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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

257–258

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Dürig, Carolin Elisabeth

Titel/Untertitel:

Die negative Religionsfreiheit und christlich geprägte Gehalte des Landesverfassungsrechts.

Verlag:

Baden-Baden: Nomos Verlag 2018. 363 S. = Schriften zum Religionsrecht, 9. Kart. EUR 95,00. ISBN 978-3-8487-5138-9.

Rezensent:

Norbert Janz

Das deutsche Bundesstaatsprinzip evoziert wesensimmanent Konfliktlagen zwischen der Zentralstaats- und der Gliedstaatsebene. Einem besonders anschaulichen und rechtlich intrikaten Föderalkonflikt ist diese rechtswissenschaftliche Bonner Dissertation ge­widmet, die 2017 von Waldhoff betreut wurde. Es geht zum einen um die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, wie sie im Grundgesetz fixiert ist, und zum anderen um abweichendes Landesverfassungsrecht, welches dezidiert christlich konnotiert daherkommt. Es liegt auf der Hand, dass sich hier viele religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder auftun. Dabei ist es wichtig zu erkennen, dass die Bundesgrundrechte und ihre Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht seit jeher eine stark unitarisierende Wirkung entfalten. Die Bedeutung des Landesverfassungsrechts schwindet, was zu einem Verlust föderaler Vielfalt führt.
Im ersten Abschnitt stellt Carolin Elisabeth Dürig auf 174 Seiten in eher narrativer Weise die christlichen Gehalte der Landesverfassungen dar. Dabei umreißt sie jeweils die Stunde Null einschließlich des Einflusses von Parteien und Kirchen auf die Verfassungsgebung. Dann werden die Regelungen im Einzelnen nachgezeichnet. Das sich aufzeigende breite Kaleidoskop offenbart eine erstaun-liche Vielfalt an historischen Startverhältnissen, landesrechtlichen Regelungen und Entwicklungen sowie einen Blick in eine längst vergangene Welt konfessioneller Festigkeit in Deutschland. Bevor die einzelnen Länder erläutert werden, findet sich eine Bestandsaufnahme der Ausgangssituation von Kirche und Gesellschaft nach 1945. Die Sonderrolle der Kirchen (etwa als verbliebene moralische Instanz) nach Kapitulation und Kriegsende ist nur allzu kursorisch und die soziale Lage Deutschlands nur ansatzweise ausgeführt.
Als erstes Land wird Bayern behandelt. Schlüssig legt D. den kirchlichen Einfluss auf die Verfassungsgenese offen. Es fänden sich viele kirchenfreundliche Normen in der bereits 1946 in Kraft getretenen Verfassung. So sei bereits in der Präambel ein Gottesbezug und für die Schule das Erziehungsziel »Ehrfurcht vor Gott« festgelegt. Auch die Verfassung von Rheinland-Pfalz sei mit etlichen kirchenfreundlichen Normen durchzogen. Als noch stärker christlich geprägt – und zwar von der Präambel bis zu den Schlussbestimmungen – zeige sich die saarländische Verfassung, was vor allem historisch-personell bedingt sei. Durchaus kirchenfreundlich, jedoch nicht offensiv christlich stelle sich die Lage in Nordrhein-Westfalen dar. Die erst 1953 – und damit später als in anderen Ländern und im Bund mit seinem Grundgesetz von 1949 – geschaffene Verfassung Baden-Württembergs weise besondere Ge­neseeffekte auf, die auch durch den Zusammenschluss der Länder Württemberg-Hohenzollern, Württemberg-Baden und Baden veranlasst seien. Ein christliches Staatsbild sei zwar in der Verfassung zu finden, von einer klaren und durchgängigen Entscheidung könne aber nicht gesprochen werden.
Die weiteren Landesverfassungen werden dann nur mehr überblicksweise diskutiert. Christliche Bezüge seien eher spärlich enthalten. In Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein lägen nur nüchterne Organisationstexte vor. Auch Berlin habe keine Regelungen zum Staat-Kirche-Verhältnis gefasst, aber immerhin die Religionsfreiheit gewährleistet. Die alten ostdeutschen Landesverfassungen stellten sich relativ homogen dar und wiesen eine große Ähnlichkeit zur Weimarer Reichsverfassung auf. Nach der Wiedervereinigung 1990 habe ebenfalls kein Bruch stattgefunden. Einige der neugegründeten Länder hätten nun wieder einen Gottesbezug in der Präambel.
Zusammenfassend gelte, dass sich besonders viel Kirchliches in den »katholischen« Verfassungen Süd- und Südwestdeutschlands finde, was dem Geist der damaligen Zeit und zudem der großen katholischen Durchsetzungsfähigkeit geschuldet sei. Die Weimarer Reichsverfassung habe mit ihren religionsverfassungsrecht-lichen Bestimmungen der Art. 136 ff. oftmals als Blaupause für die eigene Verfassungsrechtsetzung gedient.
Im Anschluss stellt D. in einem weiteren Teil ihrer Ausführungen etwaige christliche Gehalte des Grundgesetzes dar. Kenntnisreich wird die Rolle von Politikern, Parteien und Alliierten bei der Verfassungswerdung beschrieben. Die Kirchen hätten damals eine starke Ausgangssituation gehabt, wobei cum grano salis der katholische Einfluss größer als der protestantische gewesen sei. Kritisch sieht es der Rezensent, wenn umfassend die Rolle der Kirchen vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland thematisiert wird, ohne dann aber einen inhaltlichen Bezug zu den (späteren) Verfassungsregelungen aufzude-cken. Solide ist dann das religionsverfassungsrechtliche System des Grundgesetzes mit der Glaubensfreiheit des Art. 4 GG an der Spitze nachgezeichnet. Insgesamt liege beim Bonner Grundgesetz eine kooperative Neutralität ohne dezidiert christliche Wertungen vor. Die gewählten Formulierungen blieben zurückhaltend, anders also als in einigen Landesverfassungen.
Im Kernstück der Arbeit sind die Spielräume gliedstaatlichen Verfassungsrechts unter dem Grundgesetz ausgeleuchtet, um ab­schließend deren Möglichkeiten der Berücksichtigung in der Grundrechtsdogmatik zu untersuchen. Es gelte zu fragen, ob und wie die Länder auf rechtsdogmatisch kohärente Weise trotz bundeseinheitlicher Geltung der Grundrechte einen eigenen Gestaltungsspielraum besitzen. Mit präziser Argumentation arbeitet D. Art. 7 GG mit seiner Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen als einziges Einfallstor heraus. Diese besondere Ausprägung der Kulturhoheit der Länder müsse im Rahmen der Herstellung einer praktischen Konkordanz mit Art. 4 GG berücksichtigt werden. Dieser unitarisierungsbremsende Ansatz hat durchaus Charme und erweist sich grundrechtsdogmatisch als tragfähig. Offen bleiben dann aber konkrete Folgerungen, also beispielsweise Anwendungs- oder Konfliktfälle und deren Lösungen. Der Hinweis auf S. 325, dass Art. 7 GG keine »grenzenlose Wirkkraft« entfalten könne und es besondere »Sensibilität« des Gesetzgebers und der Rechtsprechung bedürfe, ist sicherlich zutreffend, lässt den interessierten Leser aber doch etwas unbefriedigt zurück. Zuzustimmen ist D. dann wieder in ihrem Schlusswort: »Über den Sinn und Unsinn christlicher Bezüge in Verfassungsrecht kann man geteilter Meinung sein, nicht hingegen aber über ihre Anerkennung, soweit sie in den geltenden Verfassungen fortbestehen.«
Fazit: Es handelt sich um eine kluge, durchweg gut lesbare und wohldurchkomponierte Dissertation mit einer markanten Schlussthese, deren Wert noch höher einzuschätzen wäre, wenn konkrete Folgerungen aufgedeckt worden wären.