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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

255–256

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Pirker, Viera, u. Maria Juen

Titel/Untertitel:

Religion – (k)ein Fach wie jedes andere. Spannungsfelder und Perspektiven in der kompetenzorientierten Leistungsbeurteilung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 216 S. m. 8 Abb. u. 8 Tab. = Religionspädagogik innovativ, 26. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-17-035488-3.

Rezensent:

Bernhard Grümme

In vielen Studien der Bildungssoziologie und der Pädagogik wird immer deutlicher, dass die Schule und damit auch die Lehrer an der Konstruktion dessen, was als Leistung gesehen wird, selber in einem grundlegenden Sinne beteiligt sind. Wer die Erwartung einer Objektivität in der Leistungsbeurteilung gehabt hätte, wird damit desillusioniert. Nicht nur, dass sich die Milieuprägung hier ebenso niederschlägt wie Mechanismen des Schulsystems, durch die sich soziale Ungleichheit und Bildungsungerechtigkeit in schulischer Leistungsbewertung reproduziert. Der Unterricht selber, seine Mechanismen, seine Methodik und Didaktik, wird Teil solcher Ungerechtigkeit generierenden Prozesse. Andererseits weiß man zugleich, dass die Lehrkräfte aus einem pädagogischen Ethos heraus an der Förderung, Würdigung und Anerkennung ihrer Schülerinnen und Schüler interessiert sind. So ergibt sich eine eigentümliche Dialektik zwischen strukturellen Benachteiligungstendenzen und intentionalen Anerkennungsperspektiven, die auf dem Feld der Leistungsbeurteilung ihren Niederschlag findet.
In der Religionspädagogik spitzt sich diese Dialektik zu. Leistung und Person sollen voneinander getrennt, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit aus dem Geist des Evangeliums ins Verhältnis gesetzt werden. Zugleich spielt das Ringen um das Fachprofil des Religionsunterrichts eine erhebliche Rolle: Ist dieser ein Fach wie jedes andere auch? Bietet es bestimmte Freiräume? Wie geht ein Religionsunterricht aber dann mit dem schulpädagogisch elementaren Erfordernis der Leistungsbeurteilung um? Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Möglichkeit der Schülerinnen und Schüler, sich vom Religionsunterricht abzumelden? Wäre es in dieser hochkomplexen Lage nicht sinnvoll, die im Feld des Religionsunterrichts tätigen Lehrkräfte diesbezüglich auf ihr Selbstverständnis hin zu befragen?
Genau solches unternimmt nun die hier zu besprechende Veröffentlichung der in Wien bzw. Innsbruck tätigen Religionspädagoginnen Viera Pirker und Maria Juen. Sie ist Resultat eines empirischen Forschungsprojektes, das die in Österreich derzeit in verschiedenen Fächern anhand eines Kompetenzrasters vollzogene Entwicklung kompetenzorientierter Modelle der Leistungsbeurteilung für den Religionsunterricht kritisch untersucht. Das Forschungsanliegen liegt auf zwei Ebenen: allgemeinpädagogisch geht es um die Reflexion des Umgangs der Lehrkräfte mit dem zu implementierenden Kompetenzraster. Religionspädagogisch spitzt sich dies auf die Frage der Umstellung auf einen kompetenzorientierten Religionsunterricht sowie vor allem auf die Eruierung der subjektiven Erfahrungen der insgesamt 14 in die Untersuchung einbezogenen Religionslehrkräfte zu. Es wird mit Gruppeninterviews, Einzelgesprächen und Fragebögen ein Mixed-method-Verfahren von qualitativen und empirischen Forschungsmethoden angewandt, wobei den Autorinnen klar ist, dass sie mit ihrer Me­thodik selber das Feld gestalten, das sie beforschen.
Fünf Schritte legen sie ihrer Untersuchung zugrunde: Nach Vorwort und Einleitung beleuchtet Kapitel 1 den bildungspoli-tischen Hintergrund, erläutert Forschungsanliegen und Forschungsfragen und stellt das Kompetenzraster vor (15–26). Luzide eruiert dann Kapitel 2 in einem Forschungsüberblick die ausdifferenzierten Diskussionen um Leistungsbeurteilung in der Allgemeinen Pädagogik wie im Religionsunterricht (27–54). Detailliert stellt Kapitel 3 das Forschungsdesign vor (55–73), Kapitel 4 präsentiert klar und mit eindrücklichen Beispielen aus den Transskripten wesentliche Ergebnisse (73–188), die dann in Kapitel 5 auf den Religionsunterricht hin fokussiert und mit 15 handlungsleitenden Perspektiven operationalisiert werden (189–206).
Wenngleich die differenzierten Ergebnisse hier nicht darzulegen sind, so kristallisiert sich doch die eingangs erwähnte Dialektik auch im Selbstverständnis der befragten Religionslehrkräfte heraus. Es ist faszinierend, teils aber auch bedrückend zu lesen, inwieweit manche bis in die eigene Selbstkonstruktion der Religionslehrerrolle hinein darum ringen, Gerechtigkeit, Leistung und Anerkennung ins angemessene Verhältnis zu setzen – und doch pragmatisch darum wissen, dass – sollte ein Schüler an­hand des Kompetenzrasters bloß mit »genügend« bewertet werden – man eben »den Schüler im nächsten Jahr nicht mehr« (196) im Unterricht hat.
Der Rezensent kann dieses Buch wegen der hier nur anzudeutenden Vielschichtigkeit, des hohen Anregungspotentials, der klaren Argumentation sowie der instruktiven Einblicke in das Selbstverständnis der Religionslehrkräfte uneingeschränkt empfehlen. Es würde jedoch von einer stärkeren Berücksichtigung der Diskurse um Subjektivierungszwänge, wie sie derzeit mit ethnologischer Methodik in der Pädagogik geführt werden, profitieren. Aber so­wohl für die religionspädagogischen Professionalisierungsdebatten wie für die Diskurse um Bildungsgerechtigkeit und Heterogenität stellt es einen Beitrag von erheblicher Bedeutung dar.