nicht um eine allgemeine Dimension von Gerechtigkeit, sondern »um eine sehr konkrete Gerechtigkeit im Einzelfall« (274). Freilich bleibt es den ge­sellschaftlichen Akteuren – und damit auch den christlich inspirierten Akteuren – unbenommen, »eine Änderung der Politik herbeizuführen« (278) und sich politisch für die Ausgestaltung des Rechts einzusetzen, die Rechtsungehorsam gar nicht erst aufkommen lässt. »Die Entscheidung hierüber fällt im demokratischen Rechtsstaat letztlich im Parlament und nicht im Gerichtssaal.« (278)
Trotz der nachvollziehbaren Begründung, die der Vf. für den aporetischen Duktus seiner sehr gut lesbaren Monographie gibt, möchte der Theologiehistoriker fragen, ob nicht diejenigen Linien stärkere Beachtung verdient hätten, die den damaligen sozial-ethischen und rechtswissenschaftlichen Diskurs miteinander verknüpft haben. Der Vf. verweist selbst auf die Nähe der Definition des zivilen Ungehorsams durch das Bundesverfassungsgericht zu den Ausführungen in der sogenannten Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 (vgl. 234 f.). Der Staatsrechtslehrer Roman Herzog (1934–2017) war als Mitglied der EKD-Kammer für Öffentliche Verantwortung und als Senatspräsident jeweils maßgeblich beteiligt. Als Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung hatte Herzog bereits 1973 die EKD-Schrift »Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft. Eine theologische Thesenreihe zu sozialen Konflikten« mitverantwortet und die spätere Entwicklung in Sozialethik und Recht gedanklich selbst vorbereitet.